Ein Volk ohne Prophetie geht zugrunde - Hl. Hildegard
Geschrieben von Epidophekles am 17. September 2003 21:01:13:
Als Antwort auf: Heute ist der Gedenktag von Hildegard von Bingen geschrieben von Zwobbel am 17. September 2003 09:24:44:
Aus der neuesten Hildegard Zeitschrift Nr. 86 / Sept. 2003:
VORWORT
Es ist das Bestreben unserer Gesellschaft, die Botschaften der heiligen Hildegard von Bingen für die heutige Zeit zu übersetzen. Immer wieder ist zu hören, dass man Hildegard nicht "naiv aktualisieren" könne, sondern sie als mittelalterliche Mystikerin dort stehen lassen solle, wo sie hingehöre: nämlich ins Mittelalter.
Wer aufmerksam unsere Zeitschrift verfolgt, wird im Gegensatz dazu bemerkt haben, dass die Erkenntnisse Hildegards uns heute auf allen Ebenen hochaktuelle Informationen vermitteln, das heisst im Klartext, dass Hildegard wirklich eine Prophetin ist.
Zu diesem Thema hielt Sr. Cäcilia Bonn OSB aus der Abtei St. Hildegard in Eibingen bei unserer Tagung in Bingen vom 19. bis 22. Juni 03 einen Vortrag, der grosse Beachtung und sehr grosse Resonanz fand. Wir drucken den ersten Teil in dieser Nummer der Zeitschrift ab.
Das Thema des anderen Vortrags: "Was ist der Mensch? - Hildegard von Bingen und die Krise des heutigen Menschen" zielt ebenso in unsere aktuelle Situation. Dieser Vortrag wird im nächsten Heft veröffentlicht.
Wir sind bestrebt, den Inhalt der Zeitschrift breit zu fächern, zum einen, um dieser universalen Frau Hildegard von Bingen gerecht zu werden, andererseits um den verschiedenen Interessensschwerpunkten unserer Mitglieder gerecht zu werden.
Es würde Hildegard unzulässig verkürzen, wenn wir sie nur als kräuterheilkundige Nonne verbreiten würden.
Unter diesem Aspekt dürfen wir Sie noch einmal auf unsere Jahrestagung in Mariastein vom 25. bis 27. September 2003 hinweisen, die unter dem Thema "Herz" steht.
Das Herz ist nicht nur eine Pumpe, sondern auch der "Sitz der Seele". Es muss deshalb ganzheitlich gesehen und behandelt werden. Das wollen wir bei dieser Tagung tun. Wir laden Sie herzlich zu dieser Tagung ein. Das Programm finden Sie im letzten Heft (Nr. 85).
Wieder einmal möchte ich Sie darum bitten, sich aktiv an der Gestaltung der Zeitschrift zu beteiligen, indem Sie uns Rückmeldungen und Anregungen geben oder auch kritische Anfragen an uns schicken.
Im Geiste der hl. Hildegard verbunden
Hildegard Strickerschmidt
Präsidentin
HILDEGARDIS PROPHETISSA -
DIE PROPHETIN HILDEGARD1. Teil
Vortrag von Sr. Cäcilia Bonn OSB, Abtei St. Hildegard, in Eibingen am 21. Juni 2003,
anlässlich der Hildegard-Tagung in Bingen
Hildegard - die ProphetinMan kann Hildegard als Ärztin, Mystikerin, Heilkundige oder Komponistin bezeichnen - vor allem aber ist sie ihrer Sendung nach Prophetin, wie es im Epheserbrief 2,2 vom hl. Paulus beschrieben wurde.
In der Liturgie ihres Festes singen wir die Antiphon: "Hildegardis prophetissa, Spiritus Sancti splendoribus illustrata, vias Domini revelavit". Prophetin Hildegard, du warst vom Licht des Hl. Geistes erleuchtet und hast die Heilswege des Herrn gewiesen."
Im Konzil hat sich die Kirche zum prophetischen Amt bekannt. "Das prophetische Amt Christi ist dem ganzen Volk Gottes vom Hl. Geist mitgeteilt worden ... wenn sie im Namen Gottes zu allen - auch zu den Hirten der Kirche - gesprochen haben." "Ihr seid auf dem Fundament der Apostel und Propheten aufgebaut" (Eph. 2,20). Hildegard kann in Wahrheit "Prophetin Deutschlands" genannt werden, denn ihr radikal Gott geweihtes Leben liess sich ständig vom geoffenbarten Wort Gottes und von den Zeichen der Zeit befragen. (In Scivias zitiert sie 560 mal das Alte Testament und etwa 600 mal das eue Testament )
Kirchliche Anerkennung
Auf der Synode zu Trier 1147 liess Papst Eugen 111. eine sorgfältige Untersuchung der Sehergabe Hildegards durchführen, dann übernimmt er mit Zustimmung der Konzilsväter selbst das Amt des Vorlesers - und gab dann in einem Schreiben "im Namen Christi und des hl. Petrus" die Erlaubnis, "kundzutun, was immer sie im Hl. Geist erkenne" und forderte sie zum Schreiben auf. Diese Anerkennung ihres prophetischen Charismas und die apostolische Autorisierung zu Lebzeiten Hildegards ist einzigartig.
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Prophetische Berufung
Ihre prophetische Berufung empfing Hildegard, als sie im 43. Lebensjahr stand. Aus offenem Himmel blitzte ein feuriges Licht durchdrang sie ganz und schenkte ihr Einsicht in die Schriftauslegung (etwa 1000 Zitate). Immer wieder gibt sie ihren Worten Gewicht wenn sie vor allem auf die Propheten des AT verweist. "Das hat schon der Prophet gesagt." Seit früher Jugend schaute sie die Gesichte bei wachem Zustand und klarem Verstand an zugänglichen Orten.
"Ich sprach und schrieb nichts aus eigener Erfindung oder irgend eines Menschen, sondern wie ich es durch die verborgenen Geheimnisse Gottes empfing. " Und wiederum hörte ich eine Stimme zu mir sagen:" Verkünde es also laut und schreibe es nieder!"
"Ich masse mir nicht an, die Zukunft des Menschen zu erfragen, weil es für die Seele besser ist, sie nicht zu wissen." So lautet die Antwort an eine Äbtissin, die wegen eines Ortes für ihre Gründung anfragt. "Dafür bemühe nicht um Visionen. Suche dir einen geeigneten Platz, an dem du deine Gemeinschaft ernähren kannst!"
In Lauterkeit und Einfalt redet sie nichts, als was sie sieht und was sie hört. Gott eröffnet ihr rein aus Gnade - wie durch ein Fenster - etwas von seinen Mysterien.
Ein Volk ohne Prophetie geht zugrunde
Ein salomonisches Weisheitswort lautet: "Ein Volk ohne Prophetie geht zugrunde." Es ist wie eine Bankrotterklärung des alttestamentlichen Volkes, wenn es bei Ezechiel und in den Klageliedern heisst: "Sie verlangen vom Propheten Visionen, aber er gibt keinen Bescheid, keine Weisung ist da, auch keine Offenbarung schenkt der Herr ihren Propheten, Zeichen für uns sehen wir nicht, es ist kein Prophet mehr da. Niemand weiss wie lange noch." Das Volk füh'lt sich von seinem Gott verlassen. Die Katastrophe besteht nicht nur darin, dass die politischen Führer in die Verbannung geschleppt werden. Das prophetische Wort würde auch in dieser Krise Perspektiven der Zukunft, des Heilswillens und der Heilswege Gottes eröffnen können. Nicht nur das Gesetz ist also für das Überleben eines Volkes und des einzelnen Menschen notwendig, sondern ebenso die Prophetie.
Gilt das alles auch für die neutestamentliche Gemeinde Gottes? Ist nicht durch die Offenbarung Jesu Christi alles Licht in diese Welt gekommen? Zeigt sich die Kirche nicht auch auffällig zurückhaltend im Hinblick auf die Prophetengabe, die uns schon in neutestamentlichen Gemeinden beschrieben wird?
Echte und falsche Propheten
Die Unterscheidung zwischen echten und falschen Propheten war immer schon ein schweres Problem. Aber auch die neutestamentliche Kirche verkündet die Botschaft Christi nicht nur Kraft der Autorität ihres Lehramtes, sondern auch je neu in der Autorität der vom Geiste Gottes ergriffenen Propheten und Mystiker. Ihnen eröffnet Gott - rein aus Gnade - wie durch ein Fenster (fenestraliter) etwas von seinen Mysterien.
Sie haben die Aufgabe, aus dem Licht der Offenbarung aktuelle Sinnzusammenhänge aufzudecken und dem notwendigen Handeln Richtung und Wegweisung zu geben_ Scivias, Wisse die Wege!" So wurde Hildegard in ihrer Schau der Titel ihres ersten Visionswerkes genannt. Ich glaube, wir haben heute wieder neuen Zugang zum prophetischen Phänomen, da wir in den verwirrenden Abläufen geschichtlicher oder kosmischer Gegebenheiten nach Perspektiven suchen. Diese müssen uns gezeigt werden, wir können sie nicht alleine finden.
Kein Wunder also, dass seit einigen Jahrzehnten eine wahre HildegardRenaissance stattfindet, und dies nicht nur im theologischen, ökologischen oder naturheilkundlichen Bereich, sondern im Hinblick auf den Sinn menschlicher Existenz überhaupt.
