Mein Credo zum ersten Fallbeispiel - Oder: der Zweck des Ganzen, Fragen @all

Geschrieben von SoL333 am 07. Januar 2003 09:30:48:

Als Antwort auf: Das Experiment, Teil 2 A (@ all) - oder: Der Russe Vladimir geschrieben von SoL333 am 06. Januar 2003 02:26:01:

Hallöchen mal wieder :-)

Zuvor muss ich sagen, da dies gefragt oder angemerkt wurde: sicherlich floss viel Wissen aus meinem Psychologiestudium mit ein, aber damit hatte mein Experiment nicht viel zu tun :-). Ich habe es weniger für mich geschweige denn für meine Doktoren oder andere Lehrkräfte entwickelt, sondern ganz im Gegenteil: rein für Euch selbst, die Teilnehmer des Experiments.
Dieses Forum handelt vor allem von praktischer VORbereitung. Ich habe vielleicht nicht sehr viel Ahnung von der Landwirtschaft oder von Waffenkunde oder ähnliches, da bin ich auf Euer Know-How angewiesen. Mein Talent liegt mehr im Bereich der Phantasie und der Empathie, dazu kommt natürlich mein Wissen aus dem o.g. und einigen anderen Bereichen, die den Menschen als solchen betreffen. Solche Experimente sind also mein Weg, Euch bei der praktischen (hier jedoch geistigen) Vorbereitung im Zwischenmenschlichen zu helfen.

Ich wollte mit meinen Szenarios etwas sehr wichtiges demonstrieren und Euch die Möglichkeit zur Selbstreflektion geben und zwar in einer rein theoretischen Möglichkeit bevor man tatsächlich in einer vielleicht ähnlichen realen Situation steht. Dann ist es für Simulationen zu spät.

Was haben wir bisher im ersten Fall gehabt?
1. Das 1. Kapitel (sozusagen von Euch innerhalb von mir gesetzter weiter Grenzen selbst "geschrieben") zeigte die Sicht der ersten Person der Geschichte, nämlich Euch selbst mit Euerer jeweiligen Persönlichkeit, Euren Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen. Alles, was Ihr wisst: wo Ihr seid und warum und wie, als plötzlich der andere Mensch vor Euch steht, den Ihr nicht kennen könnt.
2. Dann kam der Moment der Entscheidung (möglichst schnell): wie verhalte ich mich nun dem anderen Menschen gegenüber?
3. Nach der Entscheidung folgte eine Geschichte, die den Hintergrund des anderen Menschen beleuchtet hat, so daß Ihr sehen konntet, welcher Mensch eigentlich vor Euch stand und ob die eigene Handlungsentscheidung eher "richtig" oder eher "falsch" war. Wie gesagt: die Geschichte stand zwar schon anfänglich fest, aber es hätte genauso gut ein regelrechter Killer hervorspringen können.

Machen wir uns nichts vor: bei einer im Vladimir-Fall "falschen" Entscheidung (Liquidierung) hätten wir nie erfahren, das die Entscheidung falsch gewesen ist. Vladimir wäre nichts als ein toter "Feind" (owohl er keiner gewsen wäre, doch das wüssten wir dann nicht). Auf der anderen Seite gibt es natürlich für Euch in einer solchen Situation kein Patentrezept, denn welchen Menschen hat man nun wirklich vor sich? Wäre es nicht unbedingt Vladimir gewesen, der vor einem steht, dann hätte "sofortige Liquidierung" vielleicht genau die richtige Entscheidung sein können, bevor man selbst verletzt, gefangengenommen oder gar getötet wird. Ihr bemerkt vielleicht, daß es nicht mein Ziel ist, über Umwege Verhalten als "falsch" oder "richtig" bloßzustellen (Rechtfertigungen sind also in keinserweise notwendig).

Der eigentliche Grund meiner Demonstration ist es, Euch die Konseqeunzen Eures Handelns bewusst zu machen (was in realen Situationen ohne Frage nicht ohne weiteres möglich ist). Ursache - Wirkung.
Die Wirkung, die eigenes Handeln mit sich bringt, wird in dem was uns bevorsteht von elementarer Bedeutung für das eigene Überleben und das anderer sein:
- hat man getötet, aber es war notwendig und man hätte nicht anderes handeln können, so kann der liebe Gott einem nichts vorwerfen (Apropos: wer die Prophezeiungen kennt, der weiß, daß vor uns nicht nur Kriege und Nöte stehen, sondern vor allem das große Gericht, in dem die Spreu vom Weizen nach göttlichen Maßstäben getrennt wird).
- hat man aber getötet, ohne das es eigentlich notwendig gewesen wäre, so wird diese Person sicherlich ein paar dicke Minuspunkte bekommen und der göttliche Schutzschild zieht sich mehr und mehr von ihr zurück.

