der Handwerker als Dichter (Schauungen & Prophezeiungen)

Ulrich ⌂, München-Pasing, Dienstag, 08.04.2014, 18:05 (vor 3643 Tagen) @ Taurec (5185 Aufrufe)
bearbeitet von Ulrich, Dienstag, 08.04.2014, 18:21

Hallo,

in seiner "Statistik der Kriegslektüre" stellte Tögel 1917 fest, daß "im Schützengraben vor allem gelesen worden seien: Das Neue Testament, Goethes 'Faust' und Friedrich Nietzsches 'Zarathustra'."

Nietzsches 'Zarathustra' wurde in einer (gekürzten) "Feldausgabe" von 150.000 (!) Exemplaren an die Soldaten verteilt, dazu wurden in den Jahren 1914 bis 1919 noch einmal etwa ebenso viele Exemplare verkauft.

Darin sind markige Sprüche zu lesen wie dieser:

"Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.«"

Wenn Rill im Kontext von "das fleißigste Volk der Welt" und von "das Volk steht auf mit den Soldaten" (gegen wen ?) im Zusammenhang mit einem Zusammenbruch der Ordnung den Begriff "Ungeheuer" verwendet, der so, wie er ihn verwendet, unverständlich scheint, dann hat er vielleicht nur eine lyrische Anwandlung gehabt, sich bildhaft auszudrücken, und weist damit verkürzt darauf hin, daß der Untergang eines 'Staates', der öffentlichen Ordnung, nicht gleichbedeutend mit dem Untergang eines Volkes ist, das - angeblich - von diesem untergehenden Staat repräsentiert wurde.

In 'Zarathustra', der als Vorlage für Rills Formulierung gedient haben mag, liest sich das so:
"Irgendwo gibt es noch Völker und Herden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da gibt es Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt tut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker. Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: »Ich, der Staat, bin das Volk.« Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben. Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin. Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten. ..."

Das Wort "Ungeheuer" philologisch zu deuten führt m.E. ebenso in die Irre, wie wenn man Rills Satz "Unter dieser Zeit - sagt er - wird der Antichrist geboren im äußersten Rußland, von einer Jüdin, und er tritt erst in den fünfziger Jahren auf. Dann sagte er, an dem Tage, wo Markustag auf Ostern fällt" dahingehend versteht, in der Geographie des "äußersten Rußland" oder den christlichen Feiertags-Regeln nach näheren Hinweisen zu suchen.

Gruß
Ulrich

@ Leonessa

Ich kann mir nicht vorstellen, daß Rill linguistisch spitzfindig definierend ein quasi harmloses Kuschel-Ungeheuer beschrieben hat, das Deine, sehr harmlosen, Eigenschaften in sich vereinigt.

Kann es sein, daß Du den von Taurec zitierten Text zur Wortbedeutung mißverstanden, auf den Kopf gestellt hast?

- Ein "Geheuer" wäre das harmlose Kuschel-Dings.
- Ein "Un-Geheuer" ein nicht kuscheliges Dings, das Angst macht, weil es einem "nicht geheuer" ist.
- Dein "quasi harmloses Kuschel-Ungeheuer" wäre so etwas wie eine Kreuzung aus beidem (weil hybrid, wahrscheinlich nicht fortpflanzungsfähig), von dem bei Rill aber nicht die Rede ist, er spricht schlicht vom "Ungeheuer".


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