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Palmblattrauch und Ritterlichkeit (Freie Themen)

Fenrizwolf, Samstag, 02.10.2021, 06:53 (vor 909 Tagen) @ BBouvier (816 Aufrufe)

Lieber Bernhard Bouvier,

so wie ich nach einem Beinbruch im Kleinkindalter zweitmalig das Laufen gelernt habe, so habe ich irgendwie auch zweimal im Leben das Lesen gelernt.

Vermutlich war es eine Art bürgerliche Tradition in unserer Familie, Bücher als Reichtümer zu schätzen.

Mein Großvater der väterlichen Seite hatte einen reichen Fundus an Büchern, der mitsamt seinem Ohrensessel auch einen Umzug wegen Zwangsenteignung des Hauses aufgrund eines damaligen Brückenbaus überlebte.

Mein Vater hatte seinen eigenen ledernen Ohrensessel zwar vielmehr zum Musikhören, bzw. Archivieren, aber seine Obsession des Schmökens in Bergen von bedrucktem Papier beeindruckte mich nachhaltig, doch empfand ich als Grundschüler das Durchlesen von Büchern doch als anstrengend.

Meterweise Bücher aus der Gründerzeit wurden behalten, aufbewahrt, und schließlich gelagert, bis ich nach seinem Tode schließlich ganz unvorbereitet genötigt war, wie ein Bergmann im Flöz, bei unzureichender Beleuchtung, zu entscheiden, was erhaltenswürdig ist, und was preisgegeben werden muß.

Mir brummte der Kopf, und mein Wirken in den verwinkelten Regalen muß wie mutwilliger Ikonoklasmus im Nachhinein erschienen sein; aber ich habe mich bei der Auslese auf familienbiografisches wie Geschichtliches fokussiert, und vermutlich manchen Klassiker der Weltliteratur wie auch Berge an nautischem Schriftwerk verwerfen müssen.

Daß Bücher eben das Medium dieser Zeit waren, und teils der Einband wertvoller als der Inhalt sein konnte, wußte ich spätestens aus meiner Konfirmandenzeit:

Das Lesen aus einem wirklich altehrwürden Exemplar der Bibel lehrte mich zwar auf lustige Weise Fraktur zu lesen, hat mir aber den fremden Inhalt schließlich nicht nähergebracht.

Saulus, Paulus und Hananias können sich noch hinter Huckleberry Finn einreihen und jener hinter Zeitdokumenten, wie nautischem Sammelwahn meines Großvaters aus Kriegszeiten oder dem Ausbildungsberichtsheft meines Vaters.

Es ist nicht leicht, aussortieren zu müssen, wenn man nicht alles behalten kann, aber selbst für diesen mysteriösen Bücherstapel, den ich auserwählt habe, werde ich in meinem Leben wohl keine Zeit mehr finden; fristet er doch noch heute sein trauriges Dasein dort, wo ich ihn voller Erschöpfung in meiner Hatz vor vielen Monaten einst niedergelegt habe.

Vielleicht habe ich wahre Schätze den Barbaren überlassen, die sie entweder in den Müll kloppen, oder gewinnbringend bei E-Gay verkaufen. In einem kulturellen Rückzugsgefecht ist das Ziel, wieder hinter eigene, geordnete Linien zu kommen, und nicht, sich mit Ballast zu beladen.

Selbst wenn noch echte Schätze bestanden haben sollten, sind es die traurigen Notwendigkeiten unserer komplexen Zeit, die ihre zehrende Wirkung nicht nur über unseren Alltag wie ein blutiges Operationstuch ausbreiten, sondern auch die Erinnerung verdunkeln – vielleicht endgültig, diesmal.

So wie mein Großvater in späten Jahren Interesse an Literatur zu alternativen Heilformen entwickelte, so hatte mein Vater eine Zeit, in der er echten Käse las, weil es eben kostengünstig angeboten wurde.

Ich nehme heute rückblickend an, daß ihn dieser offensichtliche Schund in roßkurmanier von aller esoterischen Neugierde befreit hat, war doch sein Sinn für Phantastisches schließlich auf ein niederes Maß gesunken.

Die Bibel hat eben doch nicht Recht, und was chinesische Opfer von UFO-Entführungen zum Besten geben, ist auch nicht immer die reine Wahrheit.

Tollmanns „Und die Sintflut gab es doch“ fand sich aber ebenso in seinem Fundus wie populärhysterisches von J. v. Buttlar Et. al.
Sorgte der gemeinsame Konsum von derlei literarischer Intoxikation zunächst für uns beide zur Grundlage guter, interessanter Gespräche, riß es bei ihm schließlich ab.

