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Fragmente aus verlorenen Tagen... (Freie Themen)

Meri, Sonntag, 03.01.2020, 02:03 (vor 1202 Tagen) @ Fenrizwolf (913 Aufrufe)

Guten Abend im neuen Jahr!

Herzlichen Dank für den Faden, Fenrizwolf.

Bin ja eher eine Zaungästin, die lieber still mitliest, aber zwei Gedichte von den mir sehr geschätzten Rilke möchte ich hier gerne (mit)teilen: das erste zum neuen Jahr und das zweite ganz allgemein, weil ich dabei immer an dieses Forum denken muss, bzw. an den einen oder anderen interessanten Beitrag hier...

Wie ist doch alles weit ins Bild gerückt...

Wie ist doch alles weit ins Bild gerückt.
Wir staunens an und nennen es: das Wahre.
Und wandeln uns mit ihm im Gang der Jahre.
Und doch ist unsichtbar, was uns entzückt.

Nimm es als Zeichen, nimm es als Beweis -

Drum sorge nicht, ob du etwa verlörst,
dein Herz reicht weiter als die letzte Ferne,
wenn du dich selber selig singen hörst,
so singt die Welt, so jubeln deine Sterne.

Rainer Maria Rilke


Fragmente aus verlorenen Tagen...

....Wie Vögel, welche sich gewöhnt ans Gehn
und immer schwerer werden, wie im Fallen:
die Erde saugt aus ihren langen Krallen
die mutige Erinnerung von allen
den großen Dingen, welche hoch geschehn,
und macht sie fast zu Blättern, die sich dicht
am Boden halten, -
wie Gewächse, die,
kaum aufwärts wachsend, in die Erde kriechen,
in schwarzen Schollen unlebendig licht
und weich und feucht versinken und versiechen, -
wie irre Kinder, - wie ein Angesicht
in einem Sarg, - wie frohe Hände, welche
unschlüssig werden, weil im vollen Kelche
sich Dinge spiegeln, die nicht nahe sind, -
wie Hülferufe, die im Abendwind
begegnen vielen dunklen großen Glocken, -
wie Zimmerblumen, die seit Tagen trocken,
wie Gassen, die verrufen sind, - wie Locken,
darinnen Edelsteine blind geworden sind, -
wie Morgen im April
vor allen vielen Fenstern des Spitales:
die Kranken drängen sich am Saum des Saales
und schaun: die Gnade eines frühen Strahles
macht alle Gassen frühlinglich und weit;
sie sehen nur die helle Herrlichkeit,
welche die Häuser jung und lachend macht,
und wissen nicht, dass schon die ganze Nacht
ein Sturm die Kleider von den Himmeln reißt,
ein Sturm von Wassern, wo die Welt noch eist,
ein Sturm, der jetzt noch durch die Gassen braust
und der den Dingen alle Bürde
von ihren Schultern nimmt, -
dass Etwas draußen groß ist und ergrimmt,
dass draußen die Gewalt geht, eine Faust,
die jeden von den Kranken würgen würde
inmitten dieses Glanzes, dem sie glauben. -
...... Wie lange Nächte in verwelkten Lauben,
die schon zerrissen sind auf allen Seiten
und viel zu weit, um noch mit einem Zweiten,
den man sehr liebt, zusammen drin zu weinen, -
wie nackte Mädchen, kommend über Steine,
wie Trunkene in einem Birkenhaine, -
wie Worte, welche nichts Bestimmtes meinen
und dennoch gehn, ins Ohr hineingehn, weiter
ins Hirn und heimlich auf der Nervenleiter
durch alle Glieder Sprung um Sprung versuchen, -
wie Greise, welche ihr Geschlecht verfluchen
und dann versterben, so dass keiner je
abwenden könnte das verhängte Weh,
wie volle Rosen, künstlich aufgezogen
im blauen Treibhaus, wo die Lüfte logen,
und dann vom Übermut in großem Bogen
hinausgestreut in den verwehten Schnee, -
wie eine Erde, die nicht kreisen kann,
weil zuviel Tote ihr Gefühl beschweren,
wie ein erschlagener verscharrter Mann,
dem sich die Hände gegen Wurzeln wehren, -
wie eine von den hohen, schlanken, roten
Hochsommerblumen, welche unerlöst
ganz plötzlich stirbt im Lieblingswind der Wiesen,
weil ihre Wurzel unten an Türkisen
im Ohrgehänge einer Toten
stößt....

Und mancher Tage Stunden waren so.
Als formte wer mein Abbild irgendwo,
um es mit Nadeln langsam zu misshandeln.
Ich spürte jede Spitze seiner Spiele,
und war, als ob ein Regen auf mich fiele,
in welchem alle Dinge sich verwandeln.

Rainer Maria Rilke

Gruß
Meri


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