Bizarrer Streit um Rassen und Russen
Geschrieben von Nexus am 01. Oktober 2003 16:55:12:
Als Antwort auf: Nachrichten (OT) (o.T.) geschrieben von BBouvier am 01. Oktober 2003 01:38:38:
Wie passend, hatten wir doch gestern genau das Thema. Und wie schön, dass sich Gelehrte alle wiedermal einig sind *ggg*.
"Bizarrer Streit um Rassen und Russen
Von Fritjof Meyer
Russlands Staatsgründer Rurik war ein Germane, heißt es gemeinhin. Falsch, sagt jetzt ein Moskauer Professor: Er war ein echter Slawe, und zwar aus Ostpreußen. Nun tobt eine bizarre Debatte um Nationalgefühl, Rassengeschichte und den Erwerb der ehemals deutschen Provinz.
Das Land versinkt im Chaos, da rufen örtliche Oligarchen nach auswärtiger Hilfe, die Anarchie zu bändigen. Einem gewissen Rurik von jenseits der Ostsee schicken sie eine Einladung: "Unser Land ist groß und fruchtbar, aber es ist keine Ordnung in ihm. Kommt, bei uns Fürst zu sein und über uns zu herrschen."
Rurik kommt, samt seinem ganzen Stamm, den "Rus". Er organisiert den ersten Staat der "Russen". Über 1100 Jahre ist es her, und plötzlich doch wieder ein hochaktuelles Thema: Es geht um Russlands neues Selbstbewusstsein und ganz konkret um eine jüngere Erwerbung - die frühere deutsche Provinz Ostpreußen.Suche nach einem Grund für Erwerb Ostpreußens
Schlechtes Gewissen oder Kalkül? Russische Nationalisten suchen plötzlich nach einer Begründung, warum der Norden der einstmals blühenden Landschaft heute zu Russland gehört. Die deutschen Voreigentümer kennen den schlichten Grund: der Sieg der Sojwets im Zweiten Weltkrieg. Sie fechten den Moskauer Besitztitel überhaupt nicht an. Die wenigen, die noch leben, möchten kaum noch in das versumpfte Gebiet zurück - selbst wenn man sie riefe wie einst Rurik.
GMS
Ostpreußen: Bizarrer Disput um die Geschichte der ehemals deutschen Provinz
Der war ein Waräger, also Normanne aus Skandinavien, da ist sich die Geschichtswissenschaft einig in Ost und West. Doch der germanische Ordnungsfaktor beleidigte schon immer die Seele russischer Radikalpatrioten, zumal auch nach dem Ende der Rurikiden-Herrschaft im 15. Jahrhundert immer wieder Deutsche auf dem Zarenthron, im Zarenbett oder auf sonstigen Schlüsselposten den Russen ihre Ordnung anempfahlen.Selbst Lenin ("Lerne vom Deutschen!") wurde eine deutsche Großmutter angelastet, Gorbatschow als Wahldeutscher beschimpft. Eine gut gemeinte Biographie des derzeitigen Staatschefs Wladimir Putin unter dem Titel "Ein Deutscher im Kreml" wirkt dort eher kontraproduktiv.
Rurik wird postum umgesiedelt
Endlich behauptet ein vaterländischer Forscher namens Andrej Sacharow, Staatsgründer Rurik sei in Wahrheit kein Import aus germanischen Wäldern gewesen, sondern ein waschechter Slawe. Mehr noch: Weil die Kriegsbeute Königsberg, heute Kaliningrad, einer ungewissen Zukunft entgegengeht - als Enklave innerhalb der EU -, behagt den Moskauer Chauvinisten eine neue Botschaft: Der zum Slawen mutierte Rurik ist nicht nur Slawe, sondern stammt sogar aus dem Kaliningrader Gebiet.
FRANK SCHUMANN
Fritjof Meyer
berichtet seit 1966 als Ost-Experte für den SPIEGEL. Zu seinen Buch-
veröffentlichungen zählen: "Weltmacht im Abstieg: Der Niedergang der Sowjetunion" und "Nach dem Sturm erhebt sich der gebeugte Bambus: China nach der Kulturrevolution". Für SPIEGEL ONLINE analysiert er regelmäßig die neuesten Entwicklungen in Osteuropa.