Die Frage an Euch ist also: Wie kann man sowohl seine eigene Sicherheit und die seiner Lieben mit Nichtaggressivität und Kooperationsbereitschaft sinnvoll und aus heutiger Sicht realistisch unter einen Hut bekommen, miteinander in Einklang bringen? Kurz: wie kann man als "Mensch" in einer solchen Situation angemessen handeln?

Schaut Euch doch dazu die verschiedenen Verhaltensstrategien Eurer Forumskolleg(inn)en an und rechnet im Geiste die jeweiligen Erfolgschancen für beide Personen in unserem konkreten Beispiel aus.
Habt Ihr das gemacht, so ändert einfach die Bedingung und durchdenkt eine ähnliche Situation für alle Verhaltenstrategien, in der aber nicht Vladimir vor Euch steht, sondern tatsächlich ein eiskalter Killer.

Die Verhaltenstrategie(n), oder gar eine Mischung davon, die zugleich in BEIDEN Extrem-Fällen am erfolgversprechensten für beide Personen (bzw. das eigene Leben und Seelenheil) scheint, könnte die Verhaltensstrategie sein, die man in einer solchen Situation auch tatsächlich beherzigen sollte, denn wir erinnern uns: während der Handlung hat man keine Ahnung, wer wirklich vor einem steht. Es geht in meinem Experiment schlußfolgernd vor Allem um eine spätere mögliche Anwendung des Gelernten. Um die Entwicklung einer angemessenen Verhaltenstrategie, die unter unbekannten Bedingungen den größten Erfolg bringen kann unabhängig davon, was dann tatsächlich objektiv passiert.

Natürlich kann ein in der Phantasie durchgespieltes Handlungsszenario niemals 100%ig die Realität abbilden und natürlich kommen in Wirklichkeit noch viel mehr Faktoren hinzu. Zusätzlich kann man mit guter Menschenkenntnis sicherlich schon beurteilen, ob nun die Person, die vor einem steht eher unaggressiv und ängstlich ist oder schlicht ein wildes Tier z.B. und sein Verhalten auf den persönlichen Eindruck aufbauen. Meine Szenarien sind also somit ein extrem vereinfachtes Modell einer möglichen Wirklichkeit.

Leider ist die Möglichkeit des Lernens anhand theoretischer Modelle im Moment und in dieser (nicht irrelevanten) Hinsicht noch das einzige was wir haben, das einzige mit dem wir in dieser Hinsicht uns vorbereiten können. Wenn wir erst einmal in einer entsprechnden Situation sind, ist es für Vorbereitung oder Nachdenken zu spät. Dann können wir nur hoffen, daß das Gelernte vielleicht wirklich gewinnbringend war.

Insofern ist Nachdenken nie verkehrt. Apropos: was macht einen wirklichen Feind aus? Ist ein Feind jemand, der andere normierte Kleidung trägt? Ist ein "Feind" wirklich ein Feind oder halten wir ihn nur dafür, weil uns andere gesagt haben, daß so einer aussähe? Glauben wir mehr unseren Herzen oder mehr gesellschaftlichen Stereotypen oder dem, was Mächtige (dann natürlich in Sicherheit sitzend) uns gesagt haben, was nun ein Feind" sein soll? Natürlich schließt das nicht aus, daß ein sog. "Feind" auch tatsächlich ein Feind ist, aber woher wissen wir das? Woran kann man das zuverlässig festmachen, wenn man die Hintergründe im Moment gar nicht kennt? Wie kann man vielleicht gefahrlos testen, ob man einen "Feind" bzw. Feind vor sich hat? Kann man das überhaupt?


