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Sagen aus dem Volksmund (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Montag, 26.09.2011, 17:32 (vor 4567 Tagen) @ Alex (8497 Aufrufe)

Hallo, Alex!

Habe gerade gesehen, daß die von Bouvier zitierte Aussage tatsächlich in der ältesten Mühlhiasquelle (1923) steht. Ich ging davon aus, das hätte später mal einer erfunden.

Dennoch:
Mühlhiasl hat nachweislich nie gelebt. Das hat Reinhard Haller in seinem Buch "Mühlhiasl" dargestellt.

1923 wurden von einem Pfarrer namens Landstorfer die Aussagen im Straubinger Tagblatt veröffentlicht und einem Matthias Lang (Spitzname Mühlhiasl) zugeschrieben.
In den folgenden Jahrzehnten haben sich Heimatschriftsteller bemüht, dem fiktiven Mühlhiasl Leben einzuhauchen. Allmählich entstand eine ganze Lebensgeschichte (Klostermüller, etc.), die aber völlig aus der Luft gegriffen ist.
Einen Mann namens Matthias Lang gab es im 18. Jahrhundert zwar, aber der hat weder mit der Geschichte, noch mit der Prophezeiung etwas zu tun.

Die Aussagen, die dem Mühlhiasl zugeschrieben wurden, sind altes Sagengut, wie es in ganz Deutschland fiktiven oder realen Gestalten zugeschrieben wurde. Das kann man noch am ehesten als "Wandersage" bezeichnen.

Zum Beispiel:

  • Stormberger (der nicht mit dem Mühlhiasl identisch ist, sondern eine eigene Überlieferungsgeschichte hat)
  • Egger Gilge
  • Katharina aus dem Ötztal (zumidest teilweise)
  • Spielbähn/Rembold (1848 von Wilhelm Schrattenholz gefälscht.)
  • Blinder Jüngling (zwei Fassungen: eine von 1645, eine von 1956)
  • Sibylle von Prag
  • Sibylle Michalda
  • Wessel Dietrich Eilert
  • Johann Peter Knopp
  • Katharina Leistnerin
  • Hertje
  • Er Roué Stevan (aus der Bretagnie, wurde von Jayef im Forum bekannt gemacht und ähnelt stellenweise ebenfalls dem Mühlhiasl)
  • Birkenbaumsage
  • Der elsische Junge
  • Wickenthies aus Burgdorf

Die Überlieferungen ähneln sich stilistisch und es kommen immer wieder die gleichen Motive in Abwandlungen vor.

Zum Beispiel:

Mühlhiasl: „Wenn d’Wägen ohne Roß und Deichsel fahren“
Rembold: „Von Wegen der Wagen, so da durch alle Welt laufen, ohne von lebendigen Geschöpfen gezogen zu werden.“
Eilert: „Auf der Straße werden nur Wagen laufen, ohne mit Pferden gespannt zu sein.“
Knopp: „Dann werden Wagen ohne Pferde mit grillenden Tönen laufen und hierauf traurige Ereignisse eintreten!“
Leistnerin: „Ein eiserner Weg wird den Schwarzwald hinaufführen, auf dem feurige Wagen ohne Pferde hin- und herfahren!“

Oder die berühmte Aussage, daß ein Laib Brotes zum Überleben reiche:

Birkenbaumsage: "So kurz wird der Krieg dauern, daß der, welcher einen Laib Brot und einen Scherz in den Kampf mitnimmt, fällt ihm der Laib hinab, sich darum nicht bücken soll, er hat am Scherz genug."
Gilge: „Vor den Schweizern braucht man nicht weiter zu fliehen als bis zu den obersten Haselstauden, und wenn einer drei Brote trägt und es fällt ihm eines aus der Hand, dann soll er nicht umschauen, er hat mit zweien genug.“
Leistnerin: "Man soll auf die Berge flüchten, einen Laib Brot, eine Speckseite und einen Krug Kirschwasser mitnehmen, und wenn das alles aufgezehrt ist, ist auch der Krieg zuende."
Mühlhiasl: "Wenn’s aber einmal kommen, muß man davonlaufen, was man kann und muß sich verstecken mit drei Laib Brot. Wenn man beim Laufen einen verliert, darf man sich nicht bücken, so muß es ‚schlaun’, wenn man den zweiten verliert, muß man ihn auch hintlassen, man kanns auch mit einem noch aushalten."
Stormberger: "Ein Strom neben dem Böhmer Wald wird bleiben, wo man den größten Sturm mit drei Laiben Brot überleben kann, wenn man es hat. Wenn aber einer im Laufen aus der Hand fällt, so laß ihn liegen, es genügen zwei auch."
Wickenthies: "Die Feinde welche ein undeutsches Volk wären, würden so in die Flucht geschlagen werden, daß, wenn ein Brodt auf den Schlagbaume läge, und sie noch so hungrich wären, sich doch keiner die Zeit nehmen würde, solches mit zu nehmen."

Sogar Irlmaier hat die Sache weitererzählt (wahrscheinlich in Kenntnis von Mühlhiasl): "Wer auf der Flucht einen Laib Brot hat fallen lassen, sollte sich nicht damit aufhalten, ihn aufzuheben. So schnell wie’s kommt. geht es auch vorbei." (Quelle: Konstantin von Bayern)
Wenn Irlmaier nicht schon mit halbem Fuß im Medienzeitalter gelebt hätte und nicht zu Lebzeiten umfangreich dokumentiert worden wäre, so hätten sich seine Aussagen nur in Grundzügen erhalten und wären völlig verdreht irgendwann mit der Volkssage untrennbar verschmolzen.

Die Konsequenz des ganzen: Selbst wenn diese Personen gelebt haben, kann man ihre Aussage nicht als eigene betrachten. Man hat sie ihnen entweder zugeschrieben oder sie haben sie selbst nur weitererzählt. In manchen Fällen könnte es auch sein, daß jemand, der selbst sah, eigene Schauungen mit Sagengut vermischt hat (so wie Irlmaier).

Wie der wahre Kern des Sagengutes aussehen könnte, vermag ich nicht zu beantworten. Die Sache ist ziemlich schwammig. Ich würde mich nicht pauschal und vor allem nicht wörtlich auf die oben stichpunktartig aufgelisteten verlassen.
Aber richtiges ist sicher irgendwie enthalten. Z. B. sind die Wagen ohne Pferde eingetroffen.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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