Der Wissende
Geschrieben von wikking am 29. Oktober 2003 22:37:24:
Guten Abend allesamt.
Zwischen all den bedrohlichen Nachrichten von Vulkanen, Sonne und Nahostkonflikt einmal ein wenig märchenhaft Nachdenkliches mit Schmunzeleinwurf.
Besten Gruß
wikking**************
Der WissendeIn einer kleinen, abgelegenen Oase mitten in der Sahara lebte einst ein alter, weiser Mann, der von den wenigen Beduinen und Tuaregs, die sich hierher verirrt hatten, nur ‚der Wissende‘ genannt wurde. Sein wirklicher Name lautete Sch‘bach. Er war einer der wenigen Menschen, die wußten, daß sie wußten, wenngleich er auch wußte, daß er bei weitem noch nicht alles wußte. Doch sein Wissen war für den alten Mann nicht das Wichtigste oder Höchste, es wollte sich sogar - jetzt, am Sonnenuntergang seines irdischen Daseins - von dieser Fessel befreien, hatte er doch bereits die Erfahrung der Transzendenz in sich erspüren dürfen, die Erfahrung einer Bewußtseins-Stufe des Menschen, gegen die das logische Denken nur ein sehr, sehr unvollkommenes und ungenügendes Instrumentarium war. Sch‘bach war während dieser Ahnung in einen Ozean unendlicher Weite eingetaucht, in dem alles Sein offenbart vor ihm lag und einige Antworten auf Rätsel des Kosmos als Selbstverständlichkeiten um ihn herum schwammen.
Leider vermochte der Weise dieses überwältigende Bewußtsein noch nicht zu halten, als diese Erfahrung vorüber war. So setzte er nun alles daran, durch intensivste Meditation und hingebungsvollstes Gebet jenen himmlischen Zustand der absoluten Erkenntnis bewußt und dauerhaft wiederherzustellen, wodurch er sicher einen sinnvollen Beitrag zur Entwicklung des ganzen Planeten Erde leistete, wie ihm schien...
So versuchte Sch‘bach nicht nur sein eigenes Leben in jene übergreifende Bewußtseins-Stufe zu erheben, sondern auch andere Menschen dazu zu inspirieren, sich der Unvollkommenheiten ihres denkenden Verstandes gewahr zu werden. Gar gering war zwar die Zahl der Besucher, hier, in jener entlegenen Oase mitten in der Sahara, doch alle, die ihn je aufgesucht hatten, gingen mit einer ganz besonderen Erfahrung im Herzen wieder von ihm fort, denn Sch‘bach vermochte es inzwischen meisterhaft, sie mit den Grenzen ihres Mentals zu konfrontieren. Da er acht Sprachen fließend beherrschte, dazu noch einige arabische Dialekte, war eine Kommunikation mit fast jedem Ankömmling möglich.So wollen wir uns nun in eine der raren Zusammenkünfte des Weisen mit anderen Menschen einblenden und versuchen, aus den Gesprächen zu lernen.
Kurt und Lisa waren mit dem Jeep in der Sahara unterwegs. Ein Abenteuer hätte es werden sollen, Hochzeitsreise in der Wüste, einmal ein ausgefallenes Geschenk des Bräutigams an seine Braut. Leider war Kurts Kartenmaterial recht dürftig, und so verirrte sich das junge Paar hoffnungslos in der glühenden Wüste, zumal beiden jegliche Wildnis-Erfahrung fehlte. Wie froh waren sie, als sie nach zweitägiger Irrfahrt, kurz bevor die Wasser-Vorräte zur Neige gingen und der letzte Ersatzkanister mit Treibstoff angebrochen werden mußte, in jene kleine Oase gelangten, die von Sch‘bach bewohnt wurde.
