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Pro/contra Daniel (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Dienstag, 23.10.2018, 12:00 (vor 1984 Tagen) @ Filmegucker (3172 Aufrufe)

Hallo!

Ich weiß, dass viele hier nicht religiös sind oder religiöse Schriften wie die Bibel grundsätzlich ablehnen.

Weit gefehlt. Diesem Vorurteil unterliegen meines Erachtens viele, die Religiosität einengend mit Glauben an die Schrift gleichsetzen und umgekehrt schließen, wer nicht jedes Bibelwort (oder zumindest die als zentral erachteten Teile) für wahr nehme, der könne ja wohl auch nicht an Gott glauben.
Nachdem die Bibel aber nichts weiter ist als ein Konglomerat von Menschen niedergeschriebener Texte, kann mit einer Bibelkritik gewiß nicht das transzendente Bereich der Welt an sich widerlegt werden. Mir scheint fast, man kann sich diesem überhaupt nur annähern, wenn man die Schwelle mechanischer Schriftgläubigkeit hinter sich gelassen hat und nicht darauf als eine "Anleitung" zurückgreifen muß, die einem die Welt vorstrukturiert, dabei aber alle in der Bibel enthaltenen menschlichen Irrtümer und Wahrheiten unterschiedslos vermengt.
Auch, daß wir die Bibel "grundsätzlich" ablehnten, halte ich für ein anklagendes Vorurteil Bibelgläubiger, die Kritik an der Bibel ins Extrem überhöhen, um sie in den Augen anderer lächerlich zu machen.

Gott an die Bibel zu binden, halte ich für einen wesentlichen Klumpfuß des abendländischen Christentums. Nachdem ein Schriftwerk, dessen göttlicher Ursprung lediglich behauptet wird, aber in keiner Weise belegbar ist, zwangsläufig einer rationalen Kritik überhaupt nicht entzogen werden kann (allenfalls über oktroyierte und gewaltsam geschützte Denkverbote), mußte diese reduktionistische Religiosität in einer rationalistischen Spätzeit ja quasi unterliegen. Sie kann allein auf Bibelgrundlage keine Argumente anführen, die über den rationalistischen Zugriff hinauswiesen.

Entsprechend führt der "Gegenkritiker" auf dieser Seite (die ich mir beispielhaft herausgreife, da Google sie bei der Suche nach "Buch Daniel Fälschung" an oberster Stelle ausspuckt) als erstes einen Hieb gegen den Rationalismus mit dem Argument: "Das Konzept eines realen Gottes, der die Geschichte unter seiner Kontrolle hat und der den Menschen sagt, wie sie leben sollen, ist für die meisten absolut unakzeptabel."

Damit macht er aber sein Gottesbild unnötigerweise von der Echtheit Daniels abhängig, laut welchem Gott über die Geschichte der Menschen Gewalt ausübe und ihnen sage, wie sie leben sollten. Von diesem Axiom ausgehend ist er einer Kritik grundsätzlich nicht zugänglich, kann sie aber auch nicht widerlegen, weil er nur seinen Glauben als selbstbezügliches Postulat ins Feld führen kann. Er ist zudem einem naiven persönlichen Gottesbild vorkultureller Wüstennomaden ausgeliefert, in dem Gott als handelnde Person auftritt und sich über Zeichen äußert. Das weiterentwickelte, sehr viel vernünftigere Gottesbild, in dem er als ein die Welt unpersönlich durchwirkender "Logos" erscheint und das mit Wissenschaft und Rationalität durchaus vereinbar ist, ist ihm fremd. In einem solchen Gottesbild ist überdies unerheblich, ob Daniel eine Fälschung ist.

Der zweite Klumpfuß des Christentums ist wohl die übernahme des primitiven alttestamentarischen Gottesbildes, dem man die Evangelien lediglich als Ergänzung angehängt hätte.

