OT Angelesenes (Freie Themen)

Hinterbänkler, hinterm Wald im Emmental, Samstag, 10.03.2018, 16:34 (vor 2211 Tagen) @ Fenrizwolf (2240 Aufrufe)

Fenrizwolf, in diesem Moment und weil ich dich nicht kenne nur Angelesenes ...
Dir alles Gute!

Mit Sympathie
Hinterbänkler

----------------

[...]
Wenn das Bewußtsein eines Zauberers von der Wucht seiner
Wahrnehmungen bedrückt werde, wie es nun mir widerfuhr, sei es
das beste - oder vielleicht sogar einzige - Heilmittel, sagte er, die
Vorstellung des Todes zu nutzen, um sich diesen Pirscher-Schock
zu versetzen.
»Die Vorstellung des Todes ist darum von unermeßlicher Bedeutung
im Leben eines Zauberers«, fuhr Don Juan fort. »Ich habe dir
unendlich viel über den Tod erzählt, um dich zu überzeugen, daß
die Kenntnis von unserem drohenden und unvermeidlichen Ende
uns Besonnenheit gibt. Unser kostspieligster Fehler als normale
Menschen ist, daß wir uns einem Gefühl der Unsterblichkeit hingeben.
Es ist, als könnten wir uns vor dem Tod schützen, indem
wir nicht an ihn denken.«
»Du mußt doch zugeben, Don Juan, daß das Nichtdenken an den
Tod uns gewiß davor bewahrt, uns seinetwegen Sorgen zu machen.
«
»Ja, diesen Zweck erfüllt es«, räumte Don Juan ein. »Aber solch
ein Zweck ist schon eines Durchschnittsmenschen unwürdig - für
einen Zauberer ist er ein Hohn. Ohne eine klare Vorstellung vom
Tod gibt es keine Ordnung, keine Besonnenheit, keine Schönheit.
Die Zauberer streben nach dieser Einsicht, die ihnen mit tiefster
Klarheit zu erkennen helfen soll, daß sie keinerlei Gewißheit haben,
ob ihr Leben über den Augenblick hinaus andauern wird.
Diese Erkenntnis gibt Zauberern den Mut, geduldig zu sein und
dennoch zu handeln; den Mut, sich in ihr Schicksal zu fügen, ohne
deshalb dumm zu sein.«
Don Juan sah mich lange an. Er lächelte und schüttelte den
Kopf.
»Ja«, fuhr er fort. »Die Vorstellung des Todes ist das einzige, was
den Zauberern Mut geben kann. Seltsam, nicht wahr? Sie gibt den
Zauberern Mut, listig zu sein, ohne eingebildet zu sein, und vor
allem gibt sie ihnen Mut, rücksichtslos zu sein, ohne überheblich
zu sein.«
Wieder lächelte er und gab mir einen Rippenstoß. Ich sagte ihm,
daß ich völlig verängstigt sei durch die Vorstellung meines Todes,
daß ich pausenlos an ihn dächte, daß sie mir jedoch absolut keinen
Mut mache oder mich gar zum Handeln ansporne. Sie mache mich
lediglich zynisch und lasse mich in tiefste Melancholie versinken.
»Dein Problem ist ganz einfach«, sagte er. »Du bekommst leicht
Zwangsvorstellungen. Ich habe dir immer wieder gesagt, daß die
Zauberer sich selbst anpirschen, um die Macht ihrer Zwangsvorstellungen
zu brechen. Es gibt viele Arten, sich selbst anzupirschen.
Wenn du die Vorstellung deines Todes nicht nutzen willst,
um dich selbst anzupirschen, dann nutze eben die Gedichte, die du
mir manchmal vorliest.«
»Wie bitte?«
»Ich habe dir doch erzählt, daß ich Gedichte aus vielen Gründen
liebe«, sagte er. »Mit ihrer Hilfe pirsche ich mich selbst an. Mit
ihrer Hilfe versetze ich mir einen Schock. Ich höre zu, und während
du vorliest, schalte ich meinen inneren Dialog ab und lasse
meine innere Stille sich entfalten. Das Zusammenwirken des Gedichts
mit der Stille versetzt mir dann den Schock.«
Die Dichter, erklärte er, sehnen sich unbewußt nach der Welt der
Zauberer. Weil sie keine Zauberer auf dem Pfad der Krieger sind,
ist diese Sehnsucht das einzige, was sie haben.
»Sehen wir mal, ob du spürst, wovon ich spreche«, sagte er und
reichte mir einen Gedichtband von Jose Gorostiza.
Ich schlug beim Lesezeichen auf, und er deutete auf das Gedicht,
das er liebte.

