Achtung: langer 'Grundsatzartikel'

Geschrieben von Andreas am 27. April 2003 12:24:13:

Als Antwort auf: Re: Hauptübel ist der Zins,.. geschrieben von katzenhai2 am 27. April 2003 03:54:38:

>Das würde aber vorraussetzen, daß es immer so weiterginge, ohne daß sich etwas verändert. Aber die heutigen Zeiten sind sehr variabel, ständig ändert sich die Welt und das meist sogar so schnell, daß man sich nicht so schnell anpassen kann.
>Wenn ich auf die Menschheitsgeschichte schaue sehe ich jedenfalls keine lineare Abfolge von Ereignissen, sondern eine zumeist sehr variable. Sonst hätte die Menschheit bis heute nicht überleben können.
>Also nicht immer so pessimistisch. ;-)


Hallo Katzenhai!

Natürlich tue ich mich mit der Nicht-Linearität auch schwer und Dein Einwand ist berechtigt und fördert eine kritische, fruchtbare Diskussion. Dennoch ist es m. E. möglich, in dem Gewimmel von kleinen Veränderungen an der Oberfläche langfristige Entwicklungen auszumachen. So ist Grossbritannien ja auch heute noch ein mächtiger Akteur auf der Weltbühne. Trotzdem wird niemand bestreiten, dass es nicht mehr die Weltmacht ist und sein relativer Einfluss, ob militärisch oder wirtschaftlich, stark zurückgegangen ist. Ähnliches gilt für Italien und für Frankreich und ich erwarte, dass die USA der nächste Kandidat sein wird, der das Gesetz des overstretch of Empire, kombiniert mit inneren Problemen, kennenlernen wird.

Beesley und Widdowson bringen Ägypten und Mesopotamien als Beispiele für Reiche, die zwischen ihren Blütephasen "regressiv-chaotische" Phasen durchliefen. Aber irgendwann war für beide das Ende gekommen und sie gerieten in ein Dark Age, weshalb zwischen der damaligen Kultur und ihrer heutigen eine äusserst geringe Kontinuität besteht. Dieses gilt auch für Italien, das einst Kerngebiet des mächtigen römischen Reiches war. Oder schau Dir einmal Südamerika an: Dort herrschten einst grossartige Kulturen, die Hauptstadt der Azteken umfasste über 90'000 Menschen, damals mehr als London. All diese Kulturen wurden Opfer von Invasionen und gerieten in ein Dark Age, welches die kulturell Kontinuität vollends zerstörte. Übrigens weisen Beesley und Widdowson auf den fragwürdigen inneren Zustand dieser südamerikanischen Reiche hin, die von den Spaniern mit nur wenigen Truppen zu Fall gebracht wurden.
Trotz aller Nichtlinearität der Ereignisse ist doch erkennbar, dass der Westen seit etwa 1500 die führende Region der Erde ist, wobei das Szepter der Vormacht von Spanien an Frankreich, später an England und dann an Amerika übergewechselt hat. Wir sind uns noch klar der christlich-abendländischen Gedankengutes bewusst, welches modifiziert und konkurrenziert durch den Geist der Aufklärung für unsere westliche Kultur kennzeichnend war.

Eben weil wir über plötzliche zukünftige Fortschritte auf einem Sektor nichts wissen können, setzen Beesley und Widdowson den Beginn des Dark Age eine Toleranzgrenze von 150 Jahren, d. h. gemäss ihren Schätzungen wird es in den nächsten 50 bis 200 Jahren zum Dark Age kommen. Aber eines scheint klar: Der Westen verliert an Boden, sowohl demographisch als auch gemessen in Anteilen an der Güterproduktion. Weiter rüsten Länder, die vor 200 Jahren politisch völlig an der Peripherie lagen wie der Iran oder Nordkorea mächtig auf und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis das ökonomisch bereits jetzt herausgeforderte Amerika auch militärisch ins Wanken geraten wird. Die Alphabetisierung der Schwellenländer schreitet voran, Industriezweige siedeln sich von Europa und Amerika nach Asien umj. Insgesamt schrumpft also der Vorsprung des Westens.
Gleichzeitig kann man im Innern der westlichen Gesellschaft teilweise ähnliche Prozesse beobachten wie in der Endphase des Römischen Reiches:

