Re Schuld (Schauungen & Prophezeiungen)

dziamdzia, Donnerstag, 29.09.2016, 00:01 (vor 2738 Tagen) @ Leserzuschrift (5223 Aufrufe)

Grüß Gott,

Dein Beitrag geht inhaltlich in die Richtung von dem, was Baldur schrieb.

"Keiner von uns hat auch nur irgendeine dieser Schuld-en! Wir werden indoktriniert und lebenslang psychologisch vergewaltigt von Religion und Staat!"

Wer ist denn dieses "wir"? Du ja offenbar nicht. Ich weiß nicht welche Generation Du bist. Ich bin Jahrgang 79. Ich bin nicht christlich erzogen, meine Eltern waren Atheisten, auf dem humanistischen Gymnasium haben wir im Religionsunterricht über Rechtsradikale, Rockmusik und Drogen geredet, aber nicht über Religion. Die Leute in meinem Alter sind noch nichtmal Atheisten (das würde ja eine Auseinandersetzung mit der Religion erfordern) sondern Religion interessiert sie schlicht nicht! Sie kommt in ihrem Leben nicht vor. Es ist ein völliges Desinteresse. Wenn ich Beiträge wie den von Dir oder Baldur lese, habe ich den Eindruck Ihr wäret in der Zeit stehengeblieben und berichtet von Zuständen vor 100 Jahren auf dem katholischen Land. Geh in einen x-beliebigen Gottesdienst und denk Dir bei jedem der grauen oder weißen Schädel: der sitzt in 20 Jahren nicht mehr hier. Dann wirst Du verstehen was hier abgeht: Das Christentum in Deutschland ist tot, mausetot. Es wird in 20 Jahren kaum noch Kirchen geben in Deutschland. Die Amtskirchen sind Zombies, verfaulte vor lauter Bürokratie aufgedunsene Leichname, die nur mit Unsummen staatlicher Knete noch künstlich am Leben erhalten werden (während sie in jedem anderen Land der Erde von Spenden leben müssen). Es gibt die christliche Prägung oder Indoktrination, die Ihr unterstellt, längst nicht mehr. Und wenn ihr ernsthaft gegenteilige Erfahrungen gemacht haben solltet, müsstet ihr schon sehr sehr alt sein.

Kommen wir zu Deinem 2. Punkt, das Thema Schuld. Du behauptest sie gäbe es nicht, sie sei eine indoktrinierte Einbildung. Das passt voll in den Zeitgeist. Die Begriffe Schuld und Sünde kommen in der modernen westlichen Welt nicht mehr vor, bzw. der Begriff Sünde nur noch im Zusammenhang mit Sahnetörtchen und Diäten. Das war früher anders. Ich kenne ein Schwarzwald-Dorf wo in der Ortsmitte eine alte Linde steht, daran eine Holztafel die ihre geschichtliche Bedeutung erklärt: Dort wurde früher u.a. ein Brandstifter im Beisein der ganzen Dorfgemeinschaft aufgeknüpft. Der Mann hatte ein Haus angezündet und eine Existenz vernichtet. Die Schuld, die dieser Mann auf sich geladen hatte, war für jedermann sichtbar. Und entsprechend drastisch fiel die Bestrafung aus. Heute sähe das so aus: Eine Versicherung zahlt den Schaden. Die Familie wird mit Rauchvergiftung und Lungenödem dank modernster Medizin gerettet. Das Haus wird dank moderner Technik in kürzester Zeit wieder neu erbaut. Der Brandstifter erhält eine symbolische Bestrafung in Form einer Geldstrafe, nachdem ein Psychologe erklärt hat, dass seine schwere Kindheit Ursache der Tat war. Und alle sind glücklich! Wohlstand, Medizin und Techniken ermöglichen es weitgehend, die Folgen von Verbrechen zu kompensieren. Wer heute als Mann seine Familie verlässt, der überlässt sie nicht mehr wie früher dem sicheren Hungertod sondern der staatlichen Fürsorge.
Schuld ist etwas Abstraktes geworden.

Eine ganz andere Frage ist, ob der Brandstifter oder der Mann, der seine Familie im Stich lässt, nicht trotz Versicherungen und Sozialstaat Schuld empfinden für ihre Taten.

Es gehört mit zu dem falschen Freiheitsbegriff unserer Zeit, dass man sich des Schuldgefühls entledigen möchte. Dass man einfach alles machen kann, was man nur will, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Dazu wurden Techniken entwickelt wie die Täter-Opfer Umkehr, das Weg-Erklären von Schuld anhand psychologischer oder soziologischer Theorien. Gemäß dieser Theorien gibt es nur Opfer, denn jedes Verbrechen hat seine Ursache in sozialer Ungerechtigkeit oder Ungleichbehandlung. Die moderne Neurowissenschaft geht einen Schritt weiter, und erklärt den Menschen zum willenlosen genetisch vorprogrammierten Tier, das folglich keine Schuld an seinen Handlungen haben kann. Ähnlich, wie man dem Fuchs keine Vorwürfe machen kann, dass er das Huhn tötet, sind in dieser Weltsicht auch die menschlichen Handlungen, gleich wie rücksichtslos, egoistisch oder grausam, allesamt alternativlos und damit schuld-los. Wie in dieser Weltsicht gesellschaftlicher Zusammenhalt und Moral überleben könnten, sagen uns die Herren Sozial- und Neurowissenschaftlicher allerdings nicht.

