N: "Jetzt ist er ein Volksheld"

Geschrieben von Scorp am 13. April 2003 02:52:07:

Als Antwort auf: N: NACHRICHTEN (o.T.) geschrieben von Scorp am 13. April 2003 02:49:38:

Jetzt ist er ein Volksheld»
Roger Köppel

aus dem jo conrad forum

Faisal al-Kasim, promovierter Anglist und Star-Moderator des arabischen Senders Al-Dschasira, über seine Sympathie zu Saddam Hussein, seine Abneigung gegen George W. Bush und über «die Bastarde», die im Nahen Osten das Sagen haben.

«Bush redet in neobiblischen Begriffen»: Fernseh-Polemiker al-Kasim, 41. (Bild: Niv Simon)
Was hat Sie am meisten überrascht während Ihres Gesprächs mit Saddam Hussein?
Dass er meine Sendung lobte. Glaubten Sie ihm?
Schwer zu sagen, aber ich war überrascht, wie engagiert er sich zu Demokratie und Journalismus äusserte.

Der Mann ist ein Killer.
Mag sein, aber machen wir uns nichts vor: Alle arabischen Herrscher haben Leute foltern oder umbringen lassen. Verstehen Sie mich recht: Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, diese Leute vor der Kamera in Stücke zu reissen, ich mag keine Gewaltherrscher. Ich hasse die Erde, auf der Diktatoren wandeln. Aber die Hetzjagd der Amerikaner kommt mir heuchlerisch vor. Saddam ist ein skrupelloser, charismatischer, von sich eingenommener Führer, der alle herausfordert. Das mögen die Amerikaner nicht. Sie haben lieber Lakaien.

Mit welchen Vorstellungen sind Sie in das Interview gegangen?
Ich war geprägt von der Medienberichterstattung und erwartete ein Monster, eine Bestie, einen Mann mit Blut an den Händen, dumpf, schwerfällig. Stattdessen sass da dieser freundliche Grossvater, der mit mir über Frauen reden wollte, ein netter Kerl, der auf mich den Eindruck eines schlauen, gerissenen Politikers machte, der weiss, wovon er spricht. Ich fragte mich: Das soll der Mann sein, den die ganze Welt lynchen will? Wäre ich noch zehn Minuten länger geblieben, ich hätte vergessen, dass ich mit Saddam sprach. Ehrlich gesagt, verspürte ich eine Menge Sympathie für ihn.

Sind Sie sicher, dass Sie den echten Saddam getroffen haben?
Machen Sie Scherze? Ich kenne seinen Privatsekretär Hmud seit Jahren.

Wie fühlten Sie sich während des Gesprächs?
Ich war nervös. Saddam wirkte sehr charmant, machte Witze, trat mit besten Manieren auf. Er wirkte nicht wie ein Killer. Ich habe mir gesagt: Lass dich nicht einseifen, lass dich nicht täuschen. Er schien menschlich, fast philosophisch.

Warum haben Sie, Mann der Kontroverse, keine provokativeren Fragen gestellt?
Wer einem Mann gegenübersitzt, der seine Feinde vergasen liess, übt Vorsicht. Es wäre nicht möglich gewesen. Wir wollten nicht riskieren, dass er uns rausschmeisst.

War er in guter Verfassung?
Körperlich ja, aber er wirkte sehr gealtert.

Wie kamen Sie in den Palast? Unterirdisch? Über geheime Zufahrtswege?
Sehr einfach. Wir wurden von einem Wagen seines Sekretärs abgeholt. Wir tranken Tee, dann führte man uns in ein Zimmer des Fau-Palasts. Ich zitterte vor Erwartung. Dann begrüsste uns Saddam Hussein.

Hatten Sie das Gefühl, er ahnte, dass ihn die Amerikaner bald zermalmen würden?
Ja. Er wirkte auf mich feierlich, religiös. Normalerweise sind von ihm schwere Beschimpfungen zu hören gegen andere arabische Herrscher. Diesmal gab er sich sehr versöhnlich, väterlich. Ich gehe davon aus, dass er wusste, seine Tage würden bald gezählt sein. Es war eine traurige Note in seinen Sätzen.

Was war Ihr erster Gedanke, als die ersten Bomben auf Bagdad fielen?
Ich kann es noch immer nicht glauben, dass jetzt, wo wir uns unterhalten, der Irak von Panzern überrollt wird. Ich habe das Gefühl, es sei ein Alptraum. Es war schlimm, dass Palästina besetzt wurde. Wir hielten es für unmöglich, dass ein weiteres grosses arabisches Land okkupiert werden könnte.

Was werden die Folgen sein?
Dieser Krieg wird uns fundamental verändern.

Wen meinen Sie mit wir?
Ich rede von mir. Wie Sie vielleicht wissen, moderiere ich seit sieben Jahren eine Fernsehsendung, die das Gesicht des Nahen Ostens und der arabischen Medien verändert hat. Jetzt bin ich dran, den Glauben an den Westen zu verlieren. Ich habe während der vergangenen sieben Jahre Tag und Nacht die gleiche Botschaft in die Welt hinausgeschrien: Araber, äfft den Westen nach, imitiert ihn. Ich war ein Freund, ja ein Bewunderer des Westens. Jetzt muss ich mich bei den arabischen Herrschern entschuldigen, die ich all die Jahre beleidigt habe. Sie sind nicht schlimmer als Blair oder Bush.

