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Lokalkolorit (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Mittwoch, 06.07.2011, 17:51 (vor 4677 Tagen) @ Gerhard (6179 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Mittwoch, 06.07.2011, 18:10

Hallo!

York liegt im Nordwesten von England, und es gibt keinen vernünftigen Grund, die Hauptstadt dorthin zu verlegen. Man muss ziemlich verrückt sein, so etwas voraus zu sagen. Ich rate mal, dass es rund 100 Meter über dem Meer liegt ...

York liegt auf ca. 10 bis 20 Metern, was sich innerhalb von 10 Sekunden herausfinden läßt. => Blubb.

Und von London wird nicht gesagt, dass da ein Bauer mit dem Pflug unterwegs ist etc. etc., sondern ein Kapitän mit seinem Schiff ...

Die Rede ist davon, daß der Kapitän die Themse (einen existierenden Fluß und keinen Ozean) hinauffährt und diese Aussage beim Anblick der wohl noch in irgendeiner Form erkennbaren Stadt macht.

Allgemein sind die Phrasen nicht wörtlich zu nehmen, etwa in dem Sinne, daß der Ort noch existieren wird, nur weil er erwähnt wird.
(Dasselbe gilt wahrscheinlich für den Stein in Schottland, der umfallen soll.) Das ist Lokalkolorit, an das sich frei flottierende Aussagen gehängt haben.

Es sind im Kern dieselben Phrasen, die auch bei uns verbreitet sind:
"Der Männer und Jünglinge werden nach dem Kriege so wenige sein, daß
sieben Frauenzimmer sich um eine Mannshose schlagen."
(Jasper)

"In meinen prophetischen Weissagungen sage ich von Paris: ‚Wehe dir! Stadt
der Philosophen, ach! ach! unglückliche Stadt! Denn eines Tages wird die
Pflugschar über deine Ruinen gehen, und dein Vater wird zu seinem Sohne
sagen: Hier stand Paris.’"
(Lenormand)

„Die Bauern werden hinter dem Pflug mit der Peitsche knallen und sagen:
hier hat Prag gestanden.“
(Blinder Jüngling)

Die offenbar in ganz Europa in irgendeiner Form im Volksmund geläufigen Aussagen wurden hier an die lokalen Gegebenheiten angepaßt, so daß man sich eben nicht um die Hose des letzten Mannes schlägt, sondern derselbe eben auf einem Hügel sitzt und nicht der Pflug, sondern das Schiff durch die Stadt fährt.
Das ist der Nachteil am Volksmund aus unserer Sicht, die wir gerne verläßliche Aussagen hätten: Er ist eben nur oder bestenfalls in den allgemeinen Grundzügen richtig. Keineswegs darf man ihn wörtlich nehmen. Und auf keinen Fall darf man ihn auf dieselbe Stufe stellen wie gut dokumentierte Schauungen; vor allem nicht mit dem Argument, daß ja nur selten jemand vor Ort sei, um eine Schau gleich aufzuzeichnen, und es generell schwierig sei, Bilder in Worte zu fassen!

Man führe sich z. B. die Untersuchung Reinhard Hallers über Mühlhiasl zu Gemüte. Er hat über dreißig Jahre lang Aussagen gesammelt aus dem Volksmund, die angeblich (vom tatsächlich nie gelebt habenden Mühlhiasl) stammten. Den Zeitungsartikel von 1923, der den damaligen Stand der mündlichen Überlieferung dokumentiert, kannte niemand mehr. Die Leute erzählten sich mittlerweile Aussagen, die völlig frei erfunden und auf Ereignisse der Nachkriegszeit gemünzt waren, als altes Sagengut. Nun kann man erahnen, welchen Wandel die Aussagen in der Zeit vor der Drucklegung erfahren haben.
=> Gleich, ob sie zu den Vorstellungen passen: Man macht einen großen Fehler, wenn man volkstümliche Aussagen (selbst wenn sie seit langem gedruckt vorliegen) qualitativ den nachweisbaren Sehern gleichsetzt, deren Aussagen sich auch wirklich bis zu ihnen zurückverfolgen lassen (die Übergänge sind jedoch fließend).

Die Szenen, die da beschrieben wurden, hat nie jemand gesehen. Vielleicht gab es Schauungen, die ähnliche Informationen enthielten. Die sind aber bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.

Und was die politischen Aussagen des Textes angeht, sollte man mal prüfen, ob sie nicht auf die damalige englische Geschichte passen.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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