Wenn in den Wipfeln Ruh´ ist, gibt es keinen Wind. (Freie Themen)

Nullmark, Freitag, 14.04.2023, 14:53 (vor 377 Tagen) @ DvB (686 Aufrufe)

Wenn in den Wipfel Ruhe ist, ist auch kein Wind da.
Das hatte vor längerer Zeit schon ein Schulbub festgestellt, als er auf die Frage des Lehrers woher der Wind denn käme in tiefster Überzeugung antwortete: Von den Bäumen natürlich. „Erst bewegen sich die Bäume ganz oben und dann spürt man unten den Wind.“
Pfiffiges Kerlchen, soweit es seine Intelligenz betrifft. Schließlich hat er das Phänomen selber beobachtet und einen Zusammenhang erkannt:
„Wenn in den Wipfeln Ruh´ ist, kann es folglich keinen Wind geben.“
Soweit sein gesunder Menschenverstand.
Dummerweise stehen aber Bäume ziemlich fest und nichts und niemand kann sie veranlassen, sich von selber zu bewegen, um Wind zu erzeugen.

Was nun?

Guten Tag @DvB,

wenn Du den gesunden Menschenverstand priorisierst, wirst Du auch Nachfragen zulassen müssen, weil dieser als alleiniges Wahrheitskriterium, wie in der Anekdote dargestellt, offenbar nicht ausreicht. Deinem Beitrag ist nämlich nicht zu entnehmen, wo genau die österreichischen Wissenschaftler daneben liegen.

Weißt Du überhaupt, um die Intuition dieser Leute und was die da gemacht haben, wie gemessen wurde und welche Schlüsse daraus gezogen werden können?
Hast Du Dir die Mühe gemacht zu verstehen, worum es überhaupt geht???

Ich stimme Deiner Vermutung zu, an die Gültigkeit von Axiomen zu glauben. Gültigkeit beinhaltet immer ein unbestimmtes Ablaufdatum.
Das bedeutet, dass ein Axiom nur Bestand hat, so lange es nicht durch ein anderes oder etwas anderes aufgelöst werden kann.
Was hätte Dir wohl der gesunde Menschenverstand oder das ebensolche Volksempfinden im Mittelalter erzählt, wenn Du auf die Idee gekommen wärst das seinerzeit gültige Axiom, nach dem sich die Sonne um die Erde dreht, infrage zu stellen?
Die Astronomie wurde deshalb aber nicht verworfen, weil eben dieses eine Axiom schließlich nicht mehr galt.
Aber zu der Zeit blieb für solchen Unfug immerhin die Wahl zwischen Ketzer oder Vollidiot oder heute eben auch „Dachschadenphysiker“.

Damit sollte auch klar werden, dass der Schritt vom ernsthaft so empfundenen gesunden Menschenverstand zum Niedermachen anderer Meinungen und anderer Menschen sehr, sehr klein ist, weil der Gesunde sich ja im Besitz der einen absoluten Wahrheit wähnt, die niemand der bei Verstande ist leugnen kann.

Axiome sind existent. Physik und Mathematik beschreiben sie nur und machen sie in der Sache verwendungsfähig.
Sie sind stets die Grundvoraussetzung und der Anker, an dem sich jedes *Bild* festmachen lässt.
Offenbar bist Du anderer Ansicht. Diese deshalb als Glaubenswissenschaften zu qualifizieren und konträr zum gesunden Menschenverstand, ist schon mutig.
(Hier passend: Bei Diffamierung ist man heutzutage je nach Richter schnell mit einem gerne fünfstelligen Betrag dabei. Ich wäre da an Deiner Stelle etwas zurückhaltender.)

Mir fällt die Vorstellung schwer, dass Du ernsthaft in Zweifel ziehen willst, dass ein Punkt ein Punkt ist und die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade ist, unter der Bedingung ihrer Lage in einer Ebene.
Das gilt aber genauso für die kürzeste Verbindung zwischen zwei Bierdeckeln. Klar, das sagt der gesunde Menschenverstand aber auch, er muss sich aber dennoch auf diese Axiome berufen. Auf was sonst?
Verstand kommt von *verstehen* - ist also nix Statisches, sondern eine Aktivität in Kopf oder Bauch, jedenfalls eine Verknüpfung vorhandener oder erlernter Informationen.

