Bullerbü ist überall (Freie Themen)

aber @, Dienstag, 24.08.2021, 22:33 (vor 970 Tagen) @ Erdline (327 Aufrufe)

Hallo

Als Siedlungsform empfiehlt Anastasia jedenfalls „Familienlandsitze“ in der Größe von einem Hektar,

Zum Zwecke der Selbstversorgung ist ein Hektar pro Familie bekanntlich sehr knapp. Schon der Okkultist John Seymour erklärt in seiner Erstklässler-Fibel „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“ von 1976 im ersten Kapitel auf Seite 36, dass ein Grundstück von 5 Morgen eine 6-köpfige Familie zu ernähren vermag. (Ein britischer Morgen entspricht 0,4 Hektar, also sind die von Seymour empfohlenen 5 Morgen = 2 Hektar). Da Anastasia jedoch nur den Beischlaf gutheißt, welcher „der Fortpflanzung dient“, ist eine Familiengröße von 6 Personen in den Anastasia-Siedlungen als unrealistisch gering anzusehen, so dass man gut doppelt so große Familien und demnach auch doppelt so große Anwesen veranschlagen sollte, sprich 4 Hektar pro Familie. Lediglich einen Hektar zu empfehlen, ist gradezu fahrlässig.

und tatsächlich haben sich in Osteuropa und Russland bereits etliche solche Siedlungen etabliert. In Deutschland gibt es ein konkretes Familienlandsitz-Gründungsprojekt namens Weda Elysia und es finden sich auch einige Artikel über diese Lebensform (z. B. auf sein.de).

sein.de: „Das ungeschriebene Gesetz in allen Siedlungen dieser Art heißt: vollständige Ablehnung von schlechten Gewohnheiten wie Rauchen, Trinken, Drogen aller Art. […] Eine werdende Mutter soll ununterbrochen während der gesamten Schwangerschaft auf ihrem Familienlandsitz in Wechselwirkung mit der Umgebung bleiben und nur die dort mit Liebe angebauten Lebensmittel verzehren.“

Damit wäre ich schonmal disqulifizert. Ein Glück. Weder würde ich mir meine schlechten Angewohnheiten verbieten lassen, noch mich als Schwangere auf einem Hektar Land einsperren lassen. Eine werdende Mutter SOLL… Wenn ich sowas schon höre. Soll??? Womöglich auch noch von Leuten ausgedacht, die noch nie ein Kind zur Welt gebracht haben? Mit welchem Recht schreibt man überhaupt anderen Menschen vor, was sie tun und lassen sollen? So einen totalitären Sektendreck hab ich zuletzt bei den Hare Krishnas gesehen.

https://mein-freier-weg.jimdofree.com/neue-lebensgemeinschaften-entstehen/anastasia-familienwohnsitze/

Genannte Seite begrüßt einen verheißungsvoll mit den "7 besten Medikamenten: Sonne, Sonnenschein, Wasser, Ruhe, frische Luft, Sport, Obst & Gemüse, Spaß". Normalerweise ist jemand, der noch nicht einmal bis 9 zählen kann, für mich von vornherein gnadenlos durchgefallen. Zudem kann ich auch nichts mit Leuten anfangen, die die Rolle des Sports dermaßen überbewerten (der Okkultist Rudolf Steiner fand Sport so richtig scheiße). Nichtsdestotrotz hab ich mir den Rest der Seite auch noch angetan und die beiden Videos angeschaut.

