Zur Interpretation des Verses 29 (Schauungen & Prophezeiungen)

RichardS, Dienstag, 22.06.2010, 22:23 (vor 5056 Tagen) @ Taurec (8712 Aufrufe)

29.
Dantes und Cervantes’ weicher Laut
Schon dem deutschen Kinde ist vertraut,
Und am Tiber- wie am Ebrostrand
Singt der braune Freund von Herrmanns Land.

Der Vers behandelt aus Sicht der 1920er mit hoher Wahrscheinlichkeit
Zukünftiges: Dante und Cervantes stehen für Italien und Spanien. Deren
Sprachen sind bereits deutschen Kindern vertraut, weil sie mit ihren
Eltern an den dortigen Stränden sind, nämlich sonnengebräunt. Hier wird
der Massentourismus vorausgesagt, der erst seit den 1950er entstand.
Dieses Bild paßt nicht in den inhaltlichen Verlauf des Liedes. Hingerl
schreibt nur kurz: „Der Verkehr zwischen Deutschland, Italien und den
spanischsprechenden Völkern wird besonders freundschaftlich.“
Damit
geht er jedoch nicht im geringsten auf die einzelnen Zeilen ein, als ob er
mit ihrer Deutung selbst Schwierigkeiten hätte. Die Quelle dieses
Verses ist unbekannt.

Hallo Taurec!