... dieses unaufhörliche beharrliche Sterben,
dieser lebendige Tod
der dich mordet, o Gott,
in deinem unerbittlichen Werk,
in den Rosen, in den Steinen,
in den unbezwingbaren Sternen
und in dem Fleisch, das niederbrennt
wie ein Freudenfeuer, entzündet durch ein Lied,
einen Traum,
ein Farbton, der das Auge trifft.

... und du, du selbst
starbst vielleicht Ewigkeiten von hier,
ohne daß wir davon erfuhren,
wir- Bodensatz, Krumen und Asche von dir;
du, der du immer noch gegenwärtig bist,
wie ein Stern, vorgetäuscht durch sein Licht,
ein leeres Licht ohne Stern,
das uns erreicht,
verborgen
in seiner unendlichen Katastrophe.

»Wenn ich diese Worte höre«, sagte Don Juan, als ich zu Ende
gelesen hatte, »spüre ich, daß dieser Mann das Wesen der Dinge
sieht, und ich kann mit ihm sehen. Ich kümmere mich nicht darum,
wovon das Gedicht handelt. Ich kümmere mich nur um das Gefühl,
das die Sehnsucht des Dichters mir vermittelt. Ich borge mir
seine Sehnsucht, und mit ihr borge ich die Schönheit. Und ich
staune über die Tatsache, daß er - wie ein wahrer Krieger - diese
freigiebig an die Empfänger, an die Betrachter verschenkt und für
sich nur die Sehnsucht behält. Dieser Anstoß, dieser Schock ist das
Pirschen.«
Ich war tief bewegt. Don Juans Erklärung hatte eine sonderbare
Saite in mir angeschlagen.
»Würdest du sagen, Don Juan, daß der Tod der einzige wirkliche
Feind ist, den wir haben?« fragte ich ihn kurz darauf.
»Nein«, sagte er mit Überzeugung. »Der Tod ist kein Feind, auch
wenn er es zu sein scheint. Der Tod ist nicht unser Zerstörer, auch
wenn wir dies glauben.«
»Was ist er denn, wenn nicht unser Zerstörer?« fragte ich.
»Die Zauberer sagen, der Tod ist der einzige würdige Gegner, den
wir haben«, antwortete er. »Der Tod ist unser Herausforderer.
Um seine Herausforderung anzunehmen, sind wir geboren - ob
Durchschnittsmenschen oder Zauberer. Die Zauberer wissen davon;
die Durchschnittsmenschen nicht.«
»Ich selbst würde sagen, Don Juan, daß das Leben, und nicht der
Tod, die Herausforderung ist.«
»Das Leben ist der Prozeß, mittels dessen der Tod uns herausfordert
«, sagte er. »Der Tod ist die aktive Kraft. Das Leben ist die
Arena. Und in dieser Arena stehen immer nur zwei Kämpfer zur
gleichen Zeit; man selbst und der Tod.«
»Ich würde meinen, Don Juan, daß wir Menschen die Herausforderer
sind«, sagte ich.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte er. »Wir sind passiv. Denk einmal
darüber nach. Wenn wir uns bewegen, dann nur, weil wir den
Zwang des Todes fühlen. Der Tod bestimmt das Tempo unserer
Handlungen und Gefühle, er stößt uns erbarmungslos weiter, bis
er uns zerbricht und den Kampf gewinnt, oder aber, wir erheben
uns über alle Möglichkeiten und besiegen den Tod.
Die Zauberer besiegen den Tod, und der Tod erkennt die Niederlage
an, indem er die Zauberer freigibt, um sie nie wieder herauszufordern.
«
»Das bedeutet, daß die Zauberer unsterblich werden?«
»Nein, das bedeutet es nicht«, erwiderte er. »Der Tod hört auf, sie
herauszufordern, das ist alles.«
»Doch was bedeutet das, Don Juan?« fragte ich.
»Es bedeutet, daß das Denken einen Salto ins Unvorstellbare geschlagen
hat«, sagte er.
[...]
Carlos Castaneda / Die Kraft der Stille

