Deutschland, wenn es passiert

Lost Centuries, Donnerstag, 07.01.2021, 19:07 vor 1197 Tagen

2. Der kalte Riesenmond

Es ist nacht. Über mir wölbt sich ein tiefschwarzer Himmel, der übersät ist mit Abertausenden von Sternen, die im Dunkeln glitzern und funkeln. Sie tauchen die nächtliche Welt in ein fahles Licht, das keine Schatten wirft. Ich laufe auf einer Straße, die sich vor mir mehr oder weniger gerade bis zum Horizont erstreckt, wo sie irgendwo in der Ferne verschwindet. Die Straße ist jedoch nicht schnurgerade, sondern windet sich in der nächtlichen Landschaft, mal nach links, mal nach rechts. Ihr Endpunkt jedoch liegt direkt vor mir irgendwo hinter dem Horizont. Über allem liegt eine seltsame Stille, es sind keine Geräusche zu hören. Vor mir laufen weitere Personen auf dieser Straße, sie laufen alle, so wie ich, nach vorne, so dass ich sie nur von hinten sehen kann. Niemand spricht, keiner scheint den anderen überhaupt wahrzunehmen, jeder trottet für sich alleine auf dieser Straße langsam dem Horizont entgegen. Neben der Straße sind schemenhaft einzelne Häuser und Bäume zu erkennen.

Ich blicke nach links. Links von mir erstreckt sich am Horizont eine Art Hügelkette oder eine Reihe niedriger Berge. Ich kann nur ihre Umrisse erkennen, sie schneiden ein unregelmäßiges, schmales tiefschwarzes Band am Horizont aus dem nächtlichen Sternenhimmel. Dahinter geht der Mond auf. Direkt aufgehen sehe ich den Mond nicht, er ist auf einmal plötzlich da. Der Mond hat jedoch nun eine riesige Gestalt angenommen, es ist ein gigantischer Riesenmond, der sich hinter der schwarzen Hügelkette zu etwa einem Drittel über den Horizont geschoben hat, nur sein oberer Rand und ein wenig von seiner Oberfläche sind zu sehen, eine gigantische, leblose, kalte Steinkugel, übersät mit großen und kleinen Kratern, ein fahles mattes Licht geht von diesem unbeseelten toten steinernen Himmelskörper aus, ein seelenloser unbewegter Klumpen totes Gestein, kalt und unnahbar. Dennoch verspüre ich beim Anblick dieses grotesken Riesenmondes keine Angst, auch keine Neugier. Ich nehme ihn einfach zur Kenntnis und setze meinen Weg fort.

Ich blicke wieder nach vorne. Vor mir bewegen sich die schemenhaften Gestalten unbeirrt weiter, eine schweigsame Prozession von einzelnen Individuen, die Schritt für Schritt dem Horizont entgegenstreben. Auf einmal bleiben alle stehen, auch ich. Ich verspüre ein merkwürdiges Gefühl, so als würde mich eine unsichtbare Kraft nach oben ziehen, Richtung Himmel. Ich blicke an mir herab. Tatsächlich: meine Füße schweben plötzlich einige Zentimeter über der Straße, anonsten bleibe ich völlig ruhig, bis auf dieses merkwürdige Nach-oben-gezogen-werden spüre ich nichts. Diese Kraft scheint von diesem Riesenmond auszugehen, oder zumindest mit seinem Erscheinen in Zusammenhang zu stehen.

Dann schaue ich wieder nach vorne. Die Szenerie vor mir hat sich unter dem Einfluss dieser Kraft, die alles nach oben zieht, auf einmal vollständig verändert, mir bietet sich um mich herum ein groteskes Bild: alles scheint jetzt zu schweben, ich sehe Häuser, Bäume, Tiere und Autos, die mit einem Schlag scheinbar völlig schwerelos geworden sind. Was eben noch am Wegrand stand, schwebt jetzt vor meinen Augen in der Luft. Es ist ein erstaunlicher Anblick, und ich denke: "Sie haben es geschafft, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Sie haben es tatsächlich geschafft." Dieser Satz ist mir immer noch in Erinnerung. Ich bin in diesem Moment einfach nur unglaublich verblüfft und erstaunt, dass sie es tatsächlich geschafft haben. Doch auch wenn ich scheinbar Teil der ganzen Szenerie bin, so fühle ich mich dennoch nicht dazugehörend, vielmehr als eine Art Beobachter, der abseits steht, oder besser gesagt: schwebt. Und dann beginnen die Dinge, die eben noch geordnet am Wegrand standen, plötzlich ihre Position in der Luft zu verändern, sie schweben durcheinander umher, keine gewohnte Ordnung ist mehr zu erkennen, alles ist voneinander losgelöst, alles schwebt wirr umher, wird von unsichtbarer Hand scheinbar neu geordnet, um doch dann wieder sich voneinander zu lösen, am Ende ist überhaupt keine frühere Ordnung mehr, kein logischer Zusammenhang mehr zu erkennen.

Und mit einem Schlag ist alles weg. Stattdessen sehe ich jetzt die Menschen, die eben noch vor mir auf der Straße gelaufen sind. Auch sie schweben in der Luft. Doch im Gegensatz zu mir, der unbewegt auf seiner Position über der Straße verharrt, drehen sich jetzt alle um ihre eigene Achse. Es ist ein grotesker, bizarrer Anblick. Unter dem Einfluss des Mondes sind sie schwerelos geworden, der kalte, tote Mond hat sie vom Boden und von der Straße weggezogen. Doch alle drehen sich nur um sich selbst, wie kleine Satelliten kreisen sie um sich selbst, rotieren um ihre eigene Achse. Überall sind jetzt diese Personen, die sich nur um sich selbst drehen. Dabei verharren sie auf ihren Positionen in der Luft, bewegen sich weder vor noch zurück, sie drehen sich einfach nur um sich selbst. Es ist eine merkwürdige Mischung aus vollkommenem Stillstand und hektischer Bewegung, denn die Bewegung ist nur auf das Rotieren um sich selbst beschränkt, gleichzeitig bewegen sie sich keinen Millimeter mehr weiter auf (oder besser: über) der Straße Richtung Horizont. Ich kann keine Gesichter erkennen, alle sind irgendwie "gesichtslos".

Und dann, mit einem Schlag, ist diese geheimnisvolle Kraft plötzlich weg. Ich verspüre einen kleinen Ruck, wie ich wieder auf der Straße zu stehen komme, und spüre den festen Boden unter meinen Füßen. Doch um mich herum ist jetzt nur noch ein heilloses Durcheinander. Alles fällt zu Boden, alle Menschen und alle Dinge stürzen mit einem Schlag aus der Luft zu Boden, um mich herum fällt alles herunter und stürzt übereinander, es herrscht nur noch ein unbeschreibliches Chaos, ein schreckliches Durcheinander.