Noch zu beseitigende Unklarheiten (Freie Themen)

Isana Yashiro, Samstag, 27.02.2021, 06:33 (vor 1126 Tagen) @ Taurec (2333 Aufrufe)

Hallo!

Die Uneinigkeit ergibt sich aus der Natur der Sache, deren zugrundeliegende Gesetzmäßigkeit sich allerdings erschließen läßt.

Kulturen sind der Lebenszyklus einer Kulturseele, die das "Gesetz, nachdem sie angetreten", mit einer im Schnitt gleichförmigen Lebenserwartung verwirklicht. Die Phasen sind Jugend, Erwachsenenalter "im vollen Saft", Greisentum und Tod, wie bei allem anderen Lebendigen. Dann sind alle Aspekte dieses Seelentums durch kulturelle Schöpfungen erforscht, aus- und abgelebt. Bei Hochkulturen scheinen das 40 menschliche Generationen oder rund 1000 Jahre zu sein.

Biblische Zahlen also.

Die Zivilisation ist dahingegen der äußere, kristallisierte, "harte" Teil, der zurückbleibt, wenn das Leben, die Seele verschwindet. Sie verhält sich zur Kultur exakt so, wie sich ein Körper mit Organen, Knochen, Muskeln, Haut zur ihn belebenden Seele verhält. Mit dem Tode der Kultur ist auch die Entwicklung des Körpers abgeschlossen. Er wird sich nicht mehr verändern, nicht mehr reifen, sondern nur noch zerfallen. Dabei hängt die Rate des Zerfalls, also die Geschwindigkeit der Verwesung nicht von den inneren, lebensbildenden Kräften ab, die den Körper über 1000 Jahre lang von innen aufgebaut haben, sondern allein von äußeren Umständen. Um im Gleichnis zu bleiben: Ein Kadaver verwest unterschiedlich schnell in Abhängigkeit davon, ob er in feuchtem Milieu mit einer Vielzahl Aasfressern und Mikroorganismen liegt oder in der prallen, aber trockenen Sonne einer Wüstenregion. In der richtigen Umgebung kann ein Körper mumifizieren und über Jahrtausende seine einstige Gestalt weitgehend behalten. Bei Zivilisationen verhält es sich exakt so.

So geschah es im Falle der antiken Zivilisation, über die sich von außen und allen Seiten viele Fremdvölker ("Aasfresser", aber ihrerseits höchst lebendig und von ihrem eigenen Gesetze getragen) hermachten, daß diese bereits nach 500 Jahren aufgelöst war. Von den römischen Institutionen blieben nur noch Fragmente übrig, z. B. in der kirchlichen Verwaltung, in Form der lateinischen (toten!) Sprache, der antiken Form des Hausgötterkults als christliche Schutzheilige verbrämt, italienische Stadtstaaten des Mittelalters als Nachklang der antiken Staatsform der "Polis", die italienische Mafia, in der die Abhängigkeitsbeziehungen des antiken Klientelwesens weiterexistieren.
Andere Zivilisationen wie die ägyptische konnten Jahrtausende überdauern, wobei sie nur die in der Kulturphase geprägten Formen ad infinitum wiederholten, ohne je neues zu erfinden. Dies war möglich, weil ihr ehemaliger Lebensraum, nur mehr reiner "Standort" nicht von anderen Lebensformen beansprucht wurde. Erst die "magische Kultur", die um die Zeitenwende in direkter Nachbarschaft entstand, machte der ägyptischen Zivilisation ein Ende, über 2000 Jahre nach dem Ende der ägyptischen Hochkultur.

Also die 1000 Jahre oder 40 Generationen beziehen sich nur auf die Kultur vor der Zivilisation. Nur dieser Teil vorher hat demnach eine feste Dauer, während die Zivilisation danach als Untote umherwandelt bis sie aufgehalten wird. Im Prinzip könnte sie unbegrenzt lange bestehen?