Der weise Mann saß im Schatten einer Palme und schien zu meditieren. Nur das alte, verrunzelte Gesicht war unter den weiten Gewändern zu erkennen. Die Augen halb geöffnet, schien er in unergründliche Fernen zu blicken, als das Hochzeitspaar sich ihm näherte. Der Jeep hielt, erschöpft kletterten die beiden heraus und erblickten sofort den still dasitzenden Mann. Hocherfreut, in dieser Einöde ein menschliches Wesen gefunden zu haben, sprach Kurt den Mann auf Englisch an, ohne sich im geringsten um seine Versenkung zu kümmern: „Hey, Mr..., hhmmm..., Mr. old Man..., do you understand me ?“
Ohne die Augenlider zu heben, ja, ohne den Mund zu bewegen, antwortete der Alte mit warmer, wohlklingender Stimme in klarem Deutsch: „Ich verstehe die Sprache deiner Zunge, doch ich verstehe nicht die Sprache deines Herzens. Noch nicht, doch das kann sich ändern...“
Kurt war so verblüfft über die seltsame Antwort in Deutsch, daß er ganz unwirsch reagierte und zurückrief: „Hee, was soll das...? Wieso reden Sie so ein Zeug daher, wir haben uns verirrt, haben kein Wasser mehr. Wir brauchen Hilfe. Können Sie uns helfen ?“
Als der Alte nicht sofort antwortete, setzten sich Lisa und Kurt vor ihn in den Sand. Die Anspannung war zunächst gewichen, denn sie schienen zunächst einmal in Sicherheit. Hier gab es Wasser. Und dieser alte Mann war sicherlich nicht bösartig, auch wenn er wirr im Kopf zu sein schien.
Da antwortete Sch‘bach endlich: „Ja, ich kann dir helfen, ich vermag deine Augen das Sehen zu lehren, um in mir den Jüngling zu erkennen. Noch sind sie blind, denn sie sehen in mir nur den Greis.“
Lisa puffte ihren frischgebackenen Ehemann in die Seite: „Komm, laß uns hier verschwinden. Der ist doch nicht ganz richtig im Kopf...“
Doch Kurt hob beschwichtigend beide Hände, wobei er feist grinste und Lisa einen schmunzelnden Blick zuwarf. Er wollte mit dem verrückten Alten sein Spielchen treiben und sagte: „O.K., junger Mann. Wie alt sind Sie ? Zwanzig, dreißig, na, sagen Sie es uns doch. Wir sind gespannt...“
„Ich bin so alt wie der Sand der Sahara, und das ist sehr jung, gemessen am Lauf der Zeit.“
„Aha!“ gab Kurt zurück und machte zu Lisa ein eindeutiges Zeichen, das mit dem drehenden Finger an der Schläfe. „Und jetzt soll ich wohl lachen, oder ?“„Der Weise lacht und wartet sacht,
bis Allah schenkt ihm Friedens-Nacht.
Der Tor gibt Weisheit keine Macht
und lacht, weil all sein Geist ist Nacht.
So lache, wie es dir beliebt,
dann weiß ich, wer dir Lachen gibt,
der Weise oder auch der Tor,
durch Lachen kommt es stets hervor !“Kurt und Lisa sahen sich betreten an, denn einen wohlformulierten Reim hätten sie von diesem komischen Einsiedler niemals erwartet.
Da flüsterte Lisa schüchtern zu ihrem Mann: „Du, Kurt, der ist gar nicht so dumm, wie er vorgibt. Vielleicht will er uns sogar prüfen..., man hört ja vieles über solche weisen Männer des Orients.“
Obwohl der Flüsterton nicht für seine Ohren bestimmt war, antwortete der Alte unmittelbar: „Nein, Lisa, ich will euch nicht prüfen, doch ihr selbst wollt euch prüfen, sonst säßet ihr nicht hier bei mir.“
Kurt unterdrückte den Impuls, aufstehen und davonrennen zu wollen. Sichtlich beeindruckt sagte er mit leiser Stimme zu dem alten Mann, der sich bisher nicht bewegt hatte: „Sind Sie ein Zauberer ? Wie haben Sie das hören können ?“„Versteht der Sinn nicht das Warum,
so denkt er, Zauberei geht um.
Doch sei gewiß, o junger Mann,
daß nur ein Zauber dies nicht kann.
Die Stille mag das Hören schärfen,
und Weitsicht in das Sehnen werfen.
In Unrast ist dein Innres wund;
weitab von Augen, Ohren, Mund,
vermag dein Geist jedoch zu sehen
und in die Ewigkeit zu gehen.“Tiefes, nahezu andächtiges Schweigen lag in der Luft.
