Re: ... ? ... 'Liebe unter Toten'

Geschrieben von Ego Man am 12. Februar 2006 15:29:11:

Als Antwort auf: "Das Ruhrgebiet stirbt?" geschrieben von HJH am 12. Februar 2006 12:09:30:

Liebe unter Toten

... Wie ich dazu kam, gerade hier einzuziehen, oder weshalb ich meine vorherige Wohnung aufgeben musste, weiss ich heute nicht mehr.
Wahrscheinlich lag es daran, dass ich trank und nicht viel arbeitete und mitten am Morgen mit irgendwelchen Strassendirnen lautstarke Auseinandersetzungen hatte. Und mit mitten am Morgen meine ich nicht 10.30 Uhr, sondern 15.30 Uhr. Falls gerade mal nicht die Polizei gerufen wurde, endete es gewöhnlich mit einer kleinen Notiz unter der Tür, immer mit Bleistift auf einen Fetzen liniertes Papier geschrieben: "Sehr geehrter Herr, wir müssen sie leider auffordern, ihr Zimmer umgehend zu räumen."

Jedenfalls da war ich nun, in dem grünen Hotel, in dem verblichenen grünen Hotel, und ich war da mit meinem Koffer voll Lumpen, gerade mal solo, aber ich hatte das Geld für die Miete, war nüchtern, und ich hatte ein Zimmer zur Strasse hin, 3.Etage, Telefon draussen im Flur direkt neben meiner Tür, Kochplatte am Fenster, grosses Waschbecken, kleiner eingebauter Kühlschrank, ein paar Stühle, ein Tisch, Bett und das Bad am Ende des Flurs.
Das Gebäude war zwar sehr alt, aber sie hatten einen Fahrstuhl. Es war einmal ein Laden mit Klasse gewesen. Jetzt wohnte ich drin.

Als erstes besorgte ich mir eine Flasche und nach einem Drink und nachdem ich zwei Kakerlaken erlegt hatte, fühlte ich mich schon wie zuhause. Dann ging ich ans Telefon und versuchte eine Lady anzurufen, von der ich annahm, sie würde mir vielleicht helfen, aber sie war nicht da.
Offensichtlich half sie gerade einem anderen.

[...]
Doch am besten war ich, wenn es darum ging, bei Dick anschreiben zu lassen. Es gab eine Menge Dicks in dieser Gegend, und auch der Mann im Schnapsladen hiess Dick. Wenn wir dasaßen und das letzte Glas leer war, eröffnete ich die Partie immer damit, dass ich zunächst mal einen losschickte.
"Ich heisse Hank", sagte ich zu dem Betreffenden. "Sag Dick, er soll dir für Hank einen halben Liter geben und anschreiben, und wenn etwas unklar ist, soll er mich anrufen."
Und der Typ zog also los. Wir warteten, schmeckten im Geist schon den Sprit auf der Zunge, rauchten, liefen auf und ab, wurden langsam kirre. Dann kam der Typ zurück.
"Dick hat gesagt nein! Dick hat gesagt, du hast keinen Kredit mehr.!"

"SHIT!" brüllte ich dann jedesmal.
Ich erhob mich zu voller Größe, mit roten Augen, Stoppeln im Gesicht und einer Wut im Bauch:
"GOTTVERDAMMTE SCHEISSE! DIESES AAS!" Ich war wirklich wütend, es war eine aufrichtige Wut, ich weiß nicht, woher sie kam.
Ich knallte die Tür hinter mir zu, fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und lief diesen Hügel runter. Das dreckige Aas, dieses dreckige Aas! und dann bog ich in den Schnapsladen ein:
"All right, Dick."
"Hallo, Hank."
"ich will ZWEI FLASCHEN!" (und ich nannte ihm eine sehr teure Marke.) "Zwei Schachteln Zigaretten, ein paar von diesen Zigarren da, und, warte mal ... ah ja:
so eine Dose Erdnüsse da."
Dick stellte das Zeug vor mich hin, und dann stand er da und sah mich an.
"Na, was ist: zahlst du?"
"Dick, ich möchte, dass du mir das mit auf die Rechnung setzt."
"Du schuldest mir bereits $23.50. Du hast sonst immer bezahlt, du hast mir jede Woche ein bißchen was bezahlt, ich weiß noch, es war immer Freitag abends. Jetzt hast du mir schon seit drei Wochen nichts mehr bezahlt. Du bist nicht so wie diese anderen Penner. Du hast Klasse. Ich hab Vertrauen zu dir. Kannst du mir nicht ab und zu wenigstens einen Dollar bezahlen?"
"Schau her, Dick, ich hab keine Lust, mit dir rumzustreiten. Tust du mir jetzt dieses Zeug da in eine Tüte oder willst du es WIEDERHABEN?"

Ich schob ihm die Flaschen und den anderen Kram hin und wartete und paffte an meiner Zigarette, als gehörte mir die ganze Welt. Ich hatte nicht mehr Klasse als ein Grashüpfer. Ich hatte nichts als nackte Angst, dass er das einzig Vernünftige tun würde: das Zeug zurück aufs Regal stellen und mir sagen, ich solle mich zum Teufel scheren. Doch er machte immer nur ein langes Gesicht und packte mir alles in eine Tüte, und dann wartete ich, bis er meine Rechnung auf den neuesten Stand gebracht hatte.
Die Drinks schmeckten danach immer besonders gut. Und wenn ich mit dem Zeug reinkam zu den Boys und Girls, dann war ich unbestritten der King.
Die Hauptsache aber war, dass man vier Wände um sich hatte. Dann hatte man noch eine Chance. Wenn man erst mal auf der Strasse lag, hatte man keine Chance mehr, dann hatten sie einen, und zwar endgültig. Wozu noch etwas aus der Tiefkühltruhe klauen, wenn man sich nichts mehr braten konnte?
Man braucht vier Wände um sich herum. Gib einem Mann lange genug seine vier Wände, und er ist imstande und macht sich die Welt untertan.
CHARLES BUKOWSKI




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