Mal ehrlich – sogar die Zeugen Jehovas verkaufen ihren Kitsch besser. Das erste Video (Propagandavideo) bzw. die Fotos im zweiten Video (Fragegespräch) machen den Eindruck von Kargheit, Ödnis, schlechtem Wetter und amateurhaft gemachter Videobearbeitung. Die Bildqualität ist wie aus einem VHS-Archiv, aus dem die Reigentanz-Videosequenzen wohl auch tatsächlich stammen. Ab und zu werden Gurken und Tomaten eingeblendet, damit auch der letzte Idiot begreift: „Ah, Kleingärtner!“. Bei Minute 6:20 leiert ein viel zu adrett gekleidetes Kind sein auswendig gelerntes Sprüchlein vom Einssein mit der Natur runter. Eine Handvoll immer gleiche Personen, telegen in Trachten-Schale geworfen, darunter grade mal zwei(?) Kinder, sollen dafür herhalten, dem Zuschauer ein Bild von Idylle, Naturverbundenheit, Fruchtbarkeit und der Fülle des Lebens zu vermitteln. Es gelingt nicht. Zu krampfhaft wird versucht, aus viel zu wenig Material irgendetwas herauszuholen. Nicht einmal die eigentlich mächtige Bildgewalt der sibirischen Taiga versteht man vorteilhaft in Szene zu setzen. Peinlich, wie versucht wird, mit sowas irgendwen hinterm Ofen hervorzulocken.

Und - was diese "Lebensform" ganz besonders unglaubwürdig macht: Nirgends wird erläutert, wie man in der Kommune mit zwischenmenschlichen Konflikten umgeht, die zwangsläufig immer und überall dort entstehen, wo Menschen sich zu Gemeinschaften zusammenfinden. Es wird einfach geleugnet, dass es Konflikte überhaupt gibt. Alle Menschen, sobald sie nur zur Anastasia-Sekte aufs Land ziehen, werden netter, naturliebender, humaner und gütiger und hören auf zu streiten (Video 1, um Minute 6 herum). Also sind dort immer alle ganz lieb zueinander, Streit und Uneinigkeiten gibt es nicht. Alles klar. Ich möchte nicht wissen, welche unterschwelligen, unausgelebten Boshaftigkeiten dort in anderer Form ihr Unwesen treiben, wo es verboten ist, Konflikte auch nur aufzuzeigen und zu benennen. Sogar bei den verschrobenen Amisch-Gemeinden in Pennsylvania gibt es einen Ältestenkreis, welcher per Schiedsspruch Streitigkeiten in der Gemeinde beilegt. Immerhin sind die Amischen trotz christlichen Fundaments wenigstens so ehrlich, nicht zu leugnen, dass Menschen sich immer verhalten werden wie Menschen, wo auch immer sie zusammenkommen - im tiefsten Kern kriegerisch.

Für mich, die beste Lebensform der Zukunft... zurück zu den Wurzeln mit neuem Bewusstsein, souverän, autonom, frei.

Beste Lebensform ist doch Unsinn - und Zukunft auch. Meine aus Moskau stammende Arbeitskollegin von der Maschinenbau-Fakultät erzählte mir einst, wie sehr sie als Heuschnupfengeplagte jedes Wochenende litt, wenn sie zu ihrer Datscha ins Grüne fuhr. Jeder, wirklich jeder Städter in Russland, so versicherte sie mir glaubhaft, hätte solch einen Zweitwohnsitz auf dem Lande, wo man sich der Hobbygärtnerei und den 7 oben genannten besten Medikamenten widmet. Schon immer. Da ist nichts, aber auch gar nichts neues und zukunftsweisendes dran.

Man kann das Zeitalter der dunklen Mächte als überwunden abhacken und in die Tonne hauen, wenn man nur in Gedanken einen Familienlandsitz bauen kann. Anastasia vermittelt uns über die gleichnamige Buchreihe von Wladimir Megre diese Lebenform.

Irgendwie hast du als Kind nicht genug Liebe gekriegt oder durftest nie barfuß auf einem Pony ohne Sattel reiten. Ich empfehle den Erziehungsratgeber „Bullerbü ist überall“ oder einen Besuch im Waldorfkindergarten. Vielleicht hilft auch eine Mitgliedschaft im örtlichen Schrebergartenverein. Und wenn alles zu spät ist: Alkohol hilft auch.

LG,
und


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