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Herodot: die vollständige Passage und ihre Bedeutung (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Mittwoch, 03.11.2021, 18:52 (vor 902 Tagen) @ detlef (1069 Aufrufe)
bearbeitet von Forumsleitung, Mittwoch, 03.11.2021, 22:25

Hallo!

Ich habe mir mal schnell eine Übersetzung der Historien Herodots herausgesucht, nämlich von Friedrich Lange aus dem Jahre 1885.

Die betreffende Passage befindet sich auf Seite 1206 der PDF.

„Bis hierher in meiner Geschichte haben mir die Ägypter und ihre Priester erzählt und bewiesen, daß von dem ersten König an bis auf diesen letzten König, den Priester des Hephästos, wären dreihunderteinundvierzig Menschenalter gewesen, und in diesen wären ebenso viele Könige und ebenso viele hohe Priester gewesen. Nun sind dreihundert Menschenalter so viel als zehntausend Jahre, denn drei Menschenalter sind hundert Jahr, und die übrigen einundvierzig Menschenalter, die noch über die dreihundert waren, sind tausenddreihundertundvierzig Jahr. Also in elftausenddreihundertundvierzig Jahren, sagten sie, wäre kein Gott in Menschengestalt gewesen; ja auch bei allen übrigen Königen in Ägypten wußten sie von dergleichen nicht. Und in dieser Zeit, sagten sie, wäre die Sonne viermal nicht an ihrer gewöhnlichen Stelle aufgegangen, und wo sie jetzt untergeht, da wäre sie zweimal aufgegangen, und wo sie jetzt aufgeht, da wäre sie zweimal untergegangen. Und das hätte in Ägypten gar keine Veränderung hervorgebracht, weder in den Früchten des Landes, noch in des Flusses Überschwemmung, noch in den Krankheiten, noch in den Todesfällen.“

Die Stelle halte ich für ungünstig übersetzt, bzw. schon im Original mißverständlich formuliert, da sie augenscheinlich widersprüchlich ist: Die Sonne soll viermal nicht an ihrer gewöhnlichen Stelle aufgegangen sein, davon allerdings zweimal im Westen und zweimal an ihrer doch gewöhnlichen Stelle im Osten? So muß man ja auf den Holzweg geraten.

Aufschluß gibt diese Seite mit dem griechischen Originaltext (falls der Link nicht geht: Buch 2, Kapitel 142, Sektion 4), bzw. die dort zitierten Anmerkungen von W. W. How und J. Wells:

"By these words H. means: ‘the sun rose four times away from his previous quarter’ (as he explains, ἔνθα τε νῦν ... καταδῦναι), i. e. had changed his place of rising four times, rising in the east for two periods and in the west for two."

Gemeint ist eine vierfache Abweichung in Bezug auf den jeweiligen vorherigen Stand, also:

Ausgangspunkt:
Sonnenaufgang im Osten, Sonnenuntergang im Westen

1. Veränderung:
Sonnenaufgang im Westen, Sonnenuntergang im Osten (Hier ging sie zum ersten Mal im Westen auf.)

2. Veränderung:
Sonnenaufgang im Osten, Sonnenuntergang im Westen

3. Veränderung:
Sonnenaufgang im Westen, Sonnenuntergang im Osten (Hier ging sie zum zweiten Mal im Westen auf.)

4. Veränderung:
Sonnenaufgang im Osten, Sonnenuntergang im Westen = Die Zeit "dieses letzten Königs"; gemeint ist der in der vorangehenden Passage genannte "Sethos", was sich entweder auf die Pharaonen Seti I. (1290–1279) oder Seti II. (1200–1194) bezieht oder auf Shebiktu (714–705), wie hier vermutet.

Das soll sich (je nachdem, was die Ägypter unter "Menschenalter" verstanden; Herodot setzt 33 Jahre an) im Laufe von 11.340 Jahren abgespielt haben, womit jede dieser vier Perioden 2835 Jahre gedauert hätte.

Die Kommentatoren führen mit Hinweis auf die (von uns hier freilich bestrittene) Unmöglichkeit wechselnder Himmelsrichtungen der Sonnenaufgänge bzw. -untergänge aber weiter aus:

"But H.'s Egyptian informant must have meant something different, i. e. that from Menes to Sethos there were four ‘Sothis periods’ (complete or incomplete) of 1,460 years each (cf. 4 nn.)."