- Dekadenz und Zerfall der westlichen Werte, Bspe: Die Unis haben Mühe, Leute für "harten", wissenschaftliche Fächer wie Physik und Mathematik zu gewinnen, währenddem neue Modefächer wie Medienwissenschaft und "Women Studies" einen Aufschwung erleben, wo einst die Elite des Westens ausgebildet wurde findet sich immer mehr Mittelmass; die Toleranz führt dazu, dass die Rechtssicherheit untergraben wird, die hohen Künste darben vor sich hin während sogenannte moderne Künstler und Populärkünstler "sich eins grinsen" (und Millionen scheffeln), wie Badland sagen würde. Die subjektive Überzeugung, dass der Westen überlegen ist und seinen Vorsprung dieser Überlegenheit verdankt schwindet, es gibt keine einheitliche moralisch-reliöse Lehre (discohesion). Schliesslich ist noch das Einwanderungsproblem zu nennen, welches B & W mit der Verleihung des römischen Bürgerrechts an Nicht-Römer vergleichen.

- Interne Diskohäsion:Beesley und Widdowson behaupten, dass in aufstrebenden Zivilisationen das Kollektiv höher gewertet werde als das Individuum und auf Kosten des Individuums. Bei uns hat das Individuum absoluten Vorrang, was sich dann in gewisser Weise in entarterter Form bei Prozessen gegen Kindsmörder zeigt, die nach 20 Jahren wegen "guter Führung" auf freien Fuss gesetzt werden. Wir müssen uns bewusst sein, so B & W, das diese Freiheit des Individuums auf Kosten der Kohäsion der Gemeinschaft erkauft werde.

- Interne Disorganisation (ökonomischer Aspekt):Beesley und Widdowson verwenden gerne den Ausdruck "innovation failure". Damit umschreiben sie ausbleibenden Fortschritt auf technischem Gebiet. Ihre Lieblingsbeispiele sind die Atomenergie, die von der Umweltbewegung verteufelt würde, und die Weltraumfahrt, die seit Jahrzehnten vor sich hindümple. Sie weisen darauf hin, dass die Römer und die Chinesen aufgrund des inneren Zustandes der Gesellschaft um ein Haar keine industrielle Revolution durchmachten. Die Fortschritte, welche heute bei uns erzielt würden, seien oberflächlicher Natur, weil sie keine neuen "loops of organisation" hervorbringen würden. Die Unternehmen schaffen keinen Wohlstand, sondern beuten billige Arbeitskraft in Schwellenländern aus, um möglichst rasch hohe Profite zu erzielen. Disproportionale Summen verschwinden in den Händen von Managern und schädigen so die Volkswirtschaft.

- Interne Desintegration: Dieser Begriff umschreibt den von B & W wahrgenommenen Vorgang, wonach dem Staat die Fähigkeit zur Herrschaft und Ordnungsbildung immer mehr entgleitet. Dies hat auch mit den wachsenden technischen Möglichkeiten zu tun, die den Bürger gegen den Staat begünstigen. B & W erwähnen irgendwelche "scales", da bin ich jedoch nicht mehr ganz mitgekommen. Summa summarum wollen sie damit wohl ausdrücken, dass mit der Vergrösserung der "scales" auch eine Vergrösserung der Reichweite staatlichen Handelns einhergehen müsste. So tanze der Staat teilweise am Narrenseil von multinationalen Konzernen, die über sein Territorium hinaus operierten. Ähnlich sieht es im Kampf gegen organisierte Verbrechenskartelle und Drogenringe aus, deren Budgets die Haushalte einzelner Staaten um ein Vielfaches übertreffen. Es sei eine Ironie, dass sich die nationalen Mitglieder der Drogenmafia analog dem EU-Ministerrat in Versammlungen treffen.
Neben dem scales-Problem existiere ein Legitimitätsproblem: Die Perversion des Liberalismus und Individualismsus führe dazu, dass die Lehrer in der Schule keine Autorität haben, dass das simple Durchgreifen des Staates immer mehr als autoritär und "faschistisch" kritisiert wird. Die Delegitimation politischer Ordnung zeige sich unter anderem auch an der niedrigen Wahlbeteiligung.

Summa summarum stimme ich B & W zu, dass der Westen sowohl international auf dem absteigenden Ast ist wie auch intern massive Probleme hat, für die es keine "konventionelle" Lösung zu geben scheint (Alterung, Legitimität, Einwanderung). Es mag durchaus sein, dass der Westen zu einem späteren Zeitpunkt das Gebiet einer grossen Zivilisation bilden wird, doch dies könne erst nach einem reinigenden Dark Age der Fall sein. Diese Zivilisation würde in jedem Falle eine andere sein als die heutige (siehe Kontinuitätsdiskussion). Ebenso könne der unendliche Verschwendung von menschlichen und materiellen Ressourcen in Afrika, erst ein Dark Age ein Ende machen.

Gruss
Andreas




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