In einem ersten Punkt, um das Argument historischer Ungenaugikeit zu widerlegen, führt der Autor obigen Artikels an: "Viele der Vorwürfe historischer Ungenauigkeit im Buch Daniel fußen auf fehlenden archäologischen Beweisen, die Daniels Aussagen untermauern würden. Aufgrund des gegenwärtigen rationalistischen Denkens wird die Bibel, wie andere historische Dokumente, so lange als suspekt betrachtet, bis anerkannte Beweise vorliegen. [...] Das bloße Fehlen archäologischer Funde beweist nicht, dass ein in der Bibel beschriebenes Ereignis nicht stattgefunden hat."
Zum einen setzt er hier im Sinne meines eingangs beschriebenen Kurzschlusses Kritik an Daniel mit Kritik an der Bibel insgesamt gleich, weil er dogmatisch gezwungen ist, die Bibel als Gotteswort im Gesamtpaket zu glauben. Einzelne Teile dürften nicht entfernt werden, weil sonst das mühsam und notdürftig zusammengezimmerte Gesamtgebäude wackelt.
Zum anderen kann er, wie bereits erwähnt, den Glauben an Daniel nur als selbstbezügliches Argument für Daniel anführen. Es ist wahr, weil es wahr ist. Freilich ist mangels unabhängiger historischer Belege für die Existenz Daniels gleichsam kein rationaler historischer Beweis für seine Echtheit führbar. Der Autor ist gezwungen, einen Feldzug gegen die Wissenschaft zu führen, um seine unzureichende Religiosität zu retten und die Echtheit Daniels als "credo, quia absurdum est" zu postulieren.

Im übrigen wäre nachgewiesene historische Genauigkeit des Danieltextes mitnichten ein schlüssiges Argument für seine Echtheit, weil ein Fälscher um 164 v. Chr., der gewiß größere Kenntnis seiner eigenen Geschichte hatte als wir heute, problemlos ihm bekannte historische Tatsachen in sein Machwerk einfließen lassen konnte. Daß im 19. Jahrhundert eine Inschrift mit dem Namen "Belsazar" entdeckt wurde, beweist lediglich, daß auch einem Fälscher diese Person bekannt gewesen sein konnte.

Sein sprachliches Argument, daß auch im 6. Jahrhundert v. Chr. griechische Wörter in einem Danieltext hätten verwendet werden können, ist nicht stichhaltig, da aus dieser Zeit kein originärer Danieltext erhalten ist und der vorhandene Danieltext z. B. eine jüngere aramäische Sprachform verwendet. Daniel muß also erheblich jünger sein als Jeremia (Lebenszeit 585 v. Chr., Textentstehung in mehreren Schritten wohl bis zum 2. Jahrhundert v. Chr.) und Esra (Lebenszeit 458 v. Chr., Textentstehung 400 v. Chr.). In der Zeit der griechischen Diadochenreiche konnten natürlich auch griechische Fremdwörter Verbreitung finden.
Des Weiteren führt er an, daß laut dem 1. Buch der Makkabäer im Jahre 166 v. Chr. Mattathias Daniel als einen der "Vorfahren" anführte, was wohl kaum möglich wäre, wenn Daniel erst 165/164 v. Chr. verfaßt worden wäre. Dabei übersieht oder unterschlägt er, daß das 1. Buch der Makkabäer selbst erst 104 v. Chr. verfaßt wurde. Vergleichbares gilt für das Buch Hesekiel, in dem ein Daniel erwähnt wird, wobei Hesekiels älteste Textfassung als Teil der Septuaginta und des masoretischen Textes ebenfalls erheblich jünger ist. Es scheint, Bibelgläubige neigen naiverweise dazu, die Handlungszeit der Geschichten mit der Entstehungszeit der Bücher selbst gleichzusetzen. Das wäre ein fundamentaler Mangel an Textkritik, der freilich vor dem Hintergrund verständlich ist, daß man die Bibel als authentisches und unverfälschtes Gotteswort betrachten muß.
Dann schreibt er, daß Flavius Josephus im 1. Jahrhundert n. Chr. Daniel als vor der Ankunft Alexanders des Großen in Jerusalem existent angesehen habe. Das ist natürlich kein Argument für das Alter Daniels, sondern belegt lediglich, daß man im 1. Jahrhundert weder den ursprünglichen Bezug des Textes auf Antiochos IV. Epiphanes, noch seine eigentliche Entstehungszeit kannte. Nur von diesen Irrtümern ausgehend ist erklärlich, warum Johannes von Patmos ebenfalls die Danielfälschung als vermeintliches Zukunftswissen verwertete. Nicht weiter verwunderlich ist dem entsprechend, daß Daniel bei der Kanonisierung der Heiligen Schrift nicht mehr in Frage stand.

