Reisebericht Russland

Geschrieben von Brunnenbauer am 29. April 2003 17:44:24:

Liebe Kollegen Forumsteilnehmer,

das Thema dieses Forums beinhaltet ja als einen der Kerngegenstände des kommenden Geschehens die Rolle Russlands in einem evtl. WK3. Ich möchte hier einen kurzen Reisebericht abgeben, um vielleicht etwas zu einem vollständigerem Bild der aktuellen politischen und geschichtlichen Lage beizutragen.

1. Zur allgemeinen politischen Situation in Russland:
Fakt ist eines, die politische Landschaft dort erscheint auch einem Beobachter vor Ort als sehr geregelt. Was im konkreten heisst, in allen Massenmedien erscheint Putin als dominierende Figur; von den anderen Teilnehmern, den Kommunisten zu schweigen, ist nichts mehr zu vernehmen, ausser Demutsbekundungen (sicher auch ein Effekt der Gleichschaltung von Presse und Rundfunk).
Von den Kommunisten will ideologisch gesehen keiner mehr viel wissen. Was allerdings sehr stark ist, sind praktische Argumente, wie z. B. damals war Fisch billig, heute verkaufen einige Leute die Erträge der Flotten nach Japan und stopfen sich die Taschen voll; von Universität, Urlaub, Schulen und auch vor allem "Ordnung" reichen die nostalgischen Begriffe. Somit, falls keine deutliche Besserung der Lage eintritt (die Masse der Leute lebt von ca. 80 Euro im Monat), ist der Tag zu erwarten, an dem Putin entweder sein zweites Gesicht zeigt (à la De Gard), oder durch eine Regierung ersetzt wird, die selbiges an seiner Stelle tut. Läuft sich auf ein und das gleiche raus.

2. Russland und Weissrussland
Während in Russland aller Müll und Unrat überall herumliegt, ist Weissrussland so etwas wie eine Russische DDR: alles wie mit dem Besen ausgekehrt, keine Graffiti, etc. Hier wurde 1994 das Experiment der Perestroika (=Katastroika für manchen) kurzerhand abgebrochen und zum Dirigismus zurückgekehrt. Marx und Lenin stehen noch herum und haben ihre Straßen und Plätze.
Die Grenzkontrollen nach Westen sind so stringent wie früher an der Zonengrenze, nach Russland hin sind sie komplett entfallen. In der Praxis stellt Weissrussland für Russland somit einen Puffer gegenüber Westlern dar, die auf dem Landweg einreisen wollen (Transitvisum).
Man kann darüber urteilen wie man will, der gelebte Dirigismus von BY hat vor allem für Leute, die 20 Jahre wirtschaftlichen Niedergang erlebt haben, mit Sicherheit seinen Reiz. Was bedeutet, dass letzten Endes Russland auf den Weg des Dirigismus (=nicht ideologischer Kommunismus) zurückfallen könnte; eine Gestalt wie Lukaschenko im Russischen Maßstab wäre sicherlich gefährlicher für uns als alle Verschwörungstheorien über Putin zusammen.

3. Wirtschaftliche und Militärische Lage
Fakt ist eines: Unabhängig von allen Verschleierungstaktiken ist jedem klar, der vor Ort war, dass die Russischen Streitkräfte an Umfang und Qualität in keinster Weise mehr dem entsprechen, was wir von früher her kennen. Mit den massiven Waffenarsenalen der USA können sie in keinster Weise konkurrieren, was Putin als Realist auch weiss und sich deshalb auch auf nichts einläßt. Als Perspektive für die Realisierung des Forumsgegenstandes (WK3) ist somit nur ein Szenario denkbar, dass vorher eine vollkommene Paralyse in Europa und auch den USA durch Wirtschaftskrise, Bürgerkrieg, etc. voraussetzt. DANN ist sowieso alles möglich.
Was für das Militär gilt, ist bzgl. der Infrastruktureinrichtungen und der Wirtschaft noch deutlicher. Ohne MASSIVE Wirtschaftshilfe in Form von Produktionsanlagen aus dem Westen ist hier der endgültige Zusammenbruch vorhersehbar. Sollte diese Hilfe innerhalb der nächsten Jahre nicht eintreffen, ist die Perspektive siehe Punkt 1.

4. Biographie Putin
In einer Biographie über Putin in Interviewform aus dem Jahre 2000 geht folgendes hervor (was hier interessant ist):
- Putin erlernte die deutsche Sprache bereits in der Schule
- Eintritt an die Uni ohne Militärdienst
- Aufnahme ins KGB in die 1. Hauptabteilung
- Dienst in der DDR als politischer Kontaktoffizier (Vorhandensein oder gar Beteiligung an "Operation Lutch" wurde kategorisch abgestritten)
- Rückkehr anfang 1990 nach Leningrad, anschließend Assistent bei Sobtschak
- Entlassung 1996 durch Jakowlev (derzeit Gouverneur in St. Petersburg)
- Aufhebung der folgenden eigenen Stelle durch Tschubais 1996
- Rückkehr in den Apparat nach Moskau 1997
- Blitzkarriere dort bis heute
- Beschluss zum Tschetschenienkrieg nach den Bombenattentaten 1999.
- Erhalt der territorialen Integrität Russlands als eigene Mission

Putin gibt sich als Familienmensch und Freund Deutschlands zu erkennen, was zweifellos auch stimmt. Deshalb ist es m. E. fast ausgeschlossen, dass er derjenige sein könnte, der etwaige Aktionen diesbezüglich plant. Als Realist scheint er jedem Vabanquespiel abgeneigt.

5. Perspektive
Fakt ist, dass entgegen vielen Beteuerungen im Forum, die sich auf Sterne und Wetteranzeichen berufen, ein Eintreffen des WK3 noch in diesem Jahr und auch im nächsten anhand der Fakten auszuschließen ist. Derzeit gewinnt Russland durch Zusammenarbeit mehr als durch Krieg.
Zieht man den moralischen und ethischen Verfall im Westen sowie die gezielte Wertezersetzung durch die Massenmedien auf der einen und den daraus hervorgehenden Produktivitätsverlust mit den Folgeerscheinungen Massenarbeitslosigkeit und Protest mit in die Rechnung mit ein, sieht das Bild über kurz oder lang anders aus. Wenn im Westen sich alles auflöst und umschlägt, dann wird Russland auch von heute auf morgen umschwenken und versuchen, Nägel mit Köpfen zu machen. Von einem durchdachten Plan à la De Gard auszugehen ist allerdings nicht angebracht, eher der Spruch, Gelegenheit macht Diebe.
Ich persönlich gehe davon aus, dass erst, wenn überhaupt, so in 5 Jahren mit den Dingen zu rechnen ist. Deshalb sollte man die Zeit nutzen, sich vorbereiten und vor allem das Leben nicht über düsteren Gedanken versäumen. Ein schönes Frühjahr bietet tausend Möglichkeiten, und nicht nur den WK3 im Anschluss.

In diesem Sinne möchte ich mich für das geduldige Lesen des langen Textes bedankten und wünsche einen angenehmen Feierabend allerseits.





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