Re: Der neue Faschismus

Geschrieben von Napoleon am 16. Mai 2003 07:30:36:

Als Antwort auf: O.T: 14 Merkmale des Faschismus geschrieben von Scorp am 15. Mai 2003 14:23:38:

Die neuen Faschisten

Der radikale Islam hat Züge angenommen, die uns an die faschistischen Bewegungen in Europa erinnern.

Von Francis Fukuyama

Die islamische Welt unterscheidet sich heutzutage von anderen Weltkulturen in einem wichtigen Punkt. In den letzten Jahren hat sie als
Einzige wiederholt bedeutende radikale moslemische Bewegungen hervorgebracht, die nicht nur die Politik des Westens ablehnen,
sondern das wichtigste Grundprinzip der Moderne selbst, das der religiösen Toleranz. Diese Gruppen haben den 11. September gefeiert,
weil eine Gesellschaft gedemütigt wurde, von der sie glauben, dass sie in ihrem Innersten verdorben ist. Diese Verdorbenheit ist nicht nur eine Sache von sexueller Freizügigkeit, Homosexualität und von Frauenrechten, wie sie im Westen existieren, sondern stammt ihrer
Ansicht nach von der Weltlichkeit selbst. Was sie hassen, ist, dass der Staat in westlichen Gesellschaften sich der religiösen Toleranz
und dem Pluralismus widmet anstatt der religiösen Wahrheit zu dienen.

Wenn wir erkennen, dass der zu Grunde liegende Kampf sich nicht nur gegen tatsächliche Terroristen richtet, sondern gegen radikale
Islamisten, die die Welt als manichäischen Kampf betrachten zwischen Gläubigen und Ungläubigen, dann sprechen wir nicht mehr von
einer kleinen und isolierten Gruppe von Fanatikern.

Warum entstand plötzlich diese neue Form des radikalen Islamismus? Soziologisch betrachtet, unterscheiden sich die Gründe nicht
gänzlich von denen, die Europa am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Faschismus führten. Die islamische Welt hat erlebt, wie in der
letzten Generation grosse Bevölkerungsteile aus ihrem traditionellen Dorf- oder Stammesleben herausgerissen wurden. Viele wurden
urbanisiert und einer abstrakteren literarischen Form des Islam ausgesetzt, die sie zurückführt zu einer reineren Form der Religion,
genau so, wie der extremistische deutsche Nationalismus versuchte, eine sagenumwobene, längst vergangene rassische Identität
wieder zu beleben. Diese neue Form des radikalen Islam ist deswegen so äußerst reizvoll, weil sie vorgibt, den Verlust von Werten
und die kulturelle Orientierungslosigkeit zu erklären, die der Prozess der Modernisierung selbst verursacht hat.

Deswegen dient es vielleicht der Klärung festzustellen, dass der momentane Konflikt nicht einfach ein Kampf gegen den Terrorismus ist
oder gegen den Islam als Religion oder Zivilisation, sondern gegen den islamischen Faschismus - das heißt die radikal intolerante und
antimoderne Doktrin, die sich in der letzten Zeit in vielen Teilen der islamischen Welt verbreitet hat. Viel von der Verantwortung für den
Aufstieg des islamischen Faschismus muss man Saudi-Arabien zuschreiben. Die Geschicke der saudi-arabischen Königsfamilie sind
seit vielen Jahren verschlungen mit denen der puritanischen Sekte der Wahhabiten. Erstere hat jahrelang versucht, sowohl Legitimität als
auch Schutz von den Klerikern zu erhalten, indem sie die Wahhabiten unterstützten. Doch die saudi-arabischen Herrscher tätigten
grosse neue Investitionen, als sie in den 80ern und 90ern ihre Form des Islam förderten, besonders nach der gescheiterten Übernahme
der Grossen Moschee in Mekka im Jahre 1979. Die Ideologie der Wahhabiten ist problemlos als islamische Form des Faschismus zu
identifizieren: Ein Textbuch für den Gebrauch in saudi-arabischen zehnten Klassen erklärt: "Es ist eine Pflicht für die Moslems, einander
treu ergeben zu sein und die Ungläubigen als ihre Feinde zu betrachten."