Sie wollen die beiden im Ernst mit Leuten wie Gaddafi und den Saudis vergleichen?
Die Schmerzgrenze ist überschritten. Uns wurde während der vergangenen dreissig Jahre erzählt, die westlichen Regierungen seien von ihren Völkern gewählt. Sie würden im Namen ihrer Völker handeln. Schauen wir uns Grossbritannien und die USA an: In England sind bis zu 84 Prozent der Leute gegen diesen Krieg. Blair hat ihnen gesagt, Pardon: Verpisst euch. Das gleiche Bild in den USA.

Das gleiche Bild? Eine Mehrheit der Amerikaner steht doch hinter Bush.
Mag sein, aber jedes Kind weiss, dass der Mann nicht von seinem Volk, sondern von seinen Richtern gewählt wurde. Wir alle kennen die Mechanismen der amerikanischen Medien. Sie können dem Publikum erzählen: Schaut, Jassir Arafat wird nächstens den Atlantischen Ozean angreifen, dann will er den Pazifik erobern. Die Amerikaner würden das glauben, sie glauben ja auch, dass im Nahen Osten nur Terroristen hausen.

Sie übertreiben.
Wer nicht übertreibt, wird nicht zur Kenntnis genommen.

Ihre Zuschauer sehen das auch so?
Absolut. Ich wurde während Jahren heftig angegriffen. Arabische Nationalisten haben mir gesagt, ich sei zu freundlich mit den Amerikanern, ich solle aufhören, von den Segnungen des Westens zu träumen. Sie hatten womöglich recht.

Was sagen Ihnen Ihre Freunde?
Die sagen, die Amerikaner seien nicht besser als die Araber. Schauen wir uns an, wie die Amerikaner die Medien behandeln. Wer sie kritisiert, dem schicken sie eine Rakete.

Sie schicken ihn vielleicht nach Hause...
...well, die Amerikaner haben Al-Dschasira mit einer Rakete beschossen, als wir über den Krieg in Afghanistan berichteten. Wir blieben unparteiisch, haben lediglich gezeigt, was die andere Seite denkt. Das war viel. Die schossen eine Rakete auf unser Büro in Kabul. Vor ein paar Tagen wurde dasjenige in Basra beschossen. Ausser uns war niemand dort. Sie schickten uns ein nettes Geschenk, eine Tomahawk-Cruise-Missile.

Sie glauben, das geschah absichtlich.
Wir haben die Botschaft verstanden. Die Amerikaner sind nicht mehr die Vertreter einer freien, offenen Gesellschaft.

Die Amerikaner sagen, sie hätten noch nie so viel für eine offene Berichterstattung getan.
Lachhaft. Die Amerikaner sagen, dass sie für Journalisten, die sich ausserhalb der Armee bewegen, keine Verantwortung übernehmen. Sie sagen, dass sie auf Konvois schiessen, auch wenn auf den Wagen «TV» steht. Für mich heisst das: Wenn ihr die Grenzen nicht einhaltet, die wir für die Weltmedien errichtet haben, werden wir euch umbringen.

Das ist absurd.
Mag sein, dass ich übertreibe. Aber ich bin zutiefst frustriert. Ich war der Fackelträger von Demokratie, Liberalismus, westlicher Lebensart. Jetzt weiss ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht.

Mit Ihren Argumenten stützen Sie letztlich Saddams Regime.
Arabische Regime sind schrecklich. Aber die andere Seite ist nicht viel besser. Es sind Invasoren, Kolonialisten, Eindringlinge, die ungezählte Leute umbringen. Sie kommen wegen des Öls, sie pfeifen auf die Meinung ihrer Völker. Glauben Sie übrigens nicht, dass die Amerikaner fast ohne Verluste durchkamen. Eine Quelle sagte mir, in einem Spital in Kuwait seien tausend tote Amerikaner im Kühlraum aufgebahrt.

Das glauben Sie?
Ich glaube es nicht. Aber ich bin auch nicht sicher, dass es falsch ist.

Wie müsste denn mit einer Figur wie Saddam Hussein richtigerweise umgegangen werden?
Eine Gegenfrage: Wer hat Saddam Hussein gemacht? Die Amerikaner. Wer hat Bin Laden aufgebaut? Die Amerikaner. Wer stützt diese verdammten Diktatoren im Nahen Osten? Die Amerikaner.

Was schliessen Sie daraus?
Es gibt eine arabische Redensart: Wer Geister züchtet, wird von ihnen heimgesucht. Bevor wir Saddam Hussein anklagen, müssen wir uns fragen: Wer hat ihn gemacht? Und: Was hat Saddam den Amerikanern angetan? Wie viele amerikanische Kinder hