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Retrokognition, Wissenschaft und Religion (Freie Themen)

Taurec ⌂, München, Montag, 30.04.2018, 11:01 (vor 2181 Tagen) @ らんま (3496 Aufrufe)

Hallo!

eFisch sagt in dem Zitat ganz klar, daß er seine Vision nach dem Raketenangriff hatte. Es handelt sich dabei um eine retrokognitive Schau. Das daran Wesentliche dürfte die Wesenheit sein, die Erklärungen zur Szene lieferte. Worin läge der Sinn einer retrokognitiven Schau, erhielte man dadurch nicht zusätzliche Erklärungen zum Geschehenen?

Die Problematik bei "retrokognitiven Schauungen" ist noch prekärer als bei präkognitiven Schauungen. Letztere lassen sich durch spätere Prüfung mit dem tatsächlichen Verlauf wenigstens verifizieren. Retrokognition zu aus den Nachrichten bekannten Ereignissen ist de facto von Verarbeitung bzw. Verarbeitungsträumen mit phantasievollem Zusatz nicht zu unterscheiden. Wie ließe sich ausschließen, daß diese "Wesenheit" nicht eine Manifestation eFischs Unbewußten wäre, die ihm lediglich seine eigenen Überlegungen mitteilte?

Einer retrokognitiven Schau kann man nur dann einen Sinn unterstellen, falls sie noch unbekannte Informationen über das bereits Geschehene liefert.

Das Problem liegt wie gesagt in der Feststellung, ob es sich überhaupt um eine retrokognitive Schau handelt.
Die bloße Unterstellung, es wäre eine, woraufhin man einen Sinn hineinliest, dessen Vorhandensein man erwartet, macht sie noch nicht echt. Es stellt vielmehr einen sich selbst bestätigenden Zirkelschluß dar.
Der Nachweis wird um so schwieriger, wenn die Zusatzinformation nicht aus überprüfbaren Tatsachen besteht, sondern aus politischen Hintergründen, die der Spekulation zugänglich sind und sich nie abschließend beweisen lassen.

Im Prinzip funktioniert Wissenschaft so und unterscheidet sich dadurch von Religion.

Auch in Antwort hierauf.

Wissenschaft und Religion sind innerlich hinsichtlich des Weltzugangs identisch, wenngleich Methoden und Ergebnisse sich im Detail unterscheiden.
Das wird klar, wenn man (an Spengler anknüpfend) die weiter gefaßte Perspektive der Lebensformen betrachtet. Dem ist zu unterscheiden zwischen "Burg und Dom", was heißt:
Burg: Die politische, auf das Diesseits ausgerichete Seite des Lebens, der Zweck Erfolg und Überleben sind. Hier zählen Pragmatismus, Tatsachen und die Tat. Die Dinge sind entweder richtig oder falsch, weil sie entweder funktionieren oder nicht.
Dom: Die geistliche, auf das Jenseits bzw. eine umfassende, ganzheitliche Welterklärung und Auslegung angelegte Seite des Lebens. Hier geht es um die metaphysische Verwurzelung und Eingliederung des Daseins in den größeren Schöpfungszusammenhang, also um die Sinnfrage. Die Dinge sind hier gut oder böse, weil sie entweder mit den göttlichen Gesetzen übereinstimmen oder nicht. Das Denken und die Wahrheitsfindung sind eindeutig dieser Seite zugeordnet. Man begehe nicht den Fehler, der Religion mit Glauben und Fühlen schlechthin gleichzusetzen und dem die vermeintlich auf Denken fixierte Wissenschaft entegegenzusetzen. Ein wesentlicher Sinn der Priesterschaft, ihrer Theologie und dem Dogmatismus ist das Ergründen der göttlichen Wahrheit, bzw. was Gott will. Hierfür hat die abendländische Theologie eine der scharfsinnigsten Denktraditionen entwickelt, die sich z. B. im Heiligsprechungsprozeß mit seinen advocati dei et diaboli widerspiegelt. Die abendländische Wissenschaft hat sich im Wesentlichen in dem universitären Umfeld entwickelt, an dem auch diese Denkschulen (insbesondere die Scholastik) gepflegt wurden. Sie ist im Grunde eine bloße Abzweigung mit abgewandelten Themenschwerpunkten, deren Zielsetzung und Methodik der verstandesmäßigen Zerlegens aber nicht weniger der Suche nach der Wahrheit dient. Wenn Wissenschaft und Religion in Konflikt geraten, dann nicht, weil sie unvereinbar wären, sondern weil sie denselben Acker bestellen, aber bisweilen zu gegensätzlichen Behauptungen kommen.
Der in der Moderne immer wieder bemühte Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion wäre überhaupt nicht möglich, sondern absolut absurd, wenn beide nicht im Inneren identisch wären. Ihr Anspruch und ihre Methoden müssen sich in Kernpunkten überschneiden und einander entsprechen, um sie überhaupt in irgendeiner Form gegeneinander ausspielen zu können.
Wissenschaftler in ihrem Überlegenheitsdünkel wähnen wohl nicht selten, sie hätten die Religion überwunden, die Menschheit befreit und würden nun endlich valide Ergebnisse (oder glaubenswürdige Wahrheiten) liefern. Allerdings muß ich sie da enttäuschen. Sie sind nur alter Wein in neuen Schläuchen.

In unserer Zeit haben sich die Begriffe verschoben. So hat die Religion an Bedeutung verloren und die Wissenschaft (nur ein anderes Wort für Religion) ist weitgehend an ihre Stelle getreten. Statt dem Papst tendiert eine Mehrheit dazu, Hawkings Aussagen über die Entstehung des Universums (nur eine andere Formulierung der Gottesfrage) und Dawkins Aussagen über die Evolution (nur eine anderer Ausdruck für Schöpfung) zu glauben. Es handelt sich aber um höchstgradig religiöse Fragen, die nun unter den Axiomen und Methoden der wissenschaftlichen Denkschule bearbeitet werden.

Darüber hinaus hat die Wissenschaft natürlich auch einen politischen Aspekt. Dieser äußert sich darin, daß die mit wissenschaftlichen Methoden entwickelten technischen Anwendungen einen stark pragmatischen Charakter aufweisen und zur Beeinflussung der Welt und der Natur herangezogen werden können. Die Technik ist eine Erscheinungsform der Politik. Technik ist diesseitig. Es gibt eine Technik der Diplomatie und eine des Kriegsführens usw.
Entsprechend hatte auch die christliche Religion eine politische Seite, die sich in allen Machtfragen der kirchlichen Vorherrschaft äußert. Anders hätte die Kirche als politischer Faktor, der sozusagen eine eigene dynastische Politik betrieb, im Mittelalter gar nicht in Erscheinung treten können.

Nicht zuletzt weist die heutige Politik einen stark religiösen Chrakter auf, insofern sie nicht von Pragmatismus, sondern Ideologien und Utopien gelenkt wird. Diesen liegen natürlich Axiome über die Beschaffenheit der Welt, also der Wahrheit zugrunde, aus denen man Handlungsweisen ableitet. Was der Durchschnittsmensch heute als Politik bezeichnet, wenn die Parteipolitik sieht, hat nicht im geringsten noch etwas damit zu tun, was Politik noch zu Zeiten Bismarcks bedeutete. Die ganze Demokratie, wie sie heute gehandhabt wird, ist eine religiöse Idee.

Man könnte sagen, daß wir heute stärker als je in einem religiösen Zeitalter leben, weil die "Domseite" des Lebens heute in sehr hohem Maße sogar die Politik beeinflußt, während kühler Tatsachensinn und Handlungsorientierung überall auf dem Rückzug zu sein scheinen.

Man muß sich also von den oberflächlichen Begrifflichkeiten (Religion, Wissenschaft, Politik, Ideologie) trennen und die Frage stellen, welche Herangehensweise an die Welt, welche Lebensausrichtung und welche Vorgehensweisen (denkerisch, handelnd) jeweils zugrundeliegen. Geht es um die Begründung und Verteidigung allgemeingültiger Wahrheiten, die für alle Zeit (oder die Ewigkeit) Gültigkeit haben sollen, oder um Fragen der Selbstbehauptung mit Handlungsorientierung, worin die Bewertung der Dinge situationabhängig durchaus verschieden ausfallen kann, insofern – anders als religiöse und wissenschaftliche Aussagen – keine Allgemeingültigkeit anstrebt.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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