Man darf sich bei dieser Betrachtungsweise nicht davon irritieren lassen, daß unsere Zivilisation von lebendigen Menschen betrieben wird, die jeder für sich ihren eigenen Lebenszyklus abspulen. Das öffentliche Leben mag geschäftig wirken. Es wird gewirtschaftet, gebaut, verkehrt, produziert und konsumiert in einem Modus, in dem Krisen lediglich wie das Atemholen vor neuen Höhenflügen wirken. Zugleich verbreitet sich unsere Zivilisation räumlich über den ganzen Planeten. Sie ist gegenüber anderen Kulturen und Zivilisationen höchst aggressiv und vereinnahmt sie bis zur Unkenntlichkeit.
Man muß eine Abstraktionsebene höher steigen und erkennen, daß diese Geschäftigkeit in einem starren Rahmen aus vor Generationen geprägten Formen und Ideen stattfindet, der trotz oberflächlicher Aktivität innerlich tot ist. Die Wirtschaftsform des Kapitalismus, die politische Form der Demokratie wurden bereits vor Jahrhunderten gestaltet und wirken bis heute nach ihren Gesetzmäßigkeiten weiter. Die technische Entwicklung folgt einer impliziten teleologischen Idee, in der sich ein "Fortschritt" logisch aus dem zuvor Erfundenen ergibt. Selbst die fortschrittsgetriebene Linke, die mit Genderismus, Transnationalismus, Umweltschutz usw. scheinbar neue Ideen propagiert, die es vor 150 Jahren noch nicht gab, tut dies auf Grundlage einer Geisteshaltung, die damals schon herrschte und diese Ideen stupide hervorbringt, ohne an ihrem Grundthema etwas zu ändern. Diese Züge wurden vor Jahrhunderten auf ihr Gleis gestellt und rollen seitdem selbsttätig dem Abgrunde zu.
Auch alle Reformversuche, alle gutgemeinten Vorschläge eines alternativen Systemaufbaus, der besser sein soll als das bisherige, basieren samt und sonders auf Ideen, die bereits vor Generationen von irgendwem formuliert wurden. Kein der abendländischen Zivilisation angehörender Mensch ist dazu in der Lage, etwas auszudrücken, das nicht längst bereits ausgedrückt worden wäre. Zu jedem Konzept eines gesellschaftlichen Neubaus, für jede Richtung im Bereich der Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft gibt es Kronzeugen (die oft zur Untermauerung auch angeführt werden), die das vermeintlich Neue, Andere, Zukünftige bereits vorwegnehmen. Es gibt nichts Neues mehr, keinen revolutionären neuen Gedanken, den nicht ein früherer Mensch bereits gehabt hätte, wenngleich natürlich jeder Einzelne für sich zum ersten Mal einen Gedanken denken kann, den er selbst zuvor nicht hatte. Aus dieser Selbsterfahrung, gepaart mit der sich verbreitenden Unkenntnis der eigenen Geschichte, ergibt sich die Illusion, daß tatsächlich noch Neues entstünde. Damit mag eine Reifung auf persönlicher Ebene einhergehen, aber keine gesamtkulturelle. In dieser Form der ewigen Wiederkunft kann die Zivilisation noch sehr lange weiterbestehen, sofern ihr kein äußeres Ereignis ein Ende macht. Denkbar wäre zudem, daß sie wie ein toter, morscher Baum unter ihrem eigenen Gewichte zusammenbricht, weil tragende Strukturen nicht mehr halten. Diese zweite Möglichkeit deucht mir aufgrund der alles bislang Bekannte übersteigenden Größe der Strukturen der abendländischen Zivilisation nicht unwahrscheinlich.

Also bin auch ich nicht in der Lage irgendeinen neuen Gedanken zu denken. Das stimmt mich traurig. Ich kann mich nur damit trösten, daß es anderen Menschen nicht anders ergeht. Kein Nietzsche, kein Spengler, kein Karl Marx hatte irgendeinen neuen Gedanken. Auch Einstein nicht. Wahrscheinlich nichtmal mehr Kant.

Luther markiert als eine Erscheinung mehrerer zeitgenössischer den Beginn der Spätzeit. Man könnte es auch als "Mittlebenskrise" der Kultur betrachten, in der die Jugend rekapituliert und die Grundlagen für die reife Spätordnung des Alters geschaffen wurden. Man hat sich durch Lebenserfahrung nochmal neu erfunden. Die Zivilisation beginnt mit der Tötung Gottes durch die Aufklärung, also im 18. Jahrhundert. Die "industrielle Revolution" ist eine mehrerer aufgrund der Aufklärung vollzogenen "Revolutionen", die anders als zu Luthers Zeiten keine Umwälzungen (= lebendige Bewegung), sondern endgültige Umstürze (= die Wendung zum Tode) waren.

Aha. Demnach hat die faustische Kultur zusammen mit dem Mittelalter begonnen. An welchem Ereignis kann man das festmachen?

