Wie leben wir in 50 Jahren?

Geschrieben von Bost am 03. Dezember 2003 20:59:49:

Auch Leute die sich wahrscheinlich nicht mit Prophezeiungen beschäftigen haben wohl Vorstellung von dem was kommen könnte oder nur eine Geschichte?:

Junge Leute blicken in die Zukunft. Stefanie E. Wolter* über Lexika zum Frühstück und Ökopolis vorm Schlafengehen

Am 12. September 2050, eine Truppe kühner Forstmeister...“
„Ulli!“, mahnt Mareike vorwurfsvoll.
„Und Forstmeisterinnen“, verbessert Ulli sich schnell und nimmt noch einige grün gestrichene Holzfiguren aus seinem Baukasten, „zieht wagemutig in den kahlen Hängen der Alpen auf Abenteuer aus. Allen voran Ulli Kampen – und seine tapfere Kollegin Mareike Lindengrün...“
Mareike grinst. Alle Kinder in ihrem Alter träumen davon, später junge Bäumchen heranzuziehen und die Wälder aufzuforsten. Wer will kein Klimaschützer sein, wenn er mal groß ist? Aber ein Blick auf ihre Aufziehuhr verrät ihr, dass sie nicht weiter mitspielen kann. Deshalb sagt sie mit einem Seufzer: „Du, Ulli, ich muss jetzt wirklich nach Hause. Sonst sitzt meine Familie beim Abendessen noch im Dunkeln und alle sind sauer auf mich.“ „Na dann tschüs“, meint Ulli ohne aufzuschauen, „und Kopf hoch. Ihr kriegt ja auch bald ‘ne Solaranlage aufs Dach.“
Mareike zuckt die Schultern und geht. Der Ulli hat gut Reden. Seine Eltern haben schon vor dem Börsenkrach auf die damals so genannten „Alternativen Energien“ gesetzt, die jetzt die Einzigen sind.
Überhaupt, früher. Manchmal hat Mareikes Mutter ihr erzählt, wie das so war in ihrer Jugend. Mit Atomkraftwerken, Einwegverpackungen, stundenlangen Verkehrsstaus.
„Aber das war doch Wahnsinn“, hat Mareike gemeint. „Natürlich“, stimmte ihre Mutter ihr zu, „und das wussten auch alle. Nur getan hat keiner was, bis...“ Ja, bis zum großen Erdbeben in Tokio, das im wörtlichen Sinn über Nacht die weltgrößte Börse zerstörte. Danach war nichts mehr wie vorher. Im Chaos auf den internationalen Finanzmärkten verloren viele, die mit Aktien spekuliert hatten, ihren ganzen Besitz. Auch Mareikes Großvater ging das so. Der Esstisch mit den sechs Stühlen, der heute bei den Eltern in der Küche steht, ist alles, was dem Großvater von seinem vielen Geld blieb. Und jedes Mal, wenn die Sprache darauf kommt, klopft er beschwörend auf das Holz und sagt: „Solide verarbeitet. Nicht wie der Müll, der damals sonst so produziert wurde. Danach habe ich lange gesucht! So was macht man heute auch nicht besser.“
Die ersten Jahre nach dem Börsenkrach müssen sehr hart gewesen sein. Dann begannen die Menschen, sich in der neuen Weltordnung einzurichten. Der Tauschhandel blühte auf und man versuchte, Dinge zu recyceln, die früher einfach achtlos weggeworfen wurden. Die alte Frau Schneider von nebenan rümpft immer noch die Nase, wenn sie sieht, wie Mareikes Vater alte rostige Nägel wieder geradebiegt und solange abschmirgelt, bis sie glänzen. Dabei machen das doch alle so!

Zu Hause angekommen drückt Mareike die angelehnte Tür auf, schlurft in den Flur und weiter in die Küche. Um den „soliden“ Tisch sitzen schon ihr Opa, ihre Mutter und der große Bruder Christian. Es riecht nach Bratkartoffeln und Gurkengemüse, und ein wenig nach Apfelkompott.
„Ja sieh nur, meine kleine Schwester kommt vom Sandkastenbuddeln zurück! Ich dachte schon, du wolltest dich mal wieder drücken“, raunzt Christian. „Er ist in einem schwierigen Alter“, denkt Mama. „Er ist ganz einfach ein pickeliger Idiot“, findet Mareike. Sie streckt ihm im Vorübergehen die Zunge heraus. Dann steigt sie auf das Dynamo-Fahrrad in der Ecke. Damit erzeugen sie im Moment ihr künstliches Licht. Aber bald kommt die Solaranlage...

Während Mareike in die Pedalen tritt, stellt sie sich vor, wie schön das sein wird. Sie werden dann abends alle zusammen sitzen und Ökolopoly spielen oder sich gegenseitig aus ihren Lieblingsbüchern aus der Leihbücherei vorlesen. Das würde vor allem Papa gefallen.
Gerade kommt er herein, natürlich mit einem neuen Buch unterm Arm. Mareikes Mutter wirft ihm einen strafenden Blick zu und seufzt: „Was schleppst du denn diesmal an?“
Den Hauptteil der Tauschgeschäfte wickelt sie ab, „damit“, wie sie sagt, „wir nicht eines Tages Meyers großes Lexikon zum Frühstück essen müssen.“ Vaters gute Laune kann das aber nicht schmälern. „Na hör mal“, erwidert er strahlend, „es war sehr günstig. Nur zwei Bund Gelbrüben. Und außerdem ist es ein Klassiker, noch aus dem letzten Jahrhundert: ‘Das Ende der Natur’ von...“ Er schlägt die erste Seite auf und liest: „...von 1989. Ist das nicht interessant?“ Später im Bett, als sie sich schon ganz schwer fühlt vor Müdigkeit, geistert Mareike immer noch dieser sonderbare Titel im Kopf herum: „DAS ENDE DER NATUR“.
„Da sind wir wirklich gerade noch mal davongekommen“, murmelt sie. Dann rollt sie sich zur Seite und schläft ein.




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