Liebe Grüße, die anderen Hintergründe folgen
Euer Chrisi


>(Anmerkung vom 6.1.: Da der 2. Teil des Experiments sehr umfangreich ist, und ich Eure Geduld mit meinen literarische Ausbrüchen nicht überfordern möchte, erfolgt die Veröffentlichung in 3 Teilen, dieser hier ist speziell für das erste Fallbeispiel, die anderen folgen mit wenigen Tagen Abstand)
>Hallihallo, Ihr Lieben
>Zuerst einmal vielen Dank für die zahlreiche Resonanz und den vielen ernstgemeinten (denn das waren sie komplett alle) Antworten auf die 3 Fallbeispiele. Da dieser Text hier kurz darauf am gleichen Tag verfasst wurde (3.1.2003), konnte ich nur wenige Antworten bisher sehen. Hier mein erster Eindruck, bevor ich zum wichtigen 2. Teil komme:
>Die Resonanz ist bisher groß, wohlwollend, und wird so glaube ich, noch weiter zunehmen, bis das Mögliche gesättigt ist. Ist dieser Punkt meines Erachtens erreicht (keine weitere Resonanz), so werde ich diesen Beitrag hier veröffentlichen.
>Die Antworten bisher entsprechen dem, was ich erwartet hatte: ein breites Spektrum an Verhaltensalternativen und –strategien aller Coleur: „sofortige Liquidierung aus Vorsicht“ war ebenso dabei, wie „vertrauensvoll kooperationsbereitschaft zeigend“ oder „mißtrauische Kooperationsbereitschaftstendenz“. (Anm. vom 6.1.:Interessant ist auch, daß einige Antworten schon viele Aspekte des 2. Teils in Form von Vermutungen vorwegnahmen und wie gesagt: der 2. Teil stand schon bei Veröffentlichung des ersten Beitrages in seinen Abläufen und Kernpunkten fest, ist also vollkommen unabhängig von Euren Antworten entstanden.)
>Das ist hervorragend und wird für den gleich folgenden 2. Teil enorm wichtig sein. Wie Ihr bemerkt habt, stellten die 3 Szenarien subjektiv wahrgenommene Situationen dar. Nur das, was DU konkret erlebst. Recht knapp gehalten, so daß der größte Teil durch die jeweilige Phantasie, die jeweilige Persönlichkeit, ergänzt werden musste. Eigene Erwartungen bestimmen die Wahrnehmung nicht unwesentlich mit. Du kennst jedoch noch nicht die Hintergründe des Geschehens, besser gesagt: nicht die andere jeweils subjektive Seite.
>Im 2. Teil habe ich für diese Szenarien die Hintergründe entwickelt und zwar so, wie sie tatsächlich sein könnten, jedoch in keinster Weise sein müssen. Eure Antworten sollen damit in keinsterweise bewertet werden im Sinne von Richtig oder Falsch (war die eigene Handlung hier eher nicht „richtig“ oder angebracht, könnte sie es in einem anderen Fall durchaus sein), sondern stellt Euch die nun folgenden Hintergründe als einen Teil einer Geschichte vor, in der Ihr auch eine der Hauptrollen habt. Euer Kapitel war das jeweilige Szenario, in dem Eure Situation erklärt wurde und ich Euch die Möglichkeit gab, daß Ende des Kapitels mental und schriftlich sozusagen selbst zu schreiben. Gleich folgen die jeweiligen Kapitel der anderen Rollen in ihren Geschichten: der andere Mensch eben. Eben das, was Ihr nicht wissen könnt. Und das erfordert Charaktertiefe und oberflächliche Figuren müssen zunächst humanisiert werden. Dieses Ziel mit Hilfe kurzer weniger Sätze zu erreichen erschien mir vergeblich. Es ist notwendig, aus „ein Russe“ einen Menschen mit eigenem Charakter und eigener Geschichte zu kreieren und das funktioniert am besten mit Hilfe kleiner Kurzgeschichten. Ich werde mich ganz meiner Muße hingeben, wobei wohlgemerkt: die Grundzüge und Eckpunkte bereits beim Schreiben des ersten diesbezüglichen Betrags und der Experiments-Szenarios schon feststanden. Die Charaktertiefe der Szenarien im ersten Beitrag habt Ihr mit Eurer Mitarbeit selbst gegeben, denn es ist Eure eigene, ganz individuell.