----------------

Vom bleichen Verbrecher
Ihr wollt nicht töten, ihr Richter und Opferer, bevor das Tier nicht genickt hat? Seht, der bleiche Verbrecher hat genickt: aus seinem Auge redet die große Verachtung.
"Mein Ich ist etwas, das überwunden werden soll: mein Ich ist mir die große Verachtung des Menschen'': so redet es aus diesem Auge.
Dass er sich selber richtete, war sein höchster Augenblick: lasst den Erhabenen nicht wieder zurück in sein Niederes!
Es gibt keine Erlösung für den, der so an sich selber leidet, es sei denn der schnelle Tod.
Euer Töten, ihr Richter, soll ein Mitleid sein und keine Rache. Und indem ihr tötet, seht zu, dass ihr selber das Leben rechtfertiget!
Es ist nicht genug, dass ihr euch mit dem versöhnt, den ihr tötet. Eure Traurigkeit sei Liebe zum Übermenschen: so rechtfertigt ihr euer Noch-Leben!
"Feind'' sollt ihr sagen, aber nicht "Bösewicht''; "Kranker'' sollt ihr sagen, aber nicht "Schuft''; "Tor'' sollt ihr sagen, aber nicht "Sünder''.
Und du, roter Richter, wenn du laut sagen wolltest, was du alles schon in Gedanken getan hast: so würde jedermann schreien: "Weg mit diesem Unflat und Giftwurm!''
Aber ein anderes ist der Gedanke, ein anderes die Tat, ein anderes das Bild der Tat. Das Rad des Grundes rollt nicht zwischen ihnen.
Ein Bild machte diesen bleichen Menschen bleich. Gleichwüchsig war er seiner Tat, als er sie tat: aber ihr Bild ertrug er nicht, als sie getan war.
Immer sah er sich nun als einer Tat Täter. Wahnsinn heiße ich dies: die Ausnahme verkehrte sich ihm zum Wesen.
Der Strich bannt die Henne; der Streich, den er führte, bannte seine arme Vernunft - den Wahnsinn nach der Tat heiße ich dies.
Hört, ihr Richter! Einen anderen Wahnsinn gibt es noch: und der ist vor der Tat. Ach, ihr krocht mir nicht tief genug in diese Seele!
So spricht der rote Richter: "was mordete doch dieser Verbrecher? Er wollte rauben.'' Aber ich sage euch: seine Seele wollte Blut, nicht Raub: er dürstete nach dem Glück des Messers!
Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn. "Was liegt an Blut! sprach sie; willst du nicht zum mindesten einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?''
Und er horchte auf seine arme Vernunft: wie Blei lag ihre Rede auf ihm, - da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.
Und nun wieder liegt das Blei seiner Schuld auf ihm, und wieder ist seine arme Vernunft so steif, so gelähmt, so schwer.
Wenn er nur den Kopf schütteln könnte, so würde seine Last herabrollen: aber wer schüttelt diesen Kopf?
Was ist dieser Mensch? Ein Haufen von Krankheiten, welche durch den Geist in die Welt hinausgreifen: da wollen sie ihre Beute machen.
Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel wilder Schlangen, welche selten beieinander Ruhe haben, - da gehn sie für sich fort und suchen Beute in der Welt.
Seht diesen armen Leib! Was er litt und begehrte, das deutete sich diese arme Seele, - sie deutete es als mörderische Lust und Gier nach dem Glück des Messers.
Wer jetzt krank wird, den überfällt das Böse, das jetzt böse ist: wehe will er tun, mit dem, was ihm wehe tut. Aber es gab andre Zeiten und ein andres Böses und Gutes.
Einst war der Zweifel böse und der Wille zum Selbst. Damals wurde der Kranke zum Ketzer und zur Hege: als Ketzer und Hexe litt er und wollte leiden machen.
Aber dies will nicht in eure Ohren: euren Guten schade es, sagt ihr mir. Aber was liegt mir an euren Guten!
Vieles an euren Guten macht mir Ekel, und wahrlich nicht ihr Böses. Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zugrunde gingen, gleich diesem bleichen Verbrecher!
Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hieße Wahrheit oder Treue oder Gerechtigkeit: aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben und in einem erbärmlichen Behagen.
Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht. -
Also sprach Zarathustra.

Friedrich Nietzsche / Also sprach Zarathustra


Gesamter Strang: