Retardierung

Geschrieben von BBouvier am 07. Oktober 2003 11:54:46:

Als Antwort auf: Grundsatzartikel zu Kohäsion, Intoleranz und sozio-ökonomischer Differenzierung geschrieben von Andreas am 07. Oktober 2003 00:28:51:


Lieber Andreas, liebe Bonnie!

Eurer Diskussion zu folgen,
das ist ein ganz exquisiter Genuss, -Danke!
Kein Kommentar zu Euren Höhenflügen.

Erlaubt bitte dazu fogenden Gedanken
der dazu möglicherweise passen mag:

Im Mittelalter war das Lebensgfühl
der Epoche:
"Wie finde ich meinen Gott - wie werde ich selig"
(= Ein Weiser an der Schwelle zum Jenseits)

In der Renaissance:
"Wie erkenne ich die Welt?"
(= Ein Erwachsener mit tiefen Gedanken)

Im anbrechenden Industriezeitalter:
"Wie verändere/erobere ich mir die Welt?"
(= Junger Mann in ungstümem Tatendrang)

In der Gegenwart:
"Wie geniesse ich die Welt, wie ´sauge ich sie aus´?"
(= Infantil-passives Babydasein ohne Verantwortung)

Insofern ist weiterer geistiger Rückschritt
kaum noch denkbar.

