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Kritikpunkt (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Montag, 08.03.2021, 20:12 (vor 1137 Tagen) @ Isana Yashiro (2162 Aufrufe)

Hallo!

Hier kommen wir endlich zu meinem (und vermutlich auch Beas) eigentlichem Kritikpunkt: Einige faustische Menschen prägen die gesamte faustische Kultur. Einige faustische Menschen in einer anderen Kultur sollen dagegen keinen Effekt haben. Ganz so wie Du es gerade brauchst. Je nachdem, wie es Dir gerade besser in den Kram paßt, prägt eine Minderheit eine ganze Kultur oder hat keinen Effekt.

Mir scheint, es ist immer noch nicht angekommen, was ich eigentlich (auf Grundlage Spenglers) meinte. Statt dessen hängt man sich an dem Begriff des Faustischen auf, den man natürlich auch nur verengt versteht.

Andere Kulturen sind wieder von anderen "Leitideen" getragen.

In der griechisch-römischen Antike überwog nicht die faustische Dynamik mit dem Drange ins Unendliche, sondern Statik und Körperlichkeit. Das läßt sich bei Betrachtung der Hinterlassenschaften dieser Kultur leicht nachvollziehen. Der Städtebau hantiert z. B. nicht mit "Sichtachsen" wie der faustische, nicht mit ewig langen Prachtstraßen und Türmen (die gab es in Rom gar nicht, sondern erst im Abendlande). Im Abendland geht es auch architektonisch in die Ferne und nach oben. Statt dessen konzentrierte sich in der griechisch-römischen Antike die Empfindung der Menschen auf den Baukörper eines bestimmten Gebäudes, so daß auf den größeren Zusammenhang mit den umliegenden Gebäuden kaum geachtet wurde. Man baute einfach, wo es gerade paßte. Und wer als Imperator auch als Bauherr hervortreten wollte, baute keine Alleen und Prachtstraßen (wie bei uns), sondern in sich abgeschlossene Foren.
Die antike Kunst kannte keine ausgearbeitete Perspektive mit Fluchtpunkt. Das ist eine faustische Erfindung. Statt dessen konzentrierte man sich auf singuläre Monumente wie Statuen, Säulen, Triumphbögen usw. Warum das? Weil der antike Mensch einen anderen Begriff des Raumes hatte. Für uns ist der Raum das Wesentliche und wird von den Körpern begrenzt und sichtbar gemacht. Für den antiken Menschen war es andersherum. Für ihn existierten die Körper und der umgebende Raum war nur eine Kulisse, in der die Körper als das Wesentliche hervortraten.
Dies zeigt sich auch in der antiken Wissenschaft. Die Griechen können in Europa getrost als die Erfinder der Geometrie gelten. Ihre Mathematik erschöpft sich quasi vollständig in der Geometrie. Sie dient allein dazu, Körper zu berechnen. Funktionale Algebra mit Gleichungssystemen, Integralen, imaginären Zahlen in abstrakten n-dimensionalen Räumen, die sich nur berechnen, aber nicht grafisch darstellen lassen (alles faustische Entwicklungen!), wären dem antiken Menschen unvorstellbar und nicht vermittelbar gewesen.

Die Seele einer Kultur spiegelt sich nach Spengler unmittelbar in ihrer Beziehung zum Raume und zur Zeit wieder. So treten bei ihm verschiedene Varianten hervor:

  • Griechisch-römische Antike: Isolierte Körper im Raum. Die Tiefe des umgebenden Raumes verflacht sich im Empfinden zu einer platten Kulisse. Das Weltempfinden ist statisch, auf Punkte bezogen. Der Zeitbegriff ist ebenso punktuell. In der römischen Geschichtsschreibung verflüchtigt sich das Geschichtswissen bereits nach wenigen Jahrzehnten ins Mythische. Kein Versuch einer präzisen Geschichtswissenschaft.
  • Die magische Kultur (jüdisch-frühchristlich-arabisch): Das Raum- und Zeitempfinden ist höhlenhaft. Das spiegelt sich in der Architektur wieder, in der Synagogen und Moscheen kompakte Rundbauten sind, die innerlich große und runde Gewölbe aufspannen. Von den europäischen Langhäusern, die unsere Dome und Säle darstellen, findet sich dort nichts. Das Geschichtsbild ist desgleichen "abgeschlossen", indem es eine feste Anzahl Jahrtausende von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gerichte gibt, in denen sich das gesamte Weltgeschehen abspielt. Außerhalb dessen gibt es weder Raum, noch Zeit.
  • Die ägyptische Kultur: Dort herrscht in Raum- und Zeitempfinden die Linie vor. Während das Abendland in alle Richtungen geht, empfanden die Ägypter nur zwei, nämlich Vorne und Zurück. Die erhaltenen Tempel- und Grabbauten sind Abfolgen von Raumfluchten, die hintereinandergeschaltet sind. Das historische Gefühl war dem faustischen ähnlich. Daher die präzisen ägyptischen Königslisten, die (soweit es sich aus dem Erhaltungszustand rekonstruieren läßt) lückenlos sind und mit genauen Datierungen hantieren.
  • Die (alt-)chinesische Kultur: Auch diese ist laut Spengler der faustischen nicht unähnlich. Allerdings fehlt ihr das dynamische Element, das aktiv immer wieder in die Ferne drängt, um den Raum zu überwinden (das Drängen macht das Faustische aus). Statt dessen nehmen die Chinesen den Raum zwar ähnlich in allen Dimensionen wahr wie wir, versenken sich aber in den Raum und die Landschaft, die sie in ihrer spirituellen Tiefendimension begreifen wollen. Symbol hierfür ist z. B. der traditionelle chinesische Gartenbau

