Re: @Hubert: Bumerang-Argumente :-)

Geschrieben von JeFra am 09. November 2003 19:39:02:

Als Antwort auf: Re: @Hubert: Bumerang-Argumente :-) geschrieben von Hubert am 09. November 2003 15:21:59:

Ich glaube, es ist generell richtig, daß viele Protestanten nicht an das sola fide glauben. Beispielsweise gibt es eine berühmte Faust-Parodie (Faust. Der Tragödie dritter Teil), deren Autor F. T. Vischer offenbar ein Protestant war (wenigstens nominell), aber seine Kritik an Goethes Faust II wie folgt begründet hat:


Der Geisterwelt präsentes edles Glied,
Nicht ganz so strebend hab' es sich bemüht,
Als nötig, es zu retten
Aus Stans Ketten;
Darum ward resolvieret,
wird hiermit dekretieret:
Faust soll vorerst dahüben
Noch eine Zeit sich üben,

was wohl nach einer klaren Absage an die protestantische Rechtfertigungslehre aussieht. Ich glaube aber, man muß dazu folgendes bemerken: BBouvier hat vielleicht die Tugenden im Sinn, auf die er sich als Offizier bei seinen Soldaten verlassen mußte, ferner die Tugenden, die man im normalen bürgerlichen Leben braucht. Ähnliches gilt wohl auch für Vischer. Mit dem christlichen Glauben lassen sich aber Forderungen begründen, die viel radikaler sind: Eine der sieben Todsünden zu begehen ist sehr leicht, und auch die Forderungen der Bergpredigt sind sehr radikal. Ich glaube, es ist solche Strenge gewesen, die Luther (nach dem Luther-Artikel von newadvent.org) schier zur Verzweiflung getrieben hat:

Then in paroxysmal remorse Luther would lock himself into his cell and by one retroactive act make amends for all he neglected; he would abstain from all food and drink, torture himself by harrowing mortifications, to an extent that not only made him the victim of insomnia for five weeks at one time, but threatened to drive him into insanity.

Der Artikel erwähnt zwar angebliche Pflichtverletzungen Luthers, aber ein möglicher Grund war vielleicht, daß Luther den christlichen Glauben sehr ernst genommen und in der klösterlichen Disziplin keine Erleichterung gefunden hat. Wenn Sie sagen, daß man ohne regelmäßige Beichte das Himmelreich nicht erlangen kann, so deutet das ja darauf hin, daß Sie solche Radikalität im Prinzip noch teilen. Ich fürchte aber trotzdem, daß wir heutigen Menschen diese Geisteshaltung kaum mehr nachvollziehen können. Haben Sie jemals ernsthaft Angst gehabt, Sie könnten der ewigen Verdammnis verfallen? Richtig ernsthaft Angst wie sie ein Verurteilter in der Todeszelle haben muß, 20 Stunden vor dem Rendezvous mit dem Henker, dann 19, 18, 17, 16 Stunden, nur daß Sie nie bei 0 ankommen, weil die Angst vor der Verdammnis Sie ja nicht umbringt, obwohl sie genauso stark ist wie die Todesangst. Ich könnte mir vorstellen, daß Luther solche Angst hatte. Den heutigen Menschen ist das kaum noch nachvollziehbar.


Ich habe in einer Calvin-Biographie (B. Cotrett, Calvin. Eine Biographie, Quell, 1998) folgende Bemerkungen über die Lehre von der doppelten Prädestination gelesen:


Der Gott Calvins wirkt umso beruhigender, als er sich auch schreckenerregend geben kann. Was heißt Glauben anderes als Erwähltsein? Was heißt Erwähltsein anderes als Errettetsein?

Die an sich düstere Lehre von der doppelten Prädestination hat also offenbar auf manche Leute eher beruhigend als verängstigend gewirkt. Anscheinend ist die Idee: Wenn Sie so ernsthaft glauben, daß Sie wirkliche Angst vor der ewigen Verdammnis haben, ist gerade dieser ernsthafte Glaube ein Zeichen Ihrer Erwähltheit, so daß Sie sich die Sorgen also gar nicht zu machen brauchen. Wobei Cotrett nicht erklärt hat, wie die Calvinisten von dieser Position zum wirtschaftlichen Erfolg als Zeichen der Auserwähltheit gelangt sind.


Ein geschickter evangelischer Theologe würde Ihnen natürlich immer die Forderung nach dem Vollbringen guter Werke irgendwie begründen, etwa mit der Bemerkung, daß diese ja gerade ein Zeichen des ernsthaften Glaubens seien. Im Grunde handelt es sich also um eine Art Trick, mit dem man die radikalen Forderungen des Christentumes auf Normalmaß zurechtgestutzt hat, freilich ohne das offen zu bekennen. So jedenfalls sehe ich die protestantische Theologie, wobei ich mich natürlich irren kann.


Schönen Sonntagabend wünscht
JeFra


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