Es geht um den Sothis-Zyklus. Bedeutung: Das ägyptische Kalenderjahr wich von der tatsächlichen Jahreslänge (Sonnenumlauf der Erde) leicht ab, weil die Ägypter noch keine Schalttage kannten und ihr 365-Tage-Jahr zu kurz war. Aufgrund dessen wanderte der zeitlich relativ feststehende Aufgangszeitpunkt des Sirius durch das ägyptische Kalenderjahr. Gemeint ist der sogenannte heliakische Aufgangszeitpunkt, also der Zeitpunkt im Jahr, wenn ein Stern (hier der Sirius) in der Morgendämmerung aufgeht. Durch die leicht verkürzte Jahreslänge benötigt dieser Punkt 1424 Jahre, um den ganzen ägyptischen Kalender einmal zu durchwandern (oder umgekehrt betrachtet: Der ägyptische Neujahrstag wandert rückwärts durch unser Kalenderjahr). Im Bezugssystem des ägyptischen Kalenders bedeutet das, daß nach einiger Zeit an dem Datum, an dem der Sirius zuvor erstmals erschien, er im Gegenteil dazu verschwand (und umgekehrt), vgl. "Morgenerst" und "Morgenletzt".
Die 1424 Jahre des Sothis-Zyklus entsprechen etwa der Hälfte der Perioden, die Herodot angibt (≈ 2835 Jahre). Vermutung: Die ägyptischen Priester sprachen nicht vom Sonnenaufgang, sondern vom heliakischen Siriusaufgang. Herodot hat das Prinzip vielleicht nicht kapiert und einiges durcheinander gebracht. Man müßte Herodots Text wohl korrigieren, so daß dort stünde:

„Und in dieser Zeitspanne, sagten sie, wäre der Sirius viermal nicht zu seinem ursprünglichen Zeitpunkt aufgegangen, und wann er jetzt untergeht, da wäre er zweimal aufgegangen, und wann er jetzt aufgeht, da wäre er zweimal untergegangen.“

Meine Vermutung des ursprünglichen, von Herodot völlig falsch verstandenen und bis zur Unkenntlichkeit entstellten Sinns der Aussage der ägyptischen Informanten: Der Sirius habe vom Anbeginn der ägyptischen Geschichte (oder Geschichtsschreibung), markiert durch den "ersten König" bis Sethos (also spätestens bis ins 8. Jahrhundert v. Chr.) zweimal den kompletten Sothis-Zyklus durchlaufen, was insgesamt 2848 Jahre wären. Rechnet man vom Regierungsbeginn Shebitkus (714 v. Chr.) entsprechend zurück, kommt man auf 3562 v. Chr. als Beginn der ägyptischen Geschichte. Damit hätten die Ägypter den Beginn ihrer eigenen Geschichte selbst in die Zeit verlegt, die von uns heute als "prädynastische Zeit" bezeichnet wird. Der frühdynastische König Menes, der das ägyptische Äquivalent zu Karl dem Großen darstellt und hier wohl mit "erster König" gemeint ist, wird auf die Zeit 3200–3000 v. Chr. geschätzt. Die Herodot von den Ägyptern genannte Zeit würde also in etwa mit der modernen Ägyptologie harmonieren, was wohl für die Richtigkeit dieser Überlegungen spricht.

Es fragt sich nur, wie Herodot auf die 341 Menschenalter kommt. Wenn dort steht "und in diesen wären ebenso viele Könige und ebenso viele hohe Priester gewesen", so meint dies wohl nicht 341 Generationen, wie Herodot, behauptet, sondern schlicht 341 Lebens- bzw. Regierungszeiten ägyptischer Monarchen. Ich habe es nicht nachgezählt, aber vermute, man kommt von der ersten Dynastie bis Shebitku (25. Dynastie) auf eine Zahl dieser Größenordnung, sodaß es eingedenk möglicherweise heute nicht erkannter Lücken und Überschneidungen in den Königslisten in etwa hinkommen könnte.

Wir wären hier also weit davon entfernt, eine Kunde aus langer, bis in die Sintflut zurückreichende Vorzeit mit entsprechenden Hinweisen auf Erdveränderungen vorliegen zu haben.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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