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Vorsichtig mit der Porzellankiste (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Freitag, 06.01.2017, 23:07 (vor 2638 Tagen) @ Dannylee (4094 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Freitag, 06.01.2017, 23:19

Hallo!

Es ist sehr stark zu bezweifeln, daß der Bauer aus Selb die roten Hüte tatsächlich sah.
Falls er sie sah, ist es eine selbstinduzierte "Vision" als Verarbeitung angelesener Prophezeiungen.

Denn: Die roten oder auf andere Art auffälligen Hüte oder Kleidungsstücke sind ein regelmäßig auftretendes Element der Volkssage.

Siehe hier.

Den Zitaten im Link ist noch hinzuzufügen:

Birkenbaumsage (nach Fritz Rohr, 1917):
"Rote und weiße Hüte wird man tragen, dann ‚ist’s aber schon nimmer gut’."
Das dürfte die direkte Vorlage für die fünf Jahre später veröffentlichte Mühlhiaslstelle gewesen sein.

Stormberger (Rabensteiner Handschrift Ende des 19. Jahrhunderts):
"Wenn aber einmal die umgekehrten Köpfe aufkommen, das wird das Letzte sein. Wenn einmal rote und weiße Hüte getragen werden und die alte Kleidertracht wieder aufkommt und die Geistlichen sehr strenge Buße predigen dann versichere ich es Euch, daß es bald zum Trümmern geht."

Um es nochmal klarzustellen: Mühlhiasl (wie nicht wenige der älteren Propheten) ist eine reine Märchenfigur, der im Volksmund kursierende Sprüche angedichtet wurden. Das selbe geschah in den verschiedenen Varianten der Birkenbaumsage und der sich mit jeder Generation erweiternden Stormbergerprophezeiung. Es gibt also keine echte Seherschau über künftige Moden.

Am wahrscheinlichsten ist, daß solche Sprüche erfunden wurden, als im 19. Jahrhundert einmal irgendwo entsprechende Moden in der Bauerntracht aufkamen (und später wieder verschwanden), was allenthalben als Vorzeichen der ohnehin immer kurz bevorstehenden Apokalypse gewertet wurde. (Im Prophezeiungsforum machen sie gerade nichts anderes und produzieren den Mythos für die nächste Generation, die dann unbedarft auf die unzählige Male umgewälzten Volkssagen hereinfällt.)

Leider sind sie im Prophezeiungsforum unfähig, die richtigen Fragen zu stellen und geraten schier in Verzückung, wenn jemand Aussagen von sich gibt, die zu anderen bereits gelesenen Prophezeiungen passen.
Die Möglichkeit der Fälschung kommt in deren Denken offenbar gar nicht vor. Wenn eine Aussage sich mit anderen Prophezeiungen (bisweilen sogar wörtlich) deckt, ist das kein Verdachtsmoment. Entweder wird die Deckung als Bestätigung gewertet oder vielleicht gar nicht bemerkt, weil man die entsprechenden älteren Textvarianten gar nicht kennt.

Wenn jemand wie der Bauer, der selbst Prophezeiungen kennt und im Kontakt mit Prophezeiungskennern ständig mit neuen Material gefüttert wird, eine solche Aussage von sich gibt, die einer erfundenen Volkssage entspricht, ist das keine Bestätigung für das Vorliegen einer echten Schau, sondern ein Alarmzeichen.
Statt dessen wird herumschwadroniert, wann die roten Hüte wahr werden, und sobald sich eine Frau irgendwo mit rotem Hut auf die Straße traut, wird deren Foto als Beweis eines Treffers kolportiert.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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