>Die jeweiligen dann hierauf folgenden Szenarienkapitel Nr. 3, die habt Ihr ganz von selbst entwickelt und zwar in verschiedenster Form. Euer hypothetisches Verhalten und das der anderen Teilnehmer bringen jeweils eine völlig andere theoretische Fortführung der Handlung hervor, aus der wir alle lernen können. Entwickelt selbst Euer Ende der Geschichte nachdem Ihr die Situation des Russens Vladimir, der beiden Kämpfer im Hinterhof und die Hintergründe der beiden Feldjäger Michael und Klaus-Manfred kennengelernt habt. Keine Bange, es muss nicht unbedingt schriftlich sein, es ist mehr ein Gedankenexperiment auf dem geistigen Holodeck.
>Danke, daß Ihr mich habt daran Teil haben lassen, laßt uns von dieser Geschichte lernen und darüber nachdenken, was wäre wenn......
>und natürlich liebe Grüße
>Euer Chrisi
>Fallbeispiel A)
>Du hast Dich im Wald versteckt (ggf. mit Deiner Familie) und lebst dort seit Wochen. Deine Nahrungsvorräte werden knapp, bist schon etwas hungrig, denn seit 5 Tagen lebst Du schon von halber Ration und von dem was Du findest, was einfacher gesagt war als getan. Du streifst herum, denkst an die letzte Tafel Schokolade aus dem EPA-Paket, die Du als Reiseproviant mitgenommen hast und auf einmal springt ein russischer Soldat, offenbar allein, hinter einem Baum hervor, Kalaschnikow im Anschlag. Er ist recht klein, nicht unbedingt kräftig oder von Natur aus furchteinflößend. Er wirkt blaß hat tiefe Ringe unter den Augen und er zittert. Er ruft Dir mit zitternder Stimme etwas zu, was Du nicht verstehst, Du nimmst an, daß es etwas russisches war. Du hattest mal ein Waffe gefunden und sie hinten in den Hosenbund gesteckt. Du könnetst sie sehr schnell ziehen, denn Du hattest zufällig sowieso eine Hand am Rücken gehabt, weil es gejuckt hatte, als der Russe hervorsprang.
>Was würdest aus heutiger Sicht hypothetisch tun?
>
>DER RUSSE VLADIMIR
>Er wusste nicht viel von dem, was in der Welt vorging, als es vor einigen Wochen losging, er interessierte sich auch nicht unbedingt dafür. Er erinnerte sich vor Allem daran, wie er damals diesen lauten Schuß hörte in der Wohnung nebenan. Vorher sind einige olivgrüne Lastwagen vorgefahren und einige Uniformierte sprangen heraus und liefen paarweise in die 3-stöckigen Wohnhäuser am Rande Moskaus.
>Er bekam davon vorerst nichts mit. Er selbst, Vladimir Kuschakow, 25 und Musikstudent, spielte gerade, in seiner kleinen Einzimmerwohnung im Schneidersitz auf dem Boden sitzend, vertieft auf seiner Gitarre einen Song von Bob Marley mit, der leise auf seinem alten Kassettenrekorder lief und er fragte sich wie immer, was Bob wohl singen mag. Aber es muss etwas wundervolles sein, so friedlich, so freundlich und einfach nur „groovy“. Das Wort kannte er und benutzte es so gerne, wenn er sich mit Freunden unterhielt. War irgendwie „cool“. Auch ein Wort, das ihm gefiel. Klingt irgendwie lustig. Schade nur, daß die Musik so leise ist, aber es lauter zu hören, das ist gefährlich geworden, seit der Revolution der Kommunisten. Sein Großvater erzählte ihm damals immer davon, wenn er wieder mal einen in der Krone hatte. Davon, was es heißt, wenn man kein Parteibuch hat. Er, Vladimir, seit jeher eher unpolitisch und friedliebend, hatte keines. Und an jeder dieser blöden Kontrollen heißt es: Tasche öffnen, Ausweis....blablabla.....und Warten.....bloß nicht drüber nachdenken sagte er bei sich, und außerdem, er liebte das Gitarre spielen über alles, soll er sein Leben lang Polka klimpern?
>Doch dann fiel dieser Schuß. Dieser ohrenbetäubende Schuß, denn er niemals vergessen wird, denn damit zerbrach seine kleine Welt aus Noten. Mit diesem Schuß und mit diesem Schreien der Frau Luschkowa, die mit ihrem Mann Nikita und ihren 5jährigen Sohn Yuri seit Jahren in der 2zimmer-Wohnung nebenan lebt. Ganz erschrocken stellte er sofort das Spielen ein und den Rekorder ab. Er lauschte. Wimmern, Schreien, die Frau sagte etwas, aber Vladimir verstand es nicht, denn das Haus war alt und die Mauern verlodert aber dick. Schritte auf dem Flur. Er schlich zum Türspion und was er sah erschrak ihn. Nikita, ein 35jähriger Bär von einem Mann, der immer Rat wusste und sehr selbstsicher war (Vladimir verehrte Nikita schon seit er ganz klein war, Nikita war damals immer der große Bruder, den er haben wollte), schritt kreidebleich den Hausflur entlang an seiner Tür vorbei. Der Bär von einem Mann war auf einmal alles andere als das und Vladimir wird diesen Anblick niemals vergessen: Nikita war vollkommen eingesunken und wirkte auf einmal einen ganzen Kopf kleiner, er weinte und schluchzte und taumelte mehr als er ging. Er schien Höllenqualen zu erleben, jedoch verletzt wirkte er komischerweise nicht. Bald darauf erschien eine Pistole in Vladimirs Blickfeld auf Nikitas Nacken gerichtet in einigen Zentimetern Abstand , bald darauf ein olivgrüner Arm und daraufhin kam der Soldat ins Bild. Kalt, entschlossen und nervös. Vladimir begann zu begreifen: Nikita wurde abgeführt, irgendetwas muss er verbrochen haben...aber das kann er sich gar nicht vorstellen.....als plötzlich im runden Guckloch ein Gesicht auftauchte, ganz nah und es trug ein olivgrünes Schiffchen. Und es klingelt. Es klingelte bei ihm. Ihm wurde mulmig im Magen. Seine innere Stimme schrie aus voller Brust: mach nicht auf....mach nicht auf..... doch wie in Trance tat er es und beruhigte sich damit, daß Schiffchen sicher nur etwas fragen wolle, aber verdammt nochmal er tat es und es war der größte Fehler seines Lebens, denn das Schiffchen hielt prompt eine Hand griffbereit an der Pistole und sagte: „Mitkommen, sofort! Das ist ein Befehl.“ Mehr nicht, nur diese Worte, die Augen darunter waren kalt und gefühllos.
>Ihm blieb keine Wahl und so wie Nikita aussah, fragte Vladimir lieber nicht, was überhaupt los sei. Als er noch auf den Flur hinausging, konnte er einen Blick in die Nachbarwohnung erhaschen, denn die Tür stand noch offen. Er sah wie Frau Luschkowa über ein blutiges Bündel am Boden gekrümmt lag und hysterisch wimmerte und heulte. Vladimir erkannte, daß dieses blutige Bündel Yuri war. Der kleine Yuri, auf den er so oft schon aufgepasst hatte und dafür immer ein halbes Dutzend Eier bekam, weil Frau Luschkowa in der Legebatterie in der Nachbarschaft arbeitete.
>Draußen, auf dem Lastwagen, erfuhr Vladimir, daß Nikita (er wirkte mittlerweile relativ gefasst, war aber sehr sehr still und seine Augen waren sehr feucht) sich anfangs geweigert hatte mitzugehen und sich begann zu wehren. Typisch Nikita. Vladimir hatte ihn stets bewundert.
>Auf diesem Lastwagen saßen noch viele andere aus seiner Nachbarschaft, mit einigen war er sogar befreundet, alle waren stumm und nicht wenige waren so blaß wie Nikita, der Ex-Bär. Und ebenso wie er hatten auch sie die Tränen in den Augen und schluchzten. Valdimir dachte nur: zum Glück war meine Verlobte in der Fabrik. Was sie wohl sagen würde, wenn sie nach Haus käme abends um sieben und er ist nicht da?
>Doch das ist lange her, an ihr Gesicht erinnert er sich kaum. Es scheinen zumindest Jahre her, doch dabei waren es erst wenige Wochen, daß sie in dem Lastwagen in der Kaserne eintrafen zur „Grundausbildung“ wie die Schreihälse dort es sagten. „Hopp, Hopp, Kuschakow, die Deutschen fackeln nich lange, lauf, 1, 2, 3, 4, 5, ... 6 ,7 ,8 Kuschakow, los, Arsch runter, Kuschakow, oder willst DU wie Dein Opa bei den Nazis enden? Los, Wieeeeeder rrrrauf, Kuschakow, Hopp, Hopp.......:” Kuschakow hier Kuschakow da, Jawoll hier, jawoll da Herr Unteroffizier, ja, sie haben Recht, Herr Unteroffizier.....
>Nikita war dannach mit ihm (Vladimir war mehr als froh darüber) in der gleichen Infantrie-Einheit und hatte auf ihn aufgepaßt wie auf einen kleinen Bruder, doch er war nie wieder derselbe bis zum Tage, als er für Vladimir starb.
>Er hatte ihm immer wieder gesagt, er solle hinter ihm bleiben, wenn sie mit 3 oder 4 Mann zur Aufklärung beordert wurden, hier in Deutschland, soweit weg von daheim. Nikita sagte immer: Junge, die dort oben sind es nicht wert für sie zu sterben, also halte immer den Kopf unten. Vladimir verstand nicht, was sie hier überhaupt machten: haben wir denn nichts besseres zu tun, fragte er sich ständig, und Schuld an dem Schlammassel sind dieser blöde Bush und dieser blöde Putin und von denen hat er hier noch keinen gesehen, hier in der Hölle.Verdammt nochmal, er will doch nur Musik machen und alle anderen in Ruhe lassen. Ich will doch nur meine Gitarre und meine Noten verdammt, und wenn ein Deutscher der „Drummer“ (Vladimir findet dieses Wort ebenso witzig: dramma) wäre, daß wäre ihm vollkommen schnuppe, solange er im Takt bleibt und nen guten „Beat“ (Bieht) drauf hat.
>Eines Tages auf Spähtrupp trafen sie jedoch auf die Engländer (Vladimirs erste Feindberührung übrigens, denn er gehörte zur sog. 2. Welle, die erste fand während seiner Grundausbildung statt), etwa 6 oder 7 Mann mögen es gewesen sein. Vladimirs Gruppe bemerkte sie zunächst gar nicht und sie rannten prompt in den Hinterhalt. 2 Soldaten der 4köpfigen Einheit starben sofort, ihr Navigator zuerst. Vladimir kannte sie kaum. Er und Nikita, für einen kurzen Moment wie angewurzelt, rannten wie der Blitz (so schnell rannte er noch nie in seinem Leben und er hatte das Gefühl zu fliegen und so schnell wie der Blitz zu sein) zur nächsten Baumgruppe etwa 3 m zu ihrer Linken, der jüngere von beiden an der Spitze. Doch da ertönte schon die 2. Salve, Vladimir spürte etwas schweres im Rücken, spürte noch, wie er fiel und verlor das Bewusstsein. Der Genuss der Schnelligkeit wie der Blitz unter Adrenalin währte nur kurz.
>Als er wieder aufwachte, konnte er zunächst nicht atmen. Aber die Augen könnte er vielleicht öffnen, wenn er sich ganz doll anstregte. Er war noch ganz benommen. Seine Kleidung fühlte sich klebrig an und sein Arm tat ihm weh. Er horchte, aber als alles still war, wagte er es, sich zu bewegen. Als er die Augen öffnete und den Kopf aus dem Matsch hob, erkannte er, daß alles um ihn herum voller Blut war. Das meiste davon war Nikitas Blut, denn Nikita war der Grund, warum so eine schwere Last auf ihm lag. Vladimir hatte man offenbar für tot gehalten und zusammen mit den anderen einfach liegen gelassen. Er selbst hatte zum Glück nur einen leichten Streifschuß abbekommen. Doch das nur körperlich. Nikita war der, zu dem er aufschaute, mittlerweile sein einziger und bester Freund. Was macht er jetzt so allein, hier, im Wald? Verletzt?
>Er ist allein und verprengt. Die Karten und der einzige Kompaß, die Vladimirs Gruppe hatten, haben die Engländer wohl mitgenommen, Vladimir konnte sie nicht finden und es war das erste Mal, daß er wirklich 3 erschossene Männer gesehen hat. Er irrte nun schon seit langer Zeit umher, immer in Angst erwischt zu werden. Wie lange war es, Tage? Oder schon Wochen? Er weiß es nicht mehr, denn er hat jegliches Zeitgefühl verloren und seine Uhr verlor er ebenso, als er ein weiteres Mal fliehen musste. Ein französischer Helikopter hatte ihn aus der Ferne entdeckt und ein Bordwaffen-MG eröffnete das Feuer, als er leichtsinnigerweise eine Abkürzung direkt über ein Feld ins Auge geschlossen hatte. Es war knapp, sehr knapp. Wieder hatte er das Gefühl zu fliegen. Die Kugeln, die teilweise nur wenige cm neben und hinter seinen Füßen im ¾-Takt einschlugen, die bekam Vladimir gar nicht mit. Er ist jetzt Vladimir, der Läufer. Er läuft um die Goldmedallie. Und golden ist sein Leben. Er schafft es.
>In Sicherheit angekommen freute er sich und kicherte schon beinahe hysterisch: der Läufer hat gewonnen, Hahaha, Ihr Säcke. 5 Minuten später jedoch übergab er sich. Und 15 Minuten später noch ein weiteres Mal. Es kam nichts als Magensäure. Doch Vladimir lernt aus Fehlern, denn Fehler können hier und zu dieser Zeit tödlich enden.
>Er hat noch nie freiwillig so buchstäblich Dreck gefressen, wie seit der Zeit, seit er diesen Fehler begangen hatte. Er versuchte sich zwanghaft daran zu erinnern, was die Schreihälse damals kurz ansprachen, wie man die Himmelsrichtung nach dem Lauf der Sonne bestimmt (Hopp, Hopp Kuschakow, nach oben gucken, ob ne Taube scheißt, Kuschakow....), oder anhand von Moos an Bäumen (Hopp, Hopp, Kuschakow, schau Dir das genau an Kuschakow, siehts grün aus Kuschakow? oder bist Du zu blöd Kuschakow....los Kuschakow...Hopp, Hopp, Hopp) und so. Er dachte, er wüsste es noch und versuchte es, und er dachte, er wäre auf dem richtigen Weg heim nach Osten (bloß weg hier), aber bisher hat er niemanden gefunden, der eine ihm bekannte Sprache gesprochen hätte, bis auf die Engländer natürlich. Und von Menschen im allgemeinen hat er sich lieber fern gehalten so weit wie möglich mit einer Ausnahme, die sein Leben verändert hat (wie wir gleich sehen werden). Er umging alle Ansiedlungen, die ihm nicht geheuer vorkamen und nahm dafür km lange Umwege in Kauf.
>Er weiß schon gar nicht mehr, wann er das letzte Mal geschlafen hat, geschweige denn gegessen (und das was er gegessen hat, daß wird er niemals jemanden erzählen). Was er auch gar nicht weiß oder wissen kann ist, daß seine Division (einmarschiert in Südosten Sachsens und mittlerweile bis zur Donau und weiter nach Westen Richtung Rhein vorgerückt), die ihn übrigens für tot hielt, vor etwa 3 Wochen mehrere Spähtrupps in kleinen Schlauchbooten über die Donau nach Süden geschickt hatte. Himmelfahrtskommandos. Die meisten kamen nicht zurück. Was Vladimir ebenso nicht weiß, (er denkt, er sei bereits weit über die tschechische Grenze gekommen), daß er seitdem recht konsequent nach Süden gelaufen ist. Tag und Nacht ist er marschiert und marschiert und marschiert und befindet sich bereits im südbayrischen Alpenvorland.
>Und dann dieser Wahnsinn, der ganze Wahnsinn. Und dieses Blut an den Händen. Seinen eigenen Händen, seinen Musiker-Händen. Ja tatsächlich, er wurde zum Mann, wie man so schön sagt. Er musste es tun, sein Gewissen hätte ihn sonst umgebracht, genauso wie es ihn jetzt peinigt, weil er es getan hat. Doch ihr Gesicht wird er niemals vergessen, diese dankbaren Augen, die er ebenso nicht vergessen kann.
>Als er mal am Rande einer Stadt entlang schleichen musste (er wusste nicht, daß er am äußersten östlichen Stadtrand Münchens vorbeischlich), wurde er unvermutet Zeuge einer Vergewaltigung. Er selbst versteckte sich hinter einem Gebüsch, weil er Stimmen hörte. Eine junge Frau, wohl jünger als er selbst, lag auf dem Boden und ihre orangefarbene Bluse war weit aufgerissen, der kurze Rock bis über den Bauchnabel hochgeklappt. Sie blutete im Gesicht und wand sich wimmernd hin und her, während ein älterer dickbäuchiger Kerl mit Halbglatze, unrasiert im Unterhemd auf ihr lag und ihr mit der Zunge durchs schmutzige Gesicht leckte, während ein fetter pickliger Arsch mit heruntergelassener Hose zwischen ihren verkrampften Beinen auf- und abwippte. Vladimir konnte nicht länger zusehen, obwohl er wusste, daß es für ihn sicherlich klüger war in Deckung zu bleiben. Er entschied sich aber vorsichtshalber für das Messer, ein Schuß wäre zu laut gewesen...
>Als es vorbei war, rappelte sich das junge schmutzige Ding, was mal ein bestimmt hübsches Mädchen gewesen war, wieder auf, sie schämte sich und hielt ihr Gesicht ihrem Retter noch abgewandt. Sie weinte bitterlich und versuchte, ihre schmutzigen Brüste mit dem zerrissenen Hemd zu bedecken. Sie schaute verlegen zu ihm auf und in Ihrem verheulten Blick war der größte Dank, den er jemals gesehen hatte in seinem Leben. Sie gab ihm noch ganz kurz ein kleinen Kuß auf die Wange und ging (stolperte eher mit gesenktem Haupt) schnell und weinend in das nächstegelegene Haus zu seiner Rechten. Vladimir begriff nachdem sie im schnell im Haus verschwunden war, was er zunächst ganz übersehen hatte: er befand sich in einem augenscheinlich in einem Vorgarten, aber dieser dickbäuchige Kerl war anscheinend der Nachbar der Unbekannten, denn die Verandatür etwa 15 Meter entfernt zu seiner Linken hinter zahlreichen Büschen und zurechtgestutzten Bäumchen stand noch offen und es war anscheinend dessen Garten, in dem er sich kurz versteckt hatte. Der Garten des Opfers seines allerersten und bisher gottseidank einzigen Mordes.