Ich bin mit Deiner Interpretation obigen Verses nicht glücklich.
Du schreibst selbst, dass die interpretierte Voraussage "Massentourismus" (ab den 1950ern) nicht in den inhaltlichen Verlauf des Liedes passt. Vor und nach dem Vers 29 werden Themen behandelt, die eindeutig nach dem sog. Weltgeschehen eintreten (können) - und die Aneinanderreihung der Verse erscheint mir, rein logisch gesehen, ansonsten recht schlüssig. Warum hier also ein solcher Aussetzer?
Außerdem:
Der Inhalt dieser Interpretation passte nicht nur nicht zum Verlauf, sondern auch zur Thematik des gesamten Liedes nicht. Überleg Dir, welche entscheidenden und einschneidenden Dinge (wohl nicht nur aus Sicht des Liedverfassers) in den einzelnen Versen angesprochen werden. Demgegenüber erschiene mir der Verweis auf / das Hervorheben eines künftigen Massentourismus sehr banal - und eben für den Gesamtzusammenhang, den roten Faden völlig überflüssig. Warum eine solche Verirrung im Thema?
Auch halte ich es zumindest für gewagt, dass "schon dem deutschen Kinde" der "weiche Laut" eines Dante oder Cervantes heutzutage "vertraut" ist (der Tourismus deutscher Massen, die sich im Übrigen nicht nur in diese Länder, sondern auch nach Griechenland, in die Türkei und Außereuropäisches ergießen, hin oder her). Vertraut den deutschen Kindern und ihren Eltern ist dank unserer audiovisuellen Medienanstalten und unseres Schulunterrichts eine andere Sprache, an der keiner hier vorbeikommt und zu deren Berieselung auch keiner verreisen muss. Aber dieser Punkt - was "vertraut" bedeutet (und zwar im positiven Sinne) - ist natürlich Ansichtssache.
Nun zur 'immanenten' Textinterpretation:
Du unterstellst, dass es sich beim "deutschen Kinde" und beim "braunen Freund" im Grunde um dasselbe Subjekt handelt - nur einmal eben das deutsche Kind und das andere Mal dessen deutsche Eltern. Überleg aber, dass hier eine Beziehung angesprochen wird zwischen verschiedenen Völkern, die zudem von einem sehr postiven Klang durchzogen ist ("vertraut", "singt" usw.). Warum sollte einseitig das Verhältnis des einen Volkes zu den anderen beiden geschildert werden, nicht aber das der Italiener und Spanier zu den Deutschen (dereinst - vom Standpunkt des Liedes aus)> Anders als Hingerl will ich also auf die einzelnen Zeilen eingehen, komme aber wie Hingerl zum selben Ergebnis: dass der "Verkehr" zwischen den genannten Völkern besonders (!) (weil speziell diese genannt und damit hervorgehoben werden!) freundschaftlich (!) werde (weil sog. weiche Faktoren wie Vertrauen, Singen, Freund (!) als Schlüsselbegriffe zur Bezeichnung des Verhältnisses auftauchen). Nur eine kleine Unsauberkeit unterläuft Hingerl: Der Vers spricht mit "Ebrostrand" nicht die "spanischsprechenden Völker" an, also etwa auch mittel- und südamerikanische, sondern mit "Ebrostrand" eben nur Spanien (und eines nur nebenbei: dass ausgerechnet am Strand des Ebro oder am Strand des Tiber die deutschen Touristen wie Ölsardinen übereinander lägen, wäre, wenn schon, die berühmt-berüchtigte Verzerrung in Schauungen...). Meine These darum:
Die Zeilen 3 und 4 wiederholen nicht noch einmal in anderen Worten das in den Zeilen 1 und 2 Angedeutete. Sie beziehen sich vielmehr auf die dereinst lebenden Italiener und Spanier im Verhältnis zum dereinstigen Deutschland, dem "Land Herrmanns" (auch dass unser heutiges (!) Deutschland noch so gesehen bzw. benamst werden könnte, mutet zumindest seltsam an). Also: Wer ist der "braune Freund", der da "singt" - und zwar "von Herrmanns Land"? Nicht der in 14 Tagen sonnengebräunte Deutsche, sondern die, die immer schon braun(er) sind (wenn man mal von gewissen grundsätzlich bleichen feinblütigen Spaniern absieht)! Italiener und Spanier sind die Freunde von "Herrmanns Land" bzw. - was auf dasselbe hinausläuft - singen sie dereinst "von" - im Sinne von angetan / begeistert "über" - "Herrmanns Land". Es kommt also auf die Lesart des Wörtchens "von" in der vierten Zeile an. Du liest mit Deiner Interpretation das "von" als "aus" (der braune Freund, welcher "aus" Herrmanns Land kommt), ich verstehe - und zwar nicht nur intellektuell, sondern beim Lesen und Einfühlen in das Bild des Verses, auch in der Folge der vorhergehenden, auch unmittelbar - das "von" als "über". Der Liedverfasser hätte nach meiner Version auch schreiben können: "Singt Herrmanns Lands brauner Freund" - aber das hätte grauslig geklungen. Und stattdessen zu dichten: "Singt Deutschlands brauner Freund" hätte den Mangel, dass das Spezifische am gesehenen Deutschland dereinst, der Bezug auf ein früheres Deutsches (Herrmanns (!) Land), verlorengegangen wäre. Und ich vermute, dass es dem Verfasser (bzw. möglicherweise dem Seher) gerade darauf ankam - so wie ja auch der Bezug des Liedes auf Dante und Cervantes nicht gerade für das moderne Italien und Spanien spricht, also jene Länder, die einem deutschen Massentouristen maximal "vertraut" sind, wenn überhaupt.
Der Vers 29 in diesem Lied ist sicher nicht der gewichtigste, über den gestritten werden müsste - aber für meine Interpretation spricht in meinen Augen, dass sie sich schlüssig in den Tenor des gesamten Liedes einfügte - auch wenn damit darauf verzichtet werden muss, im Vers 29 etwas bereits Eingetroffenes erkennen zu können.

Mein Einwand nimmt nichts von der Leistung, die in Deiner Kommentierung und Zusammenstellung der Vorlagen des Liedes steckt! Aber darum auch meine Mühe, denn ich fändes es schade, wenn eine spätere Veröffentlichung eine eventuelle Schwachstelle aufwiese, die nicht sein muss.

Gruß, Richard


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