BB


>>Hallo Andreas, mir war der Dekadenzbegriff eigentlich immer sehr klar, aber ich gebe zu, ich habe auch nicht "wissenschaftlich" drüber nachgedacht.
>>Dekadent war die römische Gesellschaft in der späten Phase.
>>Zeichen für Dekadenz:
>>- Gelage (Spaßgesellschaft) mit Bulimie !! (Leute haben das Essen ausgekotzt, um mehr essen zu können, im Grunde kein Unterschied zu heute, nur wir nennen es Krankheit, noch dekadenter *gg*)
>>- Religionen waren erlaubt bzw. wurden geduldet (in Rom standen Isistempel etc), Parallele zu heute: Kopftuchurteil von neulich
>>Wie kann man Dekadenz definieren ? Ganz sicher sehe ich Dekadenz nicht als etwas an, was sich gegen alte Werte richtet (das ist Revolution, Aufstand, Umsturz, Rebellion). Aber in gewisser Weise hast du recht, Dekadenz macht auch die alten Werte kaputt, aber auf eine sanfte Art und Weise. Die alten Werte werden "totgeknuddelt" *gg*.
>>Ja, eine dekadente Gesellschaft stellt das Individuum in den Mittelpunkt und ist hypertolerant.
>>Also stellt eine nicht-dekadente (was ist das Gegenteil von Dekadenz?) junge, sich im Wachstum befindende Gesellschaft das Gemeinschaftsinteresse in den Mittelpunkt (zu Lasten des Individuums) und ist notwendigerweise intolerant.
>>Deckt das jetzt das meiste ab ?
>>Nimmt man jetzt Dekadenz der Gesellschaft und wirtschaftlichen Niedergang, hat man dann die Zutaten für das Dark Age ?
>>Liebe Grüsse, Bonnie
>Hallo Bonnie
>Deine Bemerkungen finde ich gut, du denkst gut mit. Genau solche Diskussionen mag ich. Ich werde versuchen, möglichst systematisch vorzugehen.
>Offensichtlich war ich zu wenig "wissenschaftlich" sondern zu intuitiv vorgegangen. Ich habe mich um saubere Definitionen herumgedrückt und mich dadurch selbst in Verwirrung gestürzt. Du hast recht, eine Revolution darf man nicht mit Dekadenz gleichsetzen. Eine Revolution würde ich vorsichtig als eine soziale Bewegung bezeichnen, die meistens nur von einer Minderheit getragen wird, deren Ergebnisse jedoch sehr wohl die gesamte Gesellschaft betreffen können. Sie hat etwas willentliches, ruckartiges, abruptes und nicht das schleichende wie die Dekadenz.
>Ich versuche meine Ausführungen anzupassen. Die Umwandlung der politischen Ordnung um 1800 in Frankreich vom absolutistischen zum parlamentarischen Staat, die Abschaffung der Ständeordnung (Adel, Klerus, "Nährstand") und die Einführung der auf "Freiheit" und "Gleichheit" basierenden Menschenrechte waren eine Revolution. Was aus diesem Gebilde seither geworden ist (lassen wir die Weltkriege der Einfachheit halber einmal vor), könnte man vielleicht als Dekadenz bezeichnen. Es gab seither prinzipiell-ideell keine Abkehr von, sondern eine Weiterentwicklung und Pervertierung den Werten des Individuums (Bsp.: exorbitante Schadensersatzforderungen), die immer differnzierter (es sind ja alle Menschen gleich!) wird und im Uferlosen mündet (gegen: die Diskriminierung von Frauen, Diskriminierung von Alten, Diskriminierung von Behinderten, Diskriminierung von psychisch Kranken, Diskriminierung von Prostituierten, Diskriminierung von Kinderschändern usf. [etwas übertrieben])
>Eine Revolution wird sich zwar meistens gegen eine soziale Ordnung richten oder gegen ein politisches System oder auch nur gegen die politische Führung(Palastrevolution), sie kann sich aber auch gegen die Dekadenz selbst richten. Ich behaupte, der Nationalsozialismus - den ich jetzt nur unter diesem Aspekt betrachte - hat versucht, gegen die Entwicklung anzukämpfen und die Entwicklung hin zu mehr Toleranz und Dekadenz zurückzudrängen. Der Nationalsozialismus hat deshalb auf soviele Menschen ein grosse Faszination ausgeübt, weil er durch seine Intoleranz ein hohes Mass an Kohäsion erzeugte in einer immer komplexeren Welt.
>Ich möchte weiss Gott nicht falsch verstanden werden als einer, der dem Nationalsozialismus das Wort redet. Doch eines müssen wir glasklar sehen: Unsere Gesellschaften erreichen - entgegen dem intuitivem Verständnis - nicht mehr Zusammenhalt (Kohäsion), indem sie immer toleranter werden. Die "indischen" Religionen, der Hinduismus und der Buddhismus werden oft als toleranter als das Christentum und der Islam beschrieben. Insofern als sie nicht einen absoluten Anspruch erheben und zur Mission aufrufen mag es auch stimmen, dass sie gegenüber anderen Moralsystemen weniger aggressiv auftreten. Doch auch in diesen Moralsystemen ist ein starres, intolerantes Regelwerk enthalten, man denke etwa an das Kastensystem.
>Nun kann man fragen ob wir uns vom Dark Age wegbewegen würden, wenn der Nationalsozialismus gegen die liberalen Ideen die Oberhand gewonnen hätte (Nochmals: ich sympathisiere NICHT mit nationalsozialistischem Gedankengut. Die Prämisse lautet dass wir seit der Französischen Revolution eine zunehmende Ausdifferenzierung und in gewisser Weise eine "Pervertierung" des Gleichheitsgedankens haben). Meine Antwort hierzu lautet:
>Erstens glaube ich aus humanistischer Perspektive, dass wir - wenn sich der Nationalsozialismus durchgesetzt hätte - eine der dunkelsten Epoche aller Zeiten erlebt hätten, die aus ethischer Sicht schwärzer gewesen wäre als das tiefste Dark Age.
>Zweitens glaube ich in Bezug auf die Diskussion des Dark Age Begriffes und der Begriffe Kohäsion und Dekadenz im engeren Sinne, dass der Nationalsozialismus trotz eines Sieges das Ruder nicht dauerhaft hätte herumreissen können.
>Weshalb? Ich habe mir folgendes überlegt: Eine Gesellschaft auf einem hohen "Scale-Niveau" ist oder wird eine ökonomisch und sozial ausdifferenzierte Gesellschaft.(Scale = Interaktionsdichte infolge Bev'wachstum aber auch Kommunikations- und Transporttechnologie). Ich will mich nicht wieder zu früh zum Fenster rauslehnen, sondern stelle zunächst nur einmal vorsichtig - so dass es trivial klingt - fest, dass es vielleicht eine Korrelation gibt zwischen der soziö-ökonomischen Ausdifferenzierung von Gesellschaften und der Toleranz/Dekadenz.
>Die Öffnung des moralischen Gefüges in Richtung Toleranz ist vielleicht genauso notwendig wie die Entwicklung des politischen Systems hinzu mehr Demokratie, damit das Ganze nicht "erstarrt". Das mag lange gut gehen, jedoch nicht ewig. Streng genommen ist damit das Fundament gelegt für den schlussendlichen Niedergang. Während das politische System seine ordnungsstiftende Integrations-Kraft verliert, ist das moralische Gefüge zwar unheimlich tolerant, vermag allerdings keinen Zusammenhalt mehr zu stiften. Irgendwann ist ein Endpunkt erreicht. Dann gibt es nur noch eins: Die Karten müssen vollends neu gemischt werden - in einem Dark Age.
>Gruss
>Andreas



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