Wollen uns die Amerikaner auf den Arm nehmen?

Geschrieben von Hubert am 18. Januar 2004 17:44:34:

Von Alexander Bürgin
(Quelle: t-online)

Wir haben uns schon darauf eingestellt: Mit Deutschland geht es den Bach runter. Doch jetzt erklärt das US-Magazin "Newsweek" die Bundesrepublik zum zweitmächtigsten Staat der Welt. Ein Plädoyer für einen trotzigen Optimismus.

Schröder: Man glaubt es kaum

Zweitmächtigste Nation der Welt? Wollen die Amerikaner uns auf den Arm nehmen? Haben sie in Übersee noch nie etwas von der Pisa-Studie gehört, oder von unseren Arbeitslosenzahlen, oder von unserer Vergreisung - oder von der 10 Euro-Praxisgebür? Selbst der Kanzler staunte über das Ranking: "Man glaubt es kaum."


In einer Schlusslicht-Mentalität eingerichtet

Tatsächlich passt die frohe Kunde nicht so recht in unser Selbstverständnis: Mit Deutschland geht es den Bach runter. Die Wirtschaft: lahm, die Politik: visionslos, die Gesellschaft: erstarrt. Positive Nachrichten haben es schwer. Optimismus ist nicht unsere Stärke. Wir jammern und haben uns in einer Schlusslicht-Mentalität eingerichtet - aber so schlecht steht es um Deutschland gar nicht.


Wirtschaftskraft und außenpolitischer Einfluss

Die Studie sieht Deutschland auf Platz zwei hinter den USA. Auf den Plätzen folgen Frankreich, England und Japan. Maßstab waren 22 Kriterien, unterteilt in sieben Kategorien. Punkten konnte Deutschland vor allem in den Sparten Wirtschaftskraft und außenpolitischem Einfluss.


Rankings nicht immer seriös

Rankings haben Konjunktur. Egal ob Städte, Unis, Politiker - alles wird verglichen, nicht immer seriös. Auch an der Newsweek-Studie lässt sich leicht mäkeln. Die Auswahl der Kategorien wirft Fragen auf. So ist die Demographie nicht Teil der Analyse der Wirtschaftskraft. Dabei gilt unsere alternde Gesellschaft als Risiko für die künftige Entwicklung unserer Wirtschaft.


Deutschland im Hintertreffen

Und die Sparte Technologie/Wissenschaft wird nicht in Beziehung zur Wirtschaftskraft gesetzt. Ein Fehler, denn gerade in den Wissensgesellschaften der westlichen Welt wird die Innovationsfähigkeit über den wirtschaftlichen Stellenwert einer Nation entscheiden. Deutschland ist hier im Hintertreffen.


Amis trauen uns was zu

Aber wichtiger ist doch: Die Amis trauen uns mehr zu als wir uns selbst. Platz zwei in der Diplomatie - ausgerechnet die USA stellen uns ein derart positives Zeugnis aus. Hatte die Bush-Regierung die Bundesrepublik doch noch vor kurzem auf dem diplomatischen Abstellgleis gesehen - isoliert durch Schröders barsche Ablehnung des Irak-Kriegs.


"Old Europe" ist Schnee von gestern

Doch das Gerede von "Old Europe" ist Schnee von gestern. Das Verhältnis zwischen den Kriegsgegnern und der Bush-Regierung entspannt sich. Frankreich und Deutschland werden als Motoren der europäischen Integration stark gebraucht - das hat das Scheitern der Verfassung deutlich vor Augen geführt.


Verantwortung übernehmen

Wer in der internationalen Politik eine Rolle spielen will, muss Verantwortung übernehmen - auch militärisch. Deutsche Soldaten leisten ihren Beitrag in Afghanistan, auf dem Balkan und in anderen Brennpunkten der Welt. Die Neuausrichtung der Bundeswehr auf internationale Einsätze reagiert jetzt auf die gestiegenen Erwartungen unserer Partner.


Letzter Platz beim Wachstum

Nicht weniger überraschend ist Rang zwei in der Wirtschaftskraft. Die Einschätzung scheint weit hergeholt, angesichts wenig rosiger Zahlen. Beim Wirtschaftswachstum in der EU belegt Deutschland den letzten Platz. Die von deutscher Seite durchgesetzten Stabilitätskriterien werden nun ausgrechnet von uns nicht eingehalten.


Arbeitslosigkeit stagniert auf hohem Niveau

Die Zahl der Firmenpleiten stieg im letzten Jahr auf 40.000. Deutsche Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland, die Arbeitslosigkeit stagniert auf hohem Niveau. Die EU-Nachbarn überholen uns beim Pro-Kopf-Einkommen. Und auch bei der Geburtenrate findet sich Deutschland ganz hinten: Platz 185 von 190 einer OECD-Studie. Ohne Kinder keine Rentenzahler.


Schlechte Ausbildung

Die verbleibenden Kinder werden schlecht ausgebildet - so das vernichtende Urteil der Pisa-Studie über das deutsche Bildungsystem. Nur 35 Prozent eines Jahrgangs gehen auf die Uni, im EU-Schnitt sind es 40 Prozent. Jeder siebte Nachwuchswissenschaftler forscht lieber in den USA als in "good old Germany".


Ab in den Papierkorb

Also ab in den Papierkorb mit der Newsweek - Silbermedallie und weiter die Mundwinkel nach unten? Nicht unbedingt. Denn es lassen sich auch optimistische Zahlen finden. Die Inflationsrate ist die niedrigste seit vier Jahren, einen halben Prozent unter EU-Durchschnitt. Die Konjunktur erscheint sich zu erholen: 2 Prozent Wachstum werden diese Jahr erwartet. Der deutsche Aktienmarkt freut sich über einen Anstieg von 30 Prozent.


Wer will schon das amerikanische Modell?

Zwar mühsam, aber immerhin, hat sich die Regierung mit der Opposition auf eine Reform verständigt, die die Bürger moderat entlastet und für Impulse auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Zwar haben wir Probleme mit unserem Sozialstaat, aber wer will schon das amerikanische Modell?


Deutschland ist Exportweltmeister

Und - "last but not least" Deutschland ist Exportweltmeister. Erstmals seit 11 Jahren exportieren die Deutschen so viel wie kein anderes Land. "Made in Germany" verkauft sich noch. Ist die Newsweek-Ehrung vielleicht doch nicht so wirklichkeitsfern? Die Wirklichkeit bietet jedenfalls beides: Grund zum Jammern, wie Grund zum Optimismus. Die Deutschen neigen ersteres in Vordergrund zu stellen - die Amerikaner letzteres.


Massig Probleme auch in den USA

Auch dort gibt es massig Probleme: Zwar ist die Arbeitslosigkeit geringer, aber die Zahl der "working-poor", die trotz Job an der Armutsgrenze rumkrebsen nimmt zu. Die Spekulationsblase am Aktienmarkt ist geplatzt und hat die Alterssicherung vieler Amerikaner vernichtet. Die Terrorgefahr verängstigt die Bürger. Dennoch hat das keine Auswirkung auf den generellen Zukunftsoptimismus. 69 Prozent der Amerikaner gehen zuversichtlich ins neue Jahr - doppelt so viele wie bei uns.



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