Es führt meines Erachtens kein Weg daran vorbei, bei Bibeltexten das selbe Maß an Textkritik walten zu lassen wie bei allen anderen, jüngeren Prophezeiungen. Es überlagern sich darin logischerweise stets mehrere Überlieferungsschichten, spätere Bearbeitungen und menschliche Irrtümer, die auf zeitgenössischen falschen Grundannahmen beruhen. Die Bibel ist kein über jeden Zweifel erhabenes Gotteswort, was aber nicht umgekehrt bedeutet, daß sie von Vornherein pauschal für die Tonne wäre.

Auf keinen Fall möchte ich jemanden von der Richtigkeit meiner These überzeugen, sondern sie in den Raum stellen, damit bei dem Streben nach Erkenntnis kein Aspekt unberücksichtigt bleibt.

Meines Erachtens überlagern sich hier mehrere irrige Auffassungen:
1. Das Buch Daniel wäre alt. Tatsächlich gibt es wohl kein schlüssiges Argument, das auf eine Entstehungszeit vor Antiochos IV. Epiphanes († 164 v. Chr.) hinweist. Die obige Seite habe ich allerdings nur beispielhaft herausgegriffen, da ich keinen Überblick habe, welche Argumentationsmuster im Laufe der Zeit für Daniel bemüht wurden.
2. Das Buch Daniel wäre prophetisch und bezöge sich auf eine Zeit nach Antiochos IV. Epiphanes. In der Tat könnte man es getrost als bereits eingetroffen betrachten, selbst wenn Daniel tatsächlich 539 v. Chr. gelebt hätte und ein authentischer Prophet gewesen wäre. Alle heutigen Deutungen basieren darauf, daß man zur Zeit der Abfassung des Neuen Testaments den eigentlichen Ursprung Daniels und seinen eigentlichen Inhalt schon nicht mehr verstand und ihn irrig für echt hielt.
3. Die auf der christlichen Endzeitmythologie basierende Auffassung, daß in der Endzeit aus dem Inneren Asiens stammende antichristliche Mächte und Heerscharen (Gog und Magog) sich ausbreiteten. Damit war ursprünglich eine Region nördlich des jüdischen Siedlungsgebietes, in der Kaukasusregion gemeint (Mesech und Thubal), von wo sie noch beim syrisch-christlichen Pseudomethodius im 7. Jahrhundert kommen sollten. Im christlichen Abendland wurden daraus zunächst die Türken, dann die Russen, die sich vehement als Bösewichter in der jüngeren Prophetie halten, nicht aufgrund echter Präkognition, sondern glaubensmäßiger Zuschreibung. Als das Motiv entstand, tummelten sich im späteren Rußland noch Skythen. Seitdem werden parallel zur immer weiteren Aufschiebung der Endzeit wechselnde Völkerschaften als Gog und Magog, welchselnde Machthaber als Antichrist bezeichnet. Man sollte aber erkennen, daß es sich (wie ich schon oft ausführte) um ein bloßes Glaubensmotiv der jüdischen Frühchristen handelte, das eine mythische Erwartung widerspiegelt, aber kein verläßliches Zukunftswissen darstellt.

So erscheint Rußland auf Grundlage der die Danielfälschung verbeitenden Johannesoffenbarung als das Tier, dem die Macht übergeben wird.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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