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Entwicklung des Prophezeiungskanons (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Dienstag, 31.12.2020, 10:15 (vor 1571 Tagen) @ IRAN (2190 Aufrufe)

Hallo!

Vielleicht ist diese Argumentation der Schärfe der Diskussion geschuldet. Dann erübrigt sich natürlich eine Beantwortung meiner Frage.

Natürlich ist es das. Ich habe das über die Jahre vielfach ausgewälzt. Eine Antwort erübrigt sich dennoch nicht.

Es würde mich interessieren, woher die Sicherheit für diese Aussage stammt. Gibt es vielleicht irgendwelche Prophezeiungen, die keine Fakes sind und Frieden versprechen? Die Argumentation ist ja in etwa so: Ein russischer Feldzug gegen Europa wird von Prophezeiungen vorausgesagt. Prophezeiungen sind allesamt Fälschungen und Lügen. Daher wird es keinen Krieg gegen Europa geben.

Der Prophezeiungskanon folgt im wesentlichen einer Dramaturgie, die seit Anbeginn der Christenheit unverändert ist. Allenfalls kamen Elemente hinzu und Namen, Orte, Detailabläufe änderten sich der Zeit und dem Ort der Abfassung entsprechend. Die groben Akte des Dramas:

  • Abfall vom wahren Glauben
  • Auftreten und Herrschaft des Widersachers
  • Verfolgung der wenigen wahren Gläubigen
  • Auftreten des Messias und seiner Gehilfen
  • irgendeine Form des Endkampfes
  • Strafgericht durch göttliches Eingreifen
  • goldene Zeit oder Gottesreich

Das läßt sich von den Aussagen des Neuen Testaments bis zu den jüngsten Prophezeiungen verfolgen, die plötzlich irgendwo im Internet auftauchen. Auch jedes Prophezeiungsbuch, das eine Vielzahl Quellen synthetisch zusammenführt, entspricht dieser Dramaturgie. Nehmen wir etwa DeGards Armageddon:

  • Vorzeichen
    • gesellschaftlicher Verfall, Wirtschaftskrise, Bürgerkrieg (alles Folgen des Abfalls von der Religion, die auf uns zurückfallen)
    • Rückkehr des Kommunismus (antichristliche Macht)
    • Papstflucht aus Rom (weil die Russen dort einmarschierten. Im Mittelalter wurde Rom noch ohne das russische Element Hauptsitz des Antichristen für 36 Monate.)
  • Der 3. Weltkrieg
    • Überraschungsangriff aus dem Osten
    • Aufhalten der Bösen durch den Großen Monarchen in einer Endschlacht in Westfalen (natürlich kommt kein Russe mehr heim, damit die russischen Mütter auch ihr Fett wegbekommen.)
  • Naturkatastrophen
    • Feuer fällt vom Himmel (jedenfalls irgend etwas von "oben")
    • dreitägige Finsternis (als Spiegelbild der drei Tage bis zur Auferstehung Jesu)
    • "Staubtod", Luftmangel, Dämonen vor der Türe (alles, um die Unvorbereiteten bzw. Ungläubigen auszumerzen)
  • Die Zeit danach
    • Rückkehr des Papstes
    • Reformen der Gesellschaft und Renaissance des Christentums unter dem christlichen Weltkaiser
    • tausendjähriges Friedensreich

Der große Endkampf fand in den frühen christlichen Quellen noch im Heiligen Land statt, weil Europa noch nicht christianisiert war! Die Feinde waren die Völker Gog und Magog, die irgendwo aus dem Inneren Asiens hinter dem Kaukasus nach Süden hervorbrechen und bei Armageddon geschlagen werden sollten. Der Widersacher in Jerusalem würde ausgemerzt und die Welt christlich werden. Mit Verlagerung des kulturellen Schwerpunktes und Ausbreitung des Christentums nach Europa zog auch der christliche Prophezeiungskanon mit, und die Völker übertrugen die Endzeitdramaturgie auf ihre eigenen Umstände. Man müßte hier noch Byzanz als Zwischenschritt einfügen, wo bereits Kaiserprophetien entstanden, die wie Pseudomalachias Mottolisten waren und einen Endzeitkaiser als Christi Handlanger prophezeiten.
Gog und Magog kamen in Europa nun nicht mehr aus dem Norden, sondern aus dem Osten. Man identifizierte sie zunächst als Mongolen, Türken, schließlich als die Russen. Die Endschlacht fand nicht mehr bei Armageddon statt, sondern am Rhein und in Westfalen. Der Endzeitkaiser wurde ein "Großer Monarch", der vom Papst zum Kaiser gekrönt werden müsse, um die christlichen Weihen zu erlangen. Als Element aus der älteren Stufe der Endzeitdramaturgie erhielt sich in älteren europäischen Prophezeiungen, daß der Kaiser am Ende ins Heilige Land ziehe und dort auf Golgatha seine Krone an den Baum hänge, um dem wiedergekehrten Jesus den Thron freizumachen. Das war natürlich einfacher, als die ganze Sache noch in Palästina stattfinden sollte. ;-)