Dort hatten Slawen zwar nie gelebt, sondern die Pruzzen, welche jedoch - Konsens der Wissenschaftler hier wie da - Balten waren. Also befindet nun der treurussische Gelehrte Sacharow im Alleingang, Rurik sei Pruzze und die Pruzzen seien Slawen gewesen.Das ist wichtig nicht nur für das Nationalbewusstsein, sondern auch für die Außenwerbung. Übernächstes Jahr feiert die Stadt den gesicherten Fakt, dass sie vor 750 Jahren gegründet wurde, und zwar vom Deutschen Ritterorden. Was tun, da sie deutsch gewesen und seit kurzem erst Kaliningrad ist?
Der Name "Königsberg" auf dem Index
Die Regierung in Moskau wusste Rat: Bei den fälligen Feierlichkeiten darf niemals das Wort "Königsberg" auftauchen, sondern stets nur der Name aus den letzten 50 Jahren, der den verblichenen Sowjetpräsidenten Michail Kalinin ehrt - Stalins Freund und emsigen Schreibtischmörder. Der Wortstreich weckt Widerstand. Schon leistete sich der Moskauer Geograph Leonid Tschekin, 33, in der Berliner Zeitschrift "Osteuropa" den ironischen Vorschlag, die Stadt umzutaufen: in "Rurikgrad".
Nationalhistoriker Sacharow behauptet, Kaliningrader Archäologen hätten Spuren aus der Rurik-Zeit gefunden, welche auch für diese Gegend die Siedlung von Ostsee-Slawen beweisen. Warum auch nicht, trotz der recht eigensinnigen Pruzzen? Die westslawischen Stämme siedelten vormals sogar im Hamburger Umland. Sie wurden bis zur ersten Jahrtausendwende von den deutschen Eroberern nach Osten gedrängt, hinter die Weichsel. Die Pruzzen wurden ausgerottet.
Von Rugiern zu Ruthenen zu Russen
In Mecklenburg allerdings regierte ein Slawenfürst noch bis 1918. Zu den slawischen Ostseeanrainern gehörte auch der Stamm der Rugier, von dem die Insel Rügen ihren Namen bezog, ferner zählten dazu Ruthenen (wie man früher die Ukrainer und Weißrussen nannte) - vielleicht modelte sich der Name ja in "Rus". Messerscharf folgert Sacharow: Ostpreußen ist "alter slawischer Boden".
Doch der Ideologe, Träger nur desselben Namens wie der berühmte Sowjet-Dissident und Nobelpreisträger, hat auf seiner Seite immerhin Michail Lomonossow, Russlands Allround-Genie des 18. Jahrhunderts und angeblicher Erfinder von Fahrrad und Flugzeug. Lomonossow hielt Rurik für einen Pruzzen und die Pruzzen - von denen der Name "Preußen" abgeleitet ist - eben für Slawen. "Von dieser Interpretation hatte sich die russische Geschichtswissenschaft jedoch bereits vor 200 Jahren verabschiedet", bemerkt Sacharow-Kritiker Tschekin.
Mogelei mit Fundstücken
Er hat festgestellt, woher sein Widerpart die Angaben über die Bodenfunde bezog: Sie stammen gar nicht von Kaliningrader Archäologen, nicht aus Kaliningrad und nicht nur von Slawen, sondern kamen im heute polnischen Elblag ans Licht. Dort steckten aber auch pruzzische, skandinavische, byzantinische, westeuropäische und byzantinische Fundsachen im Erdreich. Die Gegend erschien ganz multikulturell, waren die Waräger doch bewaffnete Kaufleute mit weitreichenden Kontakten. Als Handelsgenossenschaften ruderten sie Russlands Flüsse hinunter bis ins Schwarze Meer und zum heutigen Istanbul.
Für seriöse Archäologen kommt der Stammesname "Rus" ("Ruderer") aus der Sprache der Pruzzen, und Slawen seien die nicht gewesen. Schon wittert Tschekin "ernsthaften Schaden" für eine russische Nationalidee, weil Sacharow sich als neuen Mythos der "Rasse" bediene.Allerdings kann sich Rassenforscher Sacharow auf ein weiteres Genie als Gesinnungsgenossen berufen. Ostpreußen sei altes Slawenland, begründete ein noch größerer Wissenschaftler seinen westlichen Alliierten 1945 die Landnahme: Josef Stalin. Doch auch der war kein Slawe, sondern Georgier.