Es war Abend geworden. Die Sonne berührte bereits den Horizont, und die Kälte der nächtlichen Sahara begann, die Gluthitze des Tages abzulösen.
Lisa und Kurt hatten sich nach der letzten Rede des Alten lange angesehen. Nein, mit einem Irren hatten sie es nicht zu tun. Hier waren sie vielleicht wirklich auf einen der sagenhaften Weisen des Orients gestoßen, die in Abgeschiedenheit von der Welt die letzten Rätsel des Seins meditativ zu ergründen versuchten.
Lisa holte sich eine Jacke aus dem Jeep und setzte sich dann wieder neben Kurt in den Sand. Zusammen beobachteten sie intensiv den alten Wüstenmann, der seit ihrer Ankunft noch keinerlei körperliche Bewegung gemacht hatte. Und obwohl der Alte sie mit noch keinem Blick gewürdigt hatte, fühlten sie, wie er sie umfassend beobachtete. Nicht nur äußerlich; je länger sie ebenfalls schweigend im Sand saßen, fühlten sie seine Anwesenheit auch innerlich, ihr gesamtes Wesen ausleuchtend, jedoch nicht unangenehm und aufdringlich, sondern in sanfter, klärender Weise.
Die Stille tat ihre Wirkung. Mit ganz verändertem Tonfall fragte Kurt nach einer Weile den Alten: „Wieso sind Sie eigentlich hier in der Wüste ein Einsiedler geworden ? Hatten Sie genug von der Welt ?“
„Wer sagt dir, daß ich einsam bin ? Habe ich nicht die Fülle der Welt in der Stille der Welt zur Verfügung ? Einsam ist der, dessen Sicht und Gehör noch verschlossen sind, den er sitzt im Kerker seiner kreisenden Gedanken fest.“
„Wenn Sie mich mit dem Eingekerkerten meinen, stimmt das aber nicht !“ wand Kurt ein. „Ich habe klare Lebensziele, und wir beide haben auch gerade erst frisch geheiratet.“
„Überdenke den Sinn deiner Ziele, prüfe den Grund deiner Ehe, dann laß uns weiterreden !“ gab der Alte zurück, und der Tonfall seiner Stimme ließ ahnen, daß er so schnell nichts mehr von sich geben würde.
Gerade wollte Kurt sich an Lisa wenden, um zu beratschlagen, ob sie nicht doch lieber gleich an der kleinen Quelle Wasser fassen und dann weiterfahren sollten, da geschah etwas sehr Eigenartiges: Just als die hereinbrechende Dunkelheit etwa den Grad erreicht hatte, bei dem sich in Europa gewöhnlich die Straßenbeleuchtung einschaltet, flackerte plötzlich etwa einen Meter vor dem Alten ein Feuer auf. Jetzt erst bemerkte das Hochzeitspaar die kleinen Holzscheite, die anscheinend die ganze Zeit hier im Sand gelegen hatten. Doch wer hatte sie entzündet ? Der Alte sichtlich nicht.
Kurt sprang auf, untersuchte die Stelle mit den Scheiten, setzte sich wieder zu Lisa und hauchte: „Da ist nichts, kein Streichholz, kein Zünd-Mechanismus oder so etwas. Ich glaube, wir verschwinden lieber, jetzt wird es langsam unheimlich. Einen Kanister Benzin haben wir ja noch...“
Lisa war jedoch mittlerweise in eine ganz andächtige Stimmung verfallen und flüsterte zurück: „Nein, laß uns bleiben. Das ist ein ganz großer Weiser, mit ganz hohen Fähigkeiten ausgestattet. Spürst du nicht, welch ein Frieden von ihm ausgeht ? Wenn wir bleiben, werden wir einiges davon profitieren können. Komm, setz dich wieder hin und denke über den Sinn von Lebenszielen und Ehe nach, wie er es dir geraten hat. Der Mann wird uns noch manches Hörenswerte erzählen, da bin ich mir sicher...“Die Situation war grotesk.