Eine Schauende von Kind auf
Hildegard besass seit ihrer Kindheit die Gabe der aussergewöhnlichen Schau. In einem Brief an Abt Wibert von Gembloux, der ihr in den letzten Jahren als Sekretär zur Seite gestanden hat, schreibt sie: "Von meiner Kindheit an erfreue ich mich der Gabe dieser Schau in meiner Seele bis zur gegenwärtigen Stunde, wo ich doch schon mehr als 70 Jahre alt bin. Und meine Seele steigt - wie Gott will - in dieser Schau empor bis in die Höhe des Firmamentes."
Diese Gabe hat sich nach ihrem eigenen Zeugnis im Laufe ihres Lebens weiter entwickelt. Seit ihrem fünften Lebensjahr, so berichtet sie, war sie in der Lage gewesen, ihre Visionen zu deuten und zum Ausdruck zu bringen. Befragen wir Hildegard selbst, wie sie ihre Visionen erlebt hat. In dem eben genannten Brief berichtet sie: "Ich sehe diese Dinge nicht mit den äusseren Augen und höre sie nicht mit den äusseren Ohren, auch nehme ich sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr, noch durch irgendwelche Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele mit offenen leiblichen Augen, sodass ich dabei niemals die Bewusstlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und Nacht."
Ihre Visionen sind jedoch kein harmloses und unbeteiligtes Sehen und Erkennen, sondern ein gewaltiger Vorgang, der Hildegard bis ins Innerste betrifft, wie sie selbst im Vorwort zu ihrem Werk Scivias berichtet: jm Jahre 1141 als ich 42 Jahre und sieben Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder. Es durchströmte mein Gehirn und durchglühte mir Herz und Brust gleich einer Flamme, die jedoch nicht brannte, sondern wärmte, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den sie ihre Strahlen legt. Nun erschloss sich mir plötzlich der Sinn der Schriften..."
Keine eigene Sicherheit
Hildegard, die im hohen Alter von sich bekennt, dass sie von Kindheit an keine Stunde in Sicherheit gelebt hat, drängt auf eine kirchliche Überprüfung ihrer Gabe.
Bernhard von Clairvaux, an den sie sich in ihrer Not wandte, vermittelt den Entscheid der höchsten kirchlichen Autorität. Auf der Synode zu Trier 1147/48 erklärt Papst Eugen Ill. unter dem mächtigen Beifall der anwesenden Kardinäle und Bischöfe ihre Schau als echt und ermutigt sie, dem Volke Gottes und der ganzen Welt ein Licht und eine Hoffnung zu sein. Prophetissa Teutonica - die Prophetin der Deutschen - wird sie nun genannt. Sie selbst vergleicht sich mit einer Posaune, die den Ton zwar erklingen lässt, ihn aber nicht selber hervorbringt denn ein anderer bläst hinein, damit sie ertöne, Hildegard wird zum Magnet des ganzen christlichen Abendlandes. Keiner, der sich in seinen Nöten und Zweifeln an sie wendet, bleibt ohne das Licht Gottes. Noch im hohen Alter verlässt sie ihren begrenzten klösterlichen Lebensraum und kündet auf Kirch- und Marktplätzen, gelegen oder ungelegen, die Wahrheit Gottes in einer Zeit der Spaltung und der moralischen Schwäche.
Prophetische Stimme, die ins Herz trifft
Eigenartig, dass es mehr als 800 Jahre brauchte, bis diese prophetische Stimme uns wieder ins Herz trifft, und wir sie wieder verstehen, weil sie uns heute angeht. Warum wurde sie so lange vergessen, wenngleich auch die Verehrung der wundertätigen heiligen Frau im Volk immer lebendig blieb?
Als möglicher Grund hierfür wäre, schon bald nach dem Tod Hildegards, die Zeit einer subjektiven Minne mit Gott zu nennen, dann das fast ausschliessliche Verlangen, bei den Heiligen handfeste asketische Kost oder erbauliche Anweisungen für ein verinnerlichtes Leben zu suchen und zu finden. Hinzu kommt das fast gänzliche Fehlen einer Theologie der Schöpfung und der Ganzheitlichkeit, d. h. auch der Leiblichkeit des Menschen und vieles andere mehr.
In den Texten der hl. Hildegard dagegen steht nicht die menschliche Seele allein in der Liebesbeziehung zu Gott. Es ist immer der ganze Mensch aus Leib und Seele, der mit seinem Schöpfer ins Gespräch kommt und der sich dabei stets mit der Schöpfung im Verbund weiss (homo cum creatura). Er ist der Gesprächspartner Gottes und zugleich der Gesprächspartner für die ganze Welt, für die ganze Schöpfung.
"Die Elemente sind im Menschen und der Mensch wirkt mit ihnen.
Feuer, Luft, Erde, Wasser sind untereinander so eng verknüpft, dass keines vom anderen getrennt werden kann.'
(Fortsetzung im nächsten Heft)