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Fenrizwolf, Sonntag, 16.10.2022, 11:18 (vor 556 Tagen) @ Baldur (995 Aufrufe)

Lieber Baldur,

als ich im vorpubertierenden Alter als fleißiger Konfirmandenanwärter im Winter das Kirchenblättchen austrug, bestand das Gros der Klientel aus älteren verwitweten Damen, deren Herzenswärme wie Herbstsonne über die Lande schien.

Als ich später mit einer Tüte voller Münzen stolz im Büro des Pfarrhauses saß, lernte ich schnell, wie die Sache mit dem Geld funktioniert: Die Dame mir gegenüber griff beim Zählen alles Silbrige, und schob mir die Kupferlappen zu. So war ich auf dem langen Heimweg zwar ebenso schwer beladen, aber kaum reicher.

Damals als Wohnraum für innerdeutsche Flüchtlinge und als Arbeits-Reservoir für die aufstrebende Industrie geplant, bietet der soziale Wohnungsbau von einst heut ein neues Bild:

Die Namen auf den Klingelschildern sind durchschnittlich halb deutsch, halb diverser Herkunft.
Mancherorts ist die Zeit seit Jahrzehnten stehen geblieben, bei manchen Leuten riecht es seltsam, aber selten zeugt etwas von Individualismus.
Allein renovierungsfaule Rußlanddeutsche haben teilweise noch den 80er-Jahre-Ostblockstil konserviert, während noch nicht alte Leute mit exotischen Wurzeln in ihrem IKEA-Schick sich nicht von einheimischen unterscheiden.

In meinem neunen Tätigkeitsfeld als Handwerkender bewege ich mich zwar fast ausschließlich in den immer selben Siedlungen, aber über die Menschen, die mir als Mieter dabei begegnen, kann ich kaum etwas Böses sagen.

In den Sechs- bis Achtparteienhäusern sehe ich oberflächlich und teils sehr offensichtlich ein sehr gut funktionierendes soziales Gefüge, das mich teilweise wirklich anrührt, wenn ich Vergleiche mit dem Niedergang meiner ehemaligen bürgerlichen Existenz herstelle.
Vermutlich bekomme ich die Dreckslöcher, in denen die wirklich Bösen hausen, auch gar nicht erst zu Gesicht, weil dort bekanntermaßen niemals Renovierungsbedarf besteht.

Sicherlich ist es auch der räumlichen Begrenztheit geschuldet, aber ich vermisse im Vorübergehen doch bei aller Sozialverträglichkeit den Individualismus.

Klar, der größte Prollo hat den größten Fernseher, aber ich sehe nirgends, nirgends Desktop-PCs. Vermutlich werden elektronische Besitztümer und selbständig tanzende Dildos schnell im Schrank verstaut, bevor die Typen kommen, die einem die Wohnungstür klauen; aber der Hobbysoziologe in mir tanzt dabei im Pentagramm.

Ich würde lieber kündigen, oder alles im Brand setzen, als in meiner Abwesenheit fremde Menschen in meinem Haus wirken zu lassen.
Manche gut gebaute Dame ist vielleicht etwas zickiger und anspruchsvoller, aber im Grunde ist das alles in Allem fast austauschbar.
Nein, schlimmer, Tausch ergäbe gar keinen Sinn, weil alles sozialistisch durchnormiert, hervorragend einig und Eins ist.
Als ich als kleines Kind im Auftrage meiner Oma Botengänge in die Baugenossenschaftshäuser unserer nächsten Umgebung unternehmen mußte, gab es allein olfaktorisch schon mehr Varianz.

Vielleicht sind die Leute in den (o. g. geschauten) Wohnungen nicht wirklich physisch einst verschwunden, sondern im Sinne einer sozialen Identität erst gar nicht mehr ausgeformt.

Demgegenüber wunderte ich mich über die Frage meiner vorpubertären Tochter, ob ich denn Jeffrey Dahmer kennen würde.
Persönlich gottlob nicht, aber auch meine musikalische Sozialisation hatte fragwürdigen Beifang.
Immerhin gibt es Pubertät noch auf humanindividueller Ebene.

Wenn die Knospen sprießen, wachsen auch schon die Neurosen.

Ich komme mir vor, wie ein heruntergefallener Schwamm in einer Autowerkstatt: Ich nehme Dinge auf, von denen ich nichts wissen will, und werde im Vorbeigehen mit Füßen getreten.
Immerhin bin ich mir meiner Selbst bewußt.

Also sollte sich niemand wundern, wenn Spongebob demnächst Reißzähne und Hörner hat, während Bob der Baumeister plötzlich nach Kasachstan auswandert.

Es ist schon längst keiner mehr wirklich da.

...A lone in a crowd is never alone
Wozu braucht es da noch Vorhänge, Schließzylinder, Feuerwände oder überhaupt Widerstand.

Ω!!!

Liebe Grüße

Fenrizwolf


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