Da saß nun ein Ehepaar auf Hochzeitsreise vor einem orientalischen Wüsten-Einsiedler im Sand einer Sahara-Oase und versuchte, im Schein eines kleinen Feuers über nahezu philosophische Dinge nachzudenken. Abseits der zivilisatorischen Hektik, ja sogar abseits der ausgestandenen Angst wegen der Irrfahrt in der Wüste hatten Lisa und Kurt tatsächlich damit begonnen, über den Sinn des Lebens nachzudenken, doch es war irgendwie kein Denken im üblichen Sinne mehr, sondern es hatte sich eine eigenartige, übergeordnete Betrachtungsweise bei beiden eingestellt, die ihr gesamtes Leben auf rätselhafte Weise sozusagen von oben herab beschien und durchleuchtete. Der Alte hatte mit seiner Ausstrahlung das Vermögen zu dieser Betrachtungsweise der inneren Stille in ihnen geweckt.
Kurt kamen nun seltsame Bilder ins Bewußtsein. Bilder seines allzu geradlinig verlaufenen Lebens. Ja, da gab es ein Ziel, das mit beruflichem Erfolg zu tun hatte, Karriere, Anerkennung, irgendwann mal ein Eigenheim, alles sehr geradlinig, übersichtlich, katastrophal, wenn diese Dinge nicht erreicht werden könnten, so wichtig waren sie in seinen Vorstellungen. Außerhalb dieser geraden Linie gab es nichts, rein gar nichts. Kurt sah den möglichen Verlauf seines Lebens nun wie eine Straße durch einen nebligen Sumpf. Nach vorn konnte man blicken, doch nach links und rechts behinderte dichter Nebel die Sicht. Es war wie ein Wandern mit Scheuklappen. Und irgendwie wußte er, daß die Essenz seines Lebens gar nicht auf der scheinbar geradlinigen Straße lag, sondern im Nebel daneben, ja, es schien ihm sogar, als ob mitten im Nebel verborgen seine eigentliche Lebens-Aufgabe in Form eines viel klareren und zielstrebigeren Weges verborgen lag. Doch so sehr er sich auch bemühte, er vermochte den Nebel nicht zu vertreiben. Vorerst...
Lisa hatte ihre Ehe als Betrachtungs-Objekt genommen. Wie glücklich war sie gewesen, als Kurt - die wirklich große Liebe ihres Lebens - sie heiraten wollte. In inneren Bildern sah sie zunächst ihre Trauung, dann ihre Zukunft, Gründung einer Familie, ein kleines, gemütliches Nest, das es zu bauen und zu erhalten galt. Doch ganz plötzlich weitete sich der Blick, ganz plötzlich gab es da viel mehr als nur die Familie, und dieses mehr hatte Lisa vorher überhaupt nicht wahrgenommen, zu sehr waren ihre Gedanken auf ihren Traummann und die zukünftige Familie fixiert gewesen. Viele Menschen und Situationen traten nun in ihren Blickwinkel. Zunächst erschienen sie grau und unscheinbar, ohne Gesichter, ohne Persönlichkeit, irgendwie gar nicht zu ihr gehörend. Doch dann traten sie heran, die anderen, die vielen und wimmerten unglücklich: „Nimm uns doch auch wahr, wir wollen auch geliebt werden...“
Da bekamen die grauen Gesichter langsam Ausdruck und wurden Symbol einer ungeheuren Sehnsucht, der Sehnsucht jedes Menschen zu lieben und geliebt zu werden. Dann stand da plötzlich Kurt in dieser Vision, doch er wirkte ebenso unglücklich wie die anderen grauen, sehnsüchtigen Gesichter. Er wirkte erstickt und alt. „Erdrücke mich nicht mit deiner Liebe !“ schrie er in einem Anflug von Verzweiflung, und Lisa sah die unzähligen rotglühenden Fesseln und Ketten, die sie um ihren Geliebten gelegt hatte. Waren diese Ketten wirklich Liebe ? „Nein, nein, nein !“ kam es in ihr hoch. „Das ist keine Liebe, das ist erdrückendes Besitzenwollen. Ich habe ihn als meinen Gefangenen nur für mich beansprucht. Oh, wie entsetzlich...“ Und in ihrer Vision nahm sie nun Kette um Kette von ihrem Ehemann ab und konnte dabei beobachten, wie sein Gesichtsausdruck nun immer freier und klarer wurde. Parallel dazu veränderten sich aber auch die Gesichter der Grauen um sie herum, denn je mehr Ketten der Erdrückungs-Liebe sie von ihrem Mann abgenommen hatte, desto mehr Funken an aufrichtiger Herzensliebe sprang zu diesen Menschen über, die da plötzlich zu spüren schienen: Wir werden geliebt. Und da war eine Liebe, die nicht binden oder erdrücken konnte, das war eine Liebe, die nur befreien konnte, weil sie sich selbst verschenkte, aus einer geheimnisvollen ewigen Funken-Quelle tief im Menschen-Herzen in unendlichem Maße sprudelnd...Lisa und Kurt hatten jedes Zeitgefühl verloren, als sie beide nahezu gleichzeitig ihre meditative Betrachtung beendeten und sich im Wachbewußtsein im Sand neben dem alten Mann sitzend wieder vorfanden.