Rückblickend vermute ich eine Überdosis an Schund und Scheiße, die manche Autoren in Form von erlogenem Druckwerk über unsere naiven Köpfe ergossen haben.

Freilich gab es mehrere Qualitäten von inspirierenden Büchern, und nicht alle waren so verheerend, wie das, was für billig Geld über den Handel kam, aber als ich ihm einst mit einer gewissen Portion Ernst im Sinn, Stephan Berndts erstes Buch schenkte, war es des Unsinns Grusel wohl genug.

Irgendwo in diesen vielen Büchern, las ich als Jugendlicher ausgiebig von diesen indischen Palmblattbibliotheken und war vor Begeisterung gefesselt. Irre war das!

Es stand immerhin in einem Buch eines vermutlich angesehenen Autors, der so viel schlauer sein muß als ich.
Monate später fuhr ich als Mitfahrer auf einem Roller zu einer zu einer Party, die den Charakter haben sollte, etwa meine damalige Interessengruppe mit der von etwas Jüngeren zu vereinen.

Zu meiner Erschütterung gab es kein Bier, aber die Minderjährigen rauchten lässig Haschisch auf der Treppe.
Da ich weder mit den Kleinen noch deren Duftstäbchen, die sie inhalierten, etwas anzufangen wußte, landete ich schließlich beim Vater im hölzernen Wohnzimmer.

Als ich hörte, daß der Althippie nicht nur Buddhist sondern auch krasser Indien-Ventilator war, der schon mehrmals in den Ganges geschissen hat, war ich Feuer und Flamme, ihn nach seinem Redeschwall endlich zu unterbrechen, um ihm die Frage aller Fragen zu stellen:

„Äh, äh, mhm, was’n mit d… d… die Palmblattbibliotheken da in Dien, Lama Eigenrauch?“

„Nee, gips nich; nie gehört – was fürn Ding?“

„Namaste!“


Nun, was sollte zu der Annahme verleiten, daß in den vormaligen Medien weniger Lüge und Unfug steckt, als in diesem neuzeitlichen, hyperaktiven Internetz?

Immerhin ist es bedingt selbstkorrektiv – Leserbriefe an einen Buchverlag sind wohl nicht so prominent.

Aber mit Geschichten „Märchen“ am Lagerfeuer fing es an. Nur wußte der, der selbst Jagd, daß Hirsche auch in höchster Not nicht fliegen können, die anderen konnten sich nicht sicher sein.

Auch wenn es ungewohnt ist, ist es wohl angebracht, den Menschen der Vergangenheit, als Bücher noch das Medium der Wahl waren, ungefähr ebenso manipulative Interessen zu unterstellen wie den heutigen neuen Propheten der ersponnenen Weisheit.

Warum sollten in relativer Armut lebende Schriftgelehrte, die damals eher die Ausnahme waren, ihre wertvolle Zeit damit verschwenden, auf ehrliche Weise „Ehrlichkeiten“ aus den ehrlosen Biographien würdeloser Ehrloser mühsam auf Kraut zu schreiben?

- Stop, Krauts – mine is the landmine. C’mon everybody, clap your hands, and let’s find out. –

Mich gruselt es ja schon vor meiner eigenen Lebensnachschau nach dem Tode:

1892 Dem Unrat der Erde entfleucht
1896 – 1897 Grundschule „Im Eck“
1898 Sabbatical
1899 Grundwehrdienst im Bürgerbraukeller „Aufs Maul“
1972 Auslandsstudium zum Universalgelehrten (Bremen)
1973 Buchautor, Sexualtherapeut und Eingeweihter geworden (Expedient)
1974 Irmgard wegen meiner und ihrer imposanten Brüste einen Brief geschrieben
1975 wiederholt emigriert wegen erotischer Verfolgung
2021 Professor für angewandte Anwendung spezieller Spezialspezialitäten an der TU Niederbrombach
2022 Familientherapeut und ehrenamtlicher Richter

Warum sollte überhaupt ein überlegener Mensch den Antrieb haben, sein Wissen mit anderen zu teilen? Er muß geistig schon noch fruchtbar anstatt furchtbar sein.

Tue jeder das Seine, bilde sich und reife.
Und schicke endlich dieser jene diese ungebetenen Trompeten zur Hölle!

Nachdenklich und dankbar,

Fenriswolf


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