Das impliziert, dass der gesunde Menschenverstand individuell geprägt sein muss und damit außerstande ist, sich der Grenzen der eigenen Unvollkommenheit bewusst zu sein. Vielmehr gehört er zu jenen scheinbar allereinfachsten inneren Instanzen, bei deren Gebrauch eine Selbstverständlichkeit mitschwingt, die jede weitere Diskussion unnötig macht.
Wenn es sich tatsächlich um Verstandeskraft handelt, also auf einen konkreten, empirischen, auf Lebenserfahrung beruhenden Verstand und das Resultat einer mündigen Denkweise wäre, bliebe er dennoch auf das Individuum beschränkt. Was Du ja auch bestätigst:

... Zumindest der eine oder andere hat ihn sich bewahrt, ...

Nun gibt es aber keinen allumfassenden gesunden Menschenverstand, sondern nur mehr oder weniger konvergierende individuelle Ansichten. Die Kollektivierung des Individualverstandes muss dann zwangsläufig zum Durchschnittsverstand werden und somit naturgemäß unterhalb des entwickelten Verständnisses bleiben. Das führt dann mangels abrufbaren Wissens zu solchen Wortkreationen wie *Dachschadenphysik* und disqualifiziert die Wissenschaftler zu Agitatoren.
Ich denke, das Du mit dem Begriff *Peer-Review* etwas anfangen kannst. Man stelle sich vor, es gäbe Vergleichbares für den menschlichen Verstand... Aber bald haben wir ja dafür die KI...

Schon vor rund 250 Jahren meinte ein großer Dichter und Denker dazu: „Des Menschenverstandes angewiesenes Gebiet und Erbteil ist der Bezirk des Tuns und Handelns. Tätig wird er sich selten verirren; das höhere Denken, Schließen und Urteilen jedoch ist nicht seine Sache.“
Der Mann hatte einen Abschluss als Licentitatus Juris, war also definitiv kein Physiker. Der Mann hieß J. W. v. Goethe

Auch Papst Franziskus ist definitiv kein Physiker! Er gab vor ziemlich genau 10 Jahren seinen Gläubigen mit auf den Weg: „Der Herr befreie uns von der Versuchung des gesunden Menschenverstands.“ Warum wohl? Hier nachzulesen.

Schon klar, der gesunde Menschenverstand sagt gerne was, manchmal mahnt er auch oder er fordert sogar. Jedenfalls muss dieser Verstand schwer aktiv sein. Nun ist aber das Blöde, dass er sich auf seine fünf Sinne beschränken muss und dass die selber mit sich nicht immer so einig sind, was denn nun richtig ist und was falsch.
Menschen wie Du, die von ihrem persönlichen gesunden Menschenverstand schwärmen, können deshalb nur einwenden, nicht ich, alle anderen irren und bleiben dabei jeden Beweis schuldig, was sie anderen unterstellen. Das ist schon irgendwie verrückt, weil ja ein jeder meint, er habe diesen gesunden Menschenverstand mindestens gepachtet - auf der einen wie auf der anderen Seite.
Die Irren und die Irrenden sind immer die anderen.

Deshalb ist der Mensch gut beraten sich zu bilden und zu forschen, um sich die Welt erklärlich zu halten. Denn ohne Informationen wird ihm das gleiche passieren, wie dem Schulbuben in der eingangs erzählten Anekdote genannten mit den Bäumen, die Wind erzeugen.
Er wird zu falschen Schlüssen kommen.

„Der gesunde Menschenverstand ist die Summe aller Vorurteile, die sich bis zum 18. Lebensjahr im Bewusstsein festgesetzt haben“.
Ist von einem Mitglied der Fraktion der Dachschadenphysiker und zählt für Dich nicht: Albert Einstein.

Mit freundlichem Gruß
Nullmark


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