Der Raum- und Zeitbegriff bestimmt das Dasein des Menschen a priori (siehe Kant zu den "Formen der sinnlichen Anschauung"). Er liegt jeglichem bewußten Nachdenken, jeder Empfindung zugrunde und bestimmt im Voraus, wie diese ihrer Art nach gestaltet sind, wie sich der Mensch einer Kultur zu Raum und Zeit, Landschaft und Geschichte innerlich positioniert, die Welt verarbeitet und sein Weltbild als innere Wahrheit in seinen Kulturschöpfungen ausdrückt. Weil die Kulturseele vom jeweiligen Raum- und Zeitbegriff abhängt, ist die seelische Verfassung der Kultur natürlich ebenso wie die Wahrnehmungskategorien "Raum und Zeit" a priori, also dem Bewußtsein vorgelagert und die innere Welt eines Kulturmenschen hervorbringend. Die Kultur übersteigt den Menschen, ist mehr als die Summe ihrer Teile. Zwar bringen die Menschen die Kultur (durch Tradierung) hervor. Sie bringt aber auch die Menschen hervor. Das ähnelt der Frage nach der Henne und dem Ei und läßt sich mit kausalen Überlegungen nicht auflösen, denn Kulturen sind metaphysische Kategorien des menschlichen Wesens, die ebenso vorgegeben sind wie es auf individueller Ebene z. B. Persönlichkeits- bzw. Seelentypen sind.

Davon ausgehend wird man mit einem verengten Begriff des Faustischen (das ich wohl in meinen Vorbeiträgen nicht vermitteln konnte :-() in anderen Kulturen zwar durchaus Menschen finden können, die einen "Forscherdrang" haben. Einen faustischen Forscher mit diesem Weltgefühl wird man aber nur in europäischen Völkern finden.
Es ist auch völlig egal, ob der versoffene Fußballfan, der sein Leben lang nichts großartiges Zustande bringt, nicht dem faustischen Idealbild entspricht. Wäre es möglich, seine seelische Verfassung zu sezieren und seine Beziehung zu Raum und Zeit darzulegen, würde man dennoch feststellen, daß diese ihrem Wesen nach faustisch ist, also die Erstreckung des Raumes zuvörderst wahrnimmt und einen vorbewußten Drang hat, diesen empfundenen Raum, diesen Seelenraum in irgendeiner Form hinter sich zu bringen, um herauszufinden, was hinter dem Horizont, hinter der Gegenwart, hinter dem gerade Wahrnehmbaren liegt.
Bei Durchschnittsmenschen drückt sich das Faustische vielleicht nur darin aus, daß sie ein Auto tunen und dafür den Motor bis ins kleinste Teil zerlegen und wieder zusammensetzen, oder daß sie möglichst viele Briefmarken aus verschiedenen Zeiten und Ländern sammeln, oder daß sie regelmäßig Urlaub am Ballermann machen, weil sie in einem anderen Land saufen wollen statt in der nächsten Eckkneipe. Am Wesentlichen, an der gemeinsamen Kulturseele ändert das aber nichts. Das sind nur Rangunterschiede. In diesem Sinne hat es wenig zu bedeuten, wenn man zum Pöbel des eigenen Volkes vielleicht eine größere Distanz empfindet als zu den tiefgründigeren Vertretern anderer Völker und Kulturen.
Über den Alltagsmenschen gibt es wiederum wahre Titanen, die für ganze Epochen stilbildend wirken und alle Zeitalter überragen. Sie repräsentieren die höchsten Möglichkeiten der Kultur und sorgen dafür, daß sich für Jahrzehnte und Jahrhunderte Epigonen an ihnen orientieren.

Gewisse Dinge konnte Spengler noch nicht wissen. Auch das wird ihm zugestanden. Ich habe bisher noch keinen Beitrag gelesen, der ihm daraus einen Strick drehen wollte. Du erweiterst seine chinesische Zivilisation auf deren zweie. Dadurch sehe ich mich genötigt darauf hinzuweisen, daß man in Spenglers Zeit die ersten drei der anerkannten chinesischen Dynastien noch für bloße Märchen hielt, weil aus der eurozentristischen Sicht gefälligst garnichts vor der europäischen Geschichtsschreibung zu beginnen hatte. Spengler selbst konnte also nicht bemerken, daß schon die Shāng eine voll ausgeprägte Zivilisation (Erfinder der chineschischen Schrift! Bronzegießer, Fernhändler und so fort) waren.

Auch die Germanen hatten eine Schrift (die wie die ersten chinesischen Schriftzeichen noch überwiegend rituellen Zwecken diente und in Bäume, Steine, Knochen, Gegenstände eingeritzt wurde), verarbeiteten Eisen, pflegten Fernbeziehungen und hatten erste größere Siedlungen. Gleichwohl befanden sie sich noch nicht in einem Hochkulturzyklus, sondern bestenfalls in den "Vorwehen". Von Zivilisation (nicht im angloamerikanischen Sinne, wo zwischen Kultur und Zivilisation nicht scharf unterschieden wird) kann damals noch viel weniger gesprochen werden.

So. Das war vermutlich wieder ebenso lang wie unverständlich. ;-)

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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