Autoritätsgläubigkeit ist kein Merkmal der Kultur, auch nicht der Zivilisation, sondern des niederen Menschen, den es zu allen Zeiten in allen Kulturen und allen Zivilisationen gab. Unser Zivilisationszyklus wäre beendet, wenn niemand mehr wüßte, wer die Deutschen waren, wenn die deutsche Sprache bis zur Unkenntlichkeit degeneriert wäre und von späteren Menschen nach vorangegangener Neualphabetisierung als tote Sprache aus zufällig erhaltenen Literaturfragmenten erlernt werden müßte. Sie wäre beendet, wenn niemand mehr Bach oder Mozart hören könnte, ohne es für unverständliches Klimbim zu halten, wenn man meinte, Wolkenkratzer, Autobahnen, Staumauern wären von vorzeitlichen, gottgleichen Titanen erbaut worden, weil man dies weit über den Möglichkeiten des Menschen dünkt. Die Zivilisation ist beendet, wenn ein großer Vergessen in Form eines dunklen Zeitalters eintritt, in dem die Menschen nicht mehr wissen, von wem sie abstammen und was noch 200 Jahre zuvor gewesen war.

Darauf muß ich im letzten Absatz zurückkommen.

Auch das ist nicht neu. Die Araber waren auf dem Höhepunkt ihrer Kultur begnadete Mathematiker. Ihre Leistungen wurden zur Grundlage unserer eigenen Entwicklung.
"Ab dem 10. Jahrhundert veränderte sich die Einstellung maßgeblicher islamischer Rechtsgelehrter zur aus der hellenistischen Philosophie weiterentwickelten, neuplatonisch geprägten islamischen Philosophie und den hieraus abgeleiteten ethischen Normen. Empirische Forschung als Quelle der Erkenntnis und Weg zu ethischer und religiöser Normenfindung wurde als im Gegensatz zur islamischen Rechts- oder Religionswissenschaft stehend wahrgenommen und galt nur noch als private Beschäftigung einzelner Gelehrter. Die Mehrzahl der Gläubigen sollte sich von den ethischen Grundsätzen der Scharia leiten lassen. Den Abschluß dieser Entwicklung bildet das Werk des bedeutenden Rechtsgelehrten und Mystikers al-Ghazālī (1058–1111), der die Philosophie Ibn Sinas und anderer hellenistisch geprägter muslimischer Wissenschaftler als theistisch und nicht mit der islamischen Theologie vereinbar zurückwies. Die Madrasas verlegten entsprechend ihre Schwerpunkte nach und nach auf die juristische und theologische Ausbildung, während die naturwissenschaftliche Forschung und infolgedessen auch eine mathematische Wissenschaft, die über elementare angewandte Mathematik hinausging, ihren früheren Rang verlor. Darüber hinaus trugen politische Ereignisse wie die Reconquista im islamischen Westen, im Osten die Einwanderung der Seldschuken sowie der Mongolensturm, dem im Jahr 1258 auch Bagdad unterlag, zum Ende der Blütezeit der arabischsprachigen Wissenschaft im islamischen Kulturraum bei, und somit indirekt auch zum Niedergang der wissenschaftlich betriebenen Mathematik. Mit Ausnahme der beiden bedeutenden persischen Universalgelehrten Nasir ad-Din at-Tusi (1201–1274) und Dschamschid Masʿud al-Kaschi (1380–1429) brachte die islamische Kultur in der Folgezeit kaum noch einflußreiche Mathematiker hervor." (Quelle)