Kurt hob die Hände zu einer fahrigen Geste und fuhr sich ein paar Mal durchs Haar, als ob er den Nebel seines Lebens dadurch wegwischen wollte. Lisa sah ihn nur fragend von der Seite her an. Dann begegneten sich die Blicke der Frischvermählten, und selten zuvor hatten sie solche Zärtlichkeit in ihnen verspürt. Es war, als ob ihre Ehe jetzt erst begonnen hätte...
Der Einsiedler schien zu spüren, daß die beiden jungen Leute sich wieder bewußt im Jetzt befanden, so sprach er: „Der Sinn des Seins liegt nur scheinbar in den Vorgaben der Umwelt, er liegt ausschließlich in den Vorgaben der Seele, die bei vielen hinter dichtem Nebel verborgen liegt, doch stets danach drängt, befreit zu werden, um sich entfalten zu können. Konntet ihr nun die Fülle in der Stille fühlen, ihr, die ihr zu mir geschickt wurdet, um eurer Krusten ledig zu werden ?“
Kurt und Lisa sahen sich fragend an, doch ließen sie die Worte zunächst wirken. Unüberlegt antwortete jetzt keiner von beiden mehr. Schließlich sagte Lisa in die Stille: „Wieso wurden wir geschickt ? Wir haben uns doch nur verirrt ?“
Und die Antwort kam umgehend: „Die Marionette namens Mensch hängt an den seidenen Fäden des Schicksals, ohne gewahr zu werden, wie sehr die Fremdsteuerung das gesamte Leben durchdringt. Zerschneide die Fäden, meine Tochter, dann wirst du frei sein. Doch was tust du dann mit dieser Freiheit ? Wirst du sie in Zügellosigkeit ausleben und ein Leben in genußvollen Ausschweifungen führen ? Nein, du wirst sie gebrauchen, um nun freiwillig eine neue Bindung einzugehen: Du wirst dein Leben der Entfaltung des All-Seins in deinem Herzen widmen. Dann hast du aus einer Abhängigkeits-Sklaverei eine Hingabe-Befreiung gemacht. Von da an kannst du auf eine unfehlbare innere Führung vertrauen. Denke also nicht, daß es ein Zufall war, daß ihr beide zu mir gelangt seid. Es mußte so sein, um eure Befreiung einzuleiten.“
Da dachte Lisa an die roten Ketten in ihrer Vision, mit denen sie ihren Mann gebunden hatte. Sie verstand und schwieg, ahnend, daß nur das Darbringen des ganzen Lebens an alle Menschen zu eigener Befreiung und zur Befreiung der Nächsten führen kann.