Ein letzter Grund, warum der islamische Faschismus in den 80ern und 90ern so viel Erfolg hatte, hat mit den "Grundursachen" zu tun
wie der Armut, der wirtschaftlichen Stagnation und der autoritären Politik im Mittleren Osten, die Zündstoff sind für politischen Extremismus. Aber angesichts der häufigen Beschuldigung, dass die USA und andere westliche Länder hätten handeln können, um
sie auf entscheidende Weise zu lindern, müssen wir uns äußerst klar darüber sein, wo die tatsächlichen Wurzeln dieser Grundursachen
liegen.

Tatsächlich hat die außenstehende Gemeinschaft durch internationale Einrichtungen wie der Weltbank die ganze Zeit über
moslemischen Ländern geholfen, genau wie die USA in ihren bilateralen Geschäften mit Nationen wie Ägypten und Jordanien. Allerdings
hat wenig von dieser Hilfe etwas genützt, weil das zu Grunde liegende Problem ein politisches in der moslemischen Welt selbst ist. Die
Möglichkeiten für wirtschaftliche und politische Reformen waren immer da, aber nur wenige moslemische Regierungen, und
insbesondere keine arabischen Regierungen, haben die Art von Politik betrieben, die von Ländern wie Südkorea, Taiwan, Chile oder
Mexiko verfolgt wird, um ihre Länder der Weltwirtschaft zu öffnen und die Grundlagen für eine anhaltende Entwicklung zu legen. Keine arabische Regierung hat sich eigenständig dafür entschieden, freiwillig zurückzutreten zu Gunsten einer demokratischen Regierung, wie die spanische Monarchie es nach der Diktatur Frankos tat oder die Nationalisten in Taiwan oder die verschiedenen Militärdiktaturen in Argentinien, Brasilien, Chile und anderen Teilen Lateinamerikas. Es gibt nicht ein einziges Beispiel eines Ölstaates am Persischen Golf, der seinen Reichtum genutzt hätte, um eine sich selbst tragende Industriegesellschaft einzurichten, anstatt eine Gesellschaft voller korrupter Rentiers zu schaffen, die mit der Zeit zu immer fanatischeren Islamisten werden. Diese Versäumnisse und nicht irgendetwas, was die Aussenwelt getan oder unterlassen hat, sind die Grundursachen der Stagnation in der moslemischen Welt.

Die Herausforderung besteht heute für die USA aus mehr als nur einem Kampf gegen eine winzige Bande von Terroristen. Die See des
islamischen Faschismus, auf der die Terroristen segeln, stellt eine grundlegende ideologische Herausforderung dar. Wie wird der allgemeine Lauf der Geschichte von jetzt an aussehen? Wird der radikale Islam immer mehr Anhänger finden und neue und stärkere Waffen, um den Westen anzugreifen? Selbstverständlich können wir das nicht wissen, aber bestimmte Faktoren werden entscheidend sein.

Der erste ist das Ergebnis der laufenden militärischen Operationen in Afghanistan gegen die Taliban und Al Qaida und darüber hinaus
gegen Saddam Hussein im Irak. So gerne man auch glaubt, dass Ideen als Resultat ihrer inneren moralischen Schlüssigkeit leben oder sterben, so bedeutet Macht doch eine ganze Menge. Der deutsche Faschismus brach nicht zusammen wegen interner moralischer Widersprüche, sondern weil Deutschland zu Schutt gebombt und von alliierten Armeen besetzt war. Osama Bin Laden gewann in der
gesamten moslemischen Welt gewaltige Popularität durch den erfolgreichen Anschlag auf die Zwillingstürme. Wenn man ihn,
metaphorisch gesagt, an einem öffentlichen Platz an eine Laterne hängt, ihn und seine Beschützer von den Taliban, wird seine
Bewegung gleich sehr viel weniger reizvoll aussehen. Sollte sich der militärische Konflikt dagegen ineffektiv in die Länge ziehen,
wird der islamische Faschismus mehr Unterstützung erhalten.

Die zweite und entscheidendere Entwicklung muss aus dem Islam selbst kommen. Die moslemische Gemeinschaft muss sich
entscheiden, ob sie Frieden mit der Moderne schließen will und besonders mit dem Schlüsselprinzip eines weltlichen Staates und
religiöser Toleranz. Die islamische Welt steht heute an der Weggabelung, an der das christliche Europa während des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert stand: Die religiöse Politik treibt einen potenziell endlosen Konflikt an, nicht nur zwischen Moslems und
Nicht-Moslems, sondern zwischen unterschiedlichen Glaubensgruppen innerhalb des Islam (viele der Bombenanschläge in Pakistan sind
Resultate von Fehden zwischen Sunniten und Schiiten). In einer Zeit von biologischen und atomaren Waffen könnte das zu einer Katastrophe für alle führen.

Es gibt einige Hoffnung, dass sich ein liberalerer Strang des Islam entwickeln wird. Denn eine islamische Theokratie ist etwas, das die
Menschen nur im Abstrakten anspricht. Diejenigen, die tatsächlich unter solchen Regime leben mussten, wie im Iran und in Afghanistan, haben erdrückende Diktaturen erlebt, deren Führer unbedarfter mit Problemen von Armut und Stagnation umgehen als die meisten.
Selbst während der Ereignisse des 11. September gab es in Teheran und vielen anderen iranischen Städten andauernde
Demonstrationen von Tausenden junger Menschen, die genug haben vom islamistischen Regime und eine liberale politische Ordnung
wollen. Ihre früheren Chöre von "Tod den Amerikanern!" ersetzten sie mit den Rufen "Wir lieben Amerika", selbst als amerikanische Bomben nebenan auf die Taliban in Afghanistan niederprasselten.

An einer liberalen Form des Islam interessierte Moslems müssen damit aufhören, den Westen dafür zu verurteilen, dass er den
gesamten Islam über einen Kamm schert, und sich überwinden, die Extremisten unter ihnen zu isolieren und zurückzuweisen.
Es gibt einige Hinweise darauf, dass dies bereits geschieht. Amerikanische Moslems werden sich des Einflusses der Wahhabiten
in ihrer eigenen Gemeinde bewusst, und vielleicht kommt man auch in anderen Ländern zu dieser Einsicht, wenn das Blatt sich entschieden gegen die Fundamentalisten in Afghanistan wendet.

Der Kampf zwischen westlicher liberaler Demokratie und dem islamischen Faschismus ist keiner zwischen zwei gleich lebensfähigen
kulturellen Systemen, die beide moderne Wissenschaft und Technologie beherrschen können, Reichtum schaffen und sich mit der
De-facto-Vielfalt der zeitgenössischen Welt beschäftigen. In all diesen Bereichen haben westliche Institutionen die besseren Karten, und
deswegen werden sie damit fortfahren, sich langfristig über den Globus zu verbreiten. Aber um zu dieser Langfristigkeit zu gelangen,
müssen wir kurzfristig überleben. Und unglücklicherweise gibt es keine Unvermeidlichkeit des historischen Fortschritts, und wenige gute
Ergebnisse werden erreicht ohne Führung, ohne Mut und ohne die Entschlossenheit, für die Werte zu kämpfen, die moderne
demokratische Gesellschaften möglich machen.
A. d. Engl. von Pascal Edelmann Francis Fukuyama ist wie Bernard Schwartz Professor für internationale Wirtschaftspolitik an der
Johns-Hopkins-Universität und Autor von "Das Ende der Geschichte".


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