Die Mathematik wurde wegen Inkompatibilität mit neueren religiösen Dogmen aufgegeben. Diese Entwicklung trat wohlgemerkt erst 400 Jahre nach der Entstehung des Islams ein, wobei Mohammed in deren Zyklus den selben Platz wie bei uns Luther und Konsorten einnimmt. Mit Mohammed begann die arabische Spätzeit, die zur arabischen "Aufklärung" führte, in deren Folge die Errungenschaften der arabischen Kultur abgebaut wurden, zugunsten des starren und unfruchtbaren Systems des vollendeten Islams. Nach 1000 Jahren ab der Zeitenwende trat die magische Kultur in die Zivilisation ein. Seitdem verfault sie in der Wüste.
Man verwechsle den Rang des Islams in der arabischen Welt nicht mit jenem des Christentums bei uns. Die eigentliche magische Religion waren die vorislamischen Kulte, das Urchristentum und das Judentum, die vom Islam bis auf unerhebliche Restbestände ausgelöscht wurden. Die Erscheinung in unserer Zivilisation, die dem Islam ab dem 10. Jahrhundert entspricht, nennen wir Sozialismus.
Ähnliches wie damals ist gegenwärtig mit den wissenschaftlichen Grundlagen und Entdeckungen der faustischen Kultur zu beobachten. Diese Vorgänge markieren nicht das Ende, sondern die Vollendung der Ausprägung der Zivilisation, also des Todeskampfes der Kultur. Es ist der Übergang in die "zweite Religiosität", in der die Formen der Frühzeit in erhabener Zwecklosigkeit ewig wiederholt werden. So kehrt in den modernen sozialistischen Ersatzreligionen der Dogmatismus der Kirche wieder, aber ohne die lebendige Kraft des christlichen Glaubens.

Das ist also die Zweite Religiosität; ein Begriff, den Du früher schon verwendet hattest und den kaum jemand verstanden haben dürfte. Wo kommt der Sozialismus her?


Zur Zeit der größten Ausbreitung der antiken Zivilisation wurden in Großbritannien Aquädukte gebaut und römische Soldaten waren am Eingang zum Roten Meer stationiert, auf einen Ozean blickend, den kein Römer je bereisen würde.

Wir schauen nicht nur in den Weltraum, sondern haben auch Wasserleitungen nach dem Vorbild der Aquädukte. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?


Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Man muß aber bedenken, daß die Idee der faustischen Technik alt ist und diese Errungenschaften nichts an sich Neues sind, sondern die technische Pflasterung gedanklich vorgeebneter Pfade. Das Unbekannte ist neu, die Idee der Expansion ins Unbekannte aber nicht.

Hier muß ich anmerken, daß alles Bekannte noch unbekannt war, ehe es bekannt wurde. Das heißt ich schreibe der Idee der Expansion ins Unbekannte eine Schöpfungshöhe von genau null zu.

Man wird feststellen, daß man dies nicht aufgrund eigenen inneren Antriebes getan hat, sondern um den Europäern zu zeigen, daß man ihnen auf ihrem eigenen Boden (d. h. in ihrem eigenen Metier) überlegen sei. Dann wird man es unterlassen, denn Chinesen und Araber interessieren sich nicht für den Weltraum (allenfalls als Ressourcenquelle, solange die Kosten-Nutzen-Rechnung stimmt).

Dahin ging meine Überlegung auch. Allerdings kann sich der Weltraum als Ressourcenquelle für ein auf die Erde beschränktes Wirtschaftssystem niemals lohnen. Mit der ersten Lieferung entstünde der Eindruck, daß alle anorganischen Ressourcen nun unbegrenzt verfügbar sind und die Marktpreise würden entsprechend nachgeben.

Das hängt ganz von der Schwere der kommenden Schläge ab und wann sie sich ereignen.

Ich war davon ausgegangen, daß die Zivilisation eine feste Dauer innerhalb des tausendjährigen Kulturzykluses hätte. Offenbar hatte ich da etwas falsch verstanden und das macht meine Frage hinfällig.

Die Frage ist außerdem, ob genügend eigenständig lebensfähige Menschen europäischer Rasse überleben werden, um den Keim einer künftigen neuen Kultur zu bilden, und welche traditionelle Lebensweise und Spiritualität sie pflegen, aus welchen sich diese künftige Kultur ergeben würde.
Gleich wie das Abendland auf Lehren der Antike zurückgriff (und in Teilen der magischen Kultur), die es für sich neu interpretierte und zum Ausdruck des Eigenen verwandte, könnten Restbestände des vergangenen Abendlandes in die künftige Inkarnation hinübergerettet werden. Diese Bestände gilt es zu identifizieren und im wahrsten Sinne des Wortes "konservativ" zu erhalten.

Eine nette Idee. Aber Du erklärtest weiter oben, daß die Zivilisation dann beendet sein wird, wenn nichts mehr übrig ist, die Menschen weder wissen von wem sie abstammen, noch was 200 Jahre zuvor gewesen ist. Falls wir irgendetwas retten, dann bleibt etwas übrig, das nicht für das Werk von Titanen gehalten wird. Demnach wäre die Zivilisation dann nicht zu Ende. Diese beiden Ideen widersprechen sich.

Gruß,
Shiro


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