Zäh und mühsam kam es jetzt aus Kurt heraus: „Wie kann ich den Nebel vertreiben, der mich ständig halbblind leben läßt ?“
Da lächelte der Alte, denn er wußte, daß der Beginn einer befreienden Transformation bei den Beiden bereits initiiert war. Er erwiderte: „Allein dadurch, daß du fragst, hast du bereits die Winde gerufen, die ihn verwehen werden. Und aus Winden werden Stürme werden, wenn du dich nun regelmäßig in die Versenkung begibst, um zu erfahren, was in dir liegt und wessen Kind du bist.“
„Wessen Kind..., wie meinen Sie das ?“
„Du wirst es erfahren, aus dir selbst heraus, wenn du all die Ernsthaftigkeiten des verstandesgetriebenen Lebens vertauschst mit erblühenden Blumen der Wiese des Herzens-Lebens.“
Der alte Wüstensohn machte nun eine Pause, um nach kurzer Zeit mit wunderbarer Stimme einen Gesang zu beginnen. Erstmals sang er jetzt einen Reim in klarem Deutsch, und seine Stimme klang so hell und klar, als ob ein Jüngling der Regensburger Domspatzen ein meisterliches Solo darbringen würde:„Viele Stunden seines Seins,
verbringt der Mensch im Grübeln.
Er fragt sich kopfzerbrechend eins:
Was ist der Grund von Übeln ?
Dann sucht er nach dem Lebenszweck,
doch sieht er nur nach außen,
so findet er nur allen Dreck,
den jeder wirft nach draußen.
Zwar spürt er, daß die Lebenshast
den tiefren Sinn verdrängt,
doch tief enttäuscht und ohne Rast
er nicht das Feuer fängt,
das lodern muß, um aus den Grüften
herauszulocken jenes Kind,
das dort in weichen Blumendüften
das Lied der ew‘gen Seele singt.
Doch irgendwann wird er begreifen,
wohin die Suche führt.
Er muß nicht zu den Sternen schweifen,
er wird im Jetzt berührt !
Das Schicksal bringt ihm jenen Ruf,
den Blick ins Herz zu wenden,
auf daß nun alles, was er schuf,
die Schöpfung hält in Händen.“Dann schwieg der Alte wieder, und immer noch äußerlich regungslos blickte er in die Weite des nächtlichen Sahara-Himmels, an dem die Sterne in dieser Nacht so hell funkelten, als ob sie ausdrücken wollten: „Auf Erden haben sich wieder zwei Wesen auf den Weg des inneren Erwachens gemacht...“
Kurt und Lisa waren irgendwann einmal weitergefahren, nachdem sie Wasser aus der Oasen-Quelle nachgefüllt hatten. Kurze Zeit darauf stießen sie unverhoffterweise auf eine markierte Piste und vermochten sich somit wieder zu orientieren.
Als sie am nächsten Tag in einer kleinen Stadt rasteten, fragten sie wißbegierig nach der Oase, an der sie den Weisen getroffen hatten. Kurt markierte die fragliche Stelle möglichst genau auf der Detail-Karte und zeigte sie einem Tuareg, der jene Gegend der Sahara wie seine Westentasche kannte, wie er sagte. Dieser lachte nur und antwortete: „Nein, mein Herr, in dieser Gegend werden Sie auf Hunderten von Quadrat-Kilometern keine Quelle finden, keine Oase und erst recht keinen Einsiedler. Sie ist absolut wasserfrei und lebensfeindlich.“
„Aber wir haben doch den Mann getroffen und Wasser in seiner Oase nachgefüllt, nachdem wir uns verfahren hatten...“ erwiderte Kurt verblüfft.
Der Tuareg lachte immer noch breit, und sogar seine zwei großen Zahnlücken schienen mitzulachen, als er erwiderte: „Dann werden Sie wohl eine Fata Morgana erlebt oder einen Dschinn gesehen haben. So etwas soll es geben...“
Dann wurde der Blick des Tuareg plötzlich sehr ernst, als er hinzufügte: „Vielleicht haben Sie aber auch den Wissenden getroffen...“
Und als Kurt nachfragen wollte, was es mit diesem Wissenden auf sich habe, hatte sich der Wüstenbewohner mit einer kurzen, ehrfurchtsvollen Verbeugung umgedreht und war zwischen anderen Tuaregs verschwunden.
„Seltsam...,“ sagte Lisa, „als wenn vermieden werden sollte, daß wir nach dem Wissenden fragen können. Sein Geheimnis soll man wohl auch nicht erfragen, sondern einfach erfahren und es leben...“