Es geht eigentlich nicht um die Frage, welche Prophezeiungen gefälscht oder echt wären. Das erübrigt sich, wenn man erkennt, daß alle Prophezeiungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der europäischen Geschichte erschienen, lediglich das große Endzeitdrama mit seinen wesentlichen Punkten auf den zeitgenössischen Stand brachten, indem ältere Prophezeiungen umgeschrieben und der Gegenwart angepaßt wurden. Es gibt gar keine "echten Prophezeiungen", wenn man als "echt" definiert, daß sie auf echten Visionen basierten. Das ist bei keiner Prophezeiung der Fall mit der geringfügigen Einschränkung, daß die Autoren vereinzelt mal echte Schauungen haben einfließen lassen könnten, die ihnen zufällig bekannt wurden.
Es wäre auch verkürzt und sachlich falsch, in all diesen Fällen von miesem Luge und Betruge zu sprechen. Autoren und Leser dieser Prophezeiungen waren und sind überwiegend gut- und leichtgläubig und nehmen es der übergeordneten richtigen Sache wegen mit der Quellenkunde und Validierung des Ursprungs der Aussagen nicht so genau. Ein Teil der Autoren befindet es (der typischen Doppelmoral von Frömmlern entsprechend) offenbar nicht als falsch, für die Glaubenssache zu lügen, indem man Prophetenpersonen schlicht erfindet. Nur der geringere Teil waren und sind wohl Betrüger, die von der Leichtgläubigkeit der Schafe profitieren wollen.

Man muß schlicht von dem irrigen Glaubenssatz wegkommen, daß Prophezeiungen aus dem christlichen Kulturkreis per se echtes Zukunftswissen enthielten, nur weil die Texte es selbst von sich behaupten und es von den Überlieferern mit Inbrunst des Glaubens behauptet wird. Der Kanon spiegelt allein die Endzeiterwartungen der Christen wider, die durch Gläubige von der frühen Naherwartung der Wiederkehr Jesu über Jahrhunderte zu epischer Breite erweitert und immer auf dem neuesten Stand gehalten wurden.

Wenn also bei Antonius von Aachen, Adl-/Irlmaier, Erna Stieglitz und Konsorten der russische Feldzug mit militärischen Details ausgebreitet wird, spricht das keinesfalls für die Echtheit der Aussagen. Es ist vielmehr die Übertragung der älteren Prophezeiungen auf die Verhältnisse des 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn im Rahmen des russischen Feldzuges, der ein Echo der Gog-Magog-Geschichte ist, bei Adl-/Irlmaier als neues Element der "gelbe Strich" auftaucht, ist das mitnichten eine echte Seherschau, sondern eine Erfindung, die das endzeitliche Schlachtgeschehen durch das profanisierte Element des "Eingriffs von oben" ergänzt. Statt eines göttlichen Fingers findet man in unserer Zeit das technische Eingreifen eines nicht näher bezeichneten überlegenen Akteurs durch Drohnen und Wunderwaffen mit "blitzeschleudernden Maschinen". Das ist lediglich Anpassung an das Zeitkolorit.

Es hat in diesem Lichte keinen Sinn, die Gegenwart zu analysieren und sich passende Quellen über die Verschärfung des Verhältnisses zu Rußland oder Neuentwicklungen im Militärsektor herauszusuchen, um die Annäherung des russischen Feldzuges zu untermauern. Man bildet hierbei nur Scheinkorrelationen, weil man vom Dogma der pauschalen Richtigkeit der Prophezeiungen ausgehend sich die Geschehnisse der Gegenwart auf das Prophezeiungsszenario passend zurechtlegt. Völlig gleichgültig, was geschähe, würde man durch die Brille dieses Glaubenssatzes im Zeitgeschehen immer irgend etwas finden, was das Näherrücken des Eintretens der Prophezeiungen anzeigen würde. So war es seit Jahrhunderten. Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte waren ausgerechnet in der jeweiligen Gegenwart die letzten Vorzeichen gerade am Eintreffen. Der unerschütterliche Glaube an das christliche Endzeitszenario in der jeweils aktuellen Fassung in Verbindung mit der Naherwartung ist die Konstante, mit der sich der Prophezeiungskanon als sich selbst erhaltendes Glaubenssystem perpetuummobileartig fortspinnt. Er spiegelt immer die Gegenwart wider, scheint immer kurz vor der Erfüllung zu stehen, trifft aber nie ein. Statt dessen formt jede Generation ihre eigene Fassung der "großen Weissagung", die dann von der nächsten aufgegriffen und weiter aktualisiert wird.

An dieser Stelle wird hoffentlich klar, warum es so wichtig ist, zwischen Prophezeiungen und Schauungen zu unterscheiden. Das Prophezeiungsszenario ist zwar falsch, das Phänomen der Präkognition existiert aber nach wie vor. Es gibt echte Schauungen jedenfalls im persönlichen Bereich und – anhand sehr weniger Beispiele belegt – offenbar auch auf der Ebene des Weltgeschehens. Entsprechend sind Elemente des Prophezeiungsszenarios zu identifizieren und konsequent herauszukürzen, während man in älteren Texten nach mutmaßlich echten Schauungselementen sucht und Träume & Visionen heute lebender Menschen sammelt und qualitativ auswertet.
Leider kommen wir in diesem Prozeß offenbar nie über die sich immer wiederholende Grundsatzdiskussion hinaus, weil wieder jemand ankommt, um mit vergeblicher Liebesmühe das Prophezeiungsszenario zu retten.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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