Interessanterweise hat die westliche Gesellschaft trotz oder gerade wegen der elaborierten Versuche, die Idee der Schuld aus der Welt zu schaffen, unglaubliche Schuldkomplexe. Der Westen fühlt sich kollektiv schuldig und verachtet sich dafür.
Er erscheint wie eine Gesellschaft, die die Existenz von Schmutz und Schweiss verleugnet. Die Institutionen, die sich mit der Herkunft und Ursache von Schmutz und Schweiss beschäftigen und die die Mittel an die Hand geben, sie abzuwaschen, hat sie abgeschafft. Nun möffeln alle vor sich hin, trotz literweise teuerstem Parfüm, und der eine mag den anderen nicht mehr leiden. Und so langsam verliert man in all dem Gestank jede Selbstachtung. Und weil aber doch jeder weiß, dass Schutz und Schweiß nur altmodische Einbildungen sind die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, weil wir doch alle als reine Wesen auf die Welt kommen, muss eine andere Erklärung für den ganzen Gestank her. Und sieh da: Ich stinke nicht etwa, weil ich mich nicht mehr wasche obwohl ich ständig schwitze, sondern weil: *wir* in der Vergangenheit dieses und jenes gemacht haben, weil *wir* Mutter Erde ausbeuten, weil *wir* nicht gut zu den Tieren sind, weil *wir* die armen Völker ausbeuten, weil *wir* Fleisch essen, weil *wir* das Klima erwärmen usw.

Weil man das Gefühl der Schuld als Individuum eben doch nicht los wird, versucht man sich im anonymen Kollektiv auzulösen, welches folglich als Stellvertreter schuldig sein muss. Das überträgt die Selbstverachtung auf das Kollektiv, macht damit wieder den nötigen Raum für die eigene Eitelkeit frei, bringt aber dafür Menschen hervor, die zu aktiven Zerstörern ihrer Gesellschaft und Kultur werden. Von dieser Sorte Menschen ist unser Land durchseucht und wird von diesen *aktiv* zugrunde gerichtet. Der allgegenwärtige Mangel an Selbstachtung und die tiefsitzende Griesgrämigkeit ist nicht etwa ein Symptom für eingeredete Schuldgefühle, sondern für *ganz real empfundene* Schuld jedes einzelnen, für die er kein Ventil mehr hat. Weil sie für ihn unerträglich wird, lastet er sie der Gesellschaft an und beginnt, die Gesellschaft an seiner statt zu geißeln. Jeder Mensch ist unvollkommen und lädt sein ganzes Leben lang schuld auf sich - in Zeiten überwuchernder Unmoral aber ersaufen die Menschen regelrecht in Schuld. In meinem Bekanntenkreis gibt es jemanden, der seine Frau betrog und damit die Familie zerstörte. Jahre später sprang er von einem Dach weil er die Schuldgefühle nicht mehr aushielt. Es gibt Millionen Menschen in Deutschland, die genauso empfinden, aber zu feige sind vom Dach zu springen. Die wollen lieber, dass wir uns alle an den Händen halten und *gemeinsam* vom Dach springen.

Als Katholik weiß ich, dass ich ein Sünder bin und ständig Schuld auf mich lade. Wenn ich so auf mein Leben blicke, ist das eine realistische Einschätzung, weiter nichts. Ich gehe in die Beichte und mir wird die Schuld abgewaschen wie in einer Dusche. Und das spürt man. Als ehemaliger Atheist empfinde ich das als Revolution, und unfassbaren Fortschritt gegenüber dem dauer-griesgrämigen Atheisten-Dasein meiner Eltern, deren hochtrabenden linksgrünen Moralansprüchen immer die Lächerlichkeit anhaftete, dass sie ihnen selbst niemals gerecht wurden.

Der Versuch, auf dem Weg in die totale individuelle Freiheit den als Last und Einschränkung empfundenen Begriff der Schuld wegzuoptimieren, gleicht dem Versuch, uns als Europäer wieder zu einem primitiven Naturvolk zurück zu züchten, welches anstelle eines persönlich empfundenen Gewissens nur einen primitiven Verhaltenskodex hat. Es wird nicht funktionieren. Unser Gewissen werden wir nicht mehr los. Ohne dass wir wieder eine Möglichkeit finden, unsere Schuld loszuwerden, wird sie weiter unter dem Teppich anwachsen und vor sich hin gären zu einem tödlichen Gift, das die Menschen in einen lebensfeind-suizidalen Taumel versetzt, in dem der kollektive Tod insgeheim als Erlösung empfunden wird.

Grüße,

dziamdzia


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