>Aber auch das ist schon lange her. Sein Arm hatte sich inzwischen entzündet, obwohl er immer wenn er konnte, seine Kleidung und sich selber wusch und den Verband wechselte an kleinen Bächen, so wie die verschissenen Schreihälse (naaaaaaaaaaa?????....bist Du sauber Kuschakow???? Häääää????? Neeeeeeiiiiiiiin? Ja dann los, Kuschakow, runter, 20 Liegestütz und dann alles nochmal waschen Kuschakow.......Hopp, Hopp..) es ihm beigebracht hatten. Seine Verlobte daheim, die liebte er von Herzen. Die unbekannte Schöne jedoch, die wird er niemals vergessen. Mittlerweile ist sie, sind ihre Augen, das Bild der Hoffnung für ihn geworden. Wer sie war, das wird er jedoch nie erfahren, aber das war ihm eigentlich auch nicht wichtig.
>Aber andere Bilder peinigten ihn. Blutige Bilder, in denen er einem Menschen die Kehle durchschnitt, so wie die verf..... Schreihälse (Schnipp, Schnipp Kuschakow, von links nach rechts, wie Dein dämliches Grinsen, Kuschakow....) es ihn gelehrt hatten. Er hatte noch nie etwas widerlicheres gemacht in seinem Leben. Er hatte sich das immer ganz anders vorgestellt, irgendwie einfach. Mitleid hatte Vladimir mit diesem Kerl nicht, aber er wird nie vergessen können, wie er den überrascht zusammenzuckenden Kopf an seine letzten verbliebenen Haare packte und nach oben riss. In einem hatten die Schreihälse Recht: es ging schnell und leise. Aber dieses Röcheln.....Vladimir wollte nicht mehr daran denken. Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, die Hände zu waschen, denn sie waren noch voll Blut, aber es dauerte diesmal so lange, bis er eine lehmige Pfütze fand. Und währenddessen konnte er die Augen nicht von seinen Fingern lassen.
>Er hat Hunger, ist ein Mann geworden, wird vermutlich krank und will einfach nur wieder heim zu Mama, heim zu seiner Lieben, einfach nur heim.....und etwas zu essen.
>Jetzt ist er in einem kleinen Wald gottweiswo und sucht nach einem geeignetem Platz für ein geeignetes Nachtlager als er plötzlich Schritte vernimmt. Vladimir duckt sich schnell hinter einem umgefallenen Baum. Ein junger Mann, offenbar Zivilist.
>Dieser sucht die Umgebung nach irgendetwas ab, hält inne und holt etwas braunes rechteckiges aus der Hemdtasche. Er beißt genüßlich rein, überlegt kurz, er will scheinbar einen weiteren Bissen nehmen, überlegt es sich jedoch anders und steckte die Schokolade, wie Vladimir inzwischen erkannt hat, wieder dorthin woher sie kam. Vladimir läuft augenblicklich das Wasser im Munde zusammen. Schokolade. Mehr ist nicht in seinem Kopf. Der Fremde schreitet suchend weiter. Vladimir (inzwischen ein sehr mistrauisch gewordener Mensch) folgt ihm eine Weile und versteckt sich hinter einen Baum, an dem der Fremde demnächst vorbeischreiten wird. Vladimir nimmt all sein Mut zusammen, als die Schritte nahen. Wer weiß, denkt Vladimir, wer anderen etwas Gutes tut, dem wird auch etwas Gutes getan, aber sicher ist sicher. Er nimmt sein Gewehr griffbereit. Als der Fremde nahe ist, springt Vladimir hervor und hält die Waffe nach oben. So langsam und deutlich er noch kann spricht Vladimir den Fremden an: „Ich will Dir nichts tun. Ich habe nur Hunger und will heim. Bist DU Freund oder Feind?“. An Worte wie „cool“ oder „groovy“ erinnert er sich nicht mehr, die stammten aus einem anderen Leben lange her, da war er noch ein Kind. Auf die Idee sie zu benutzen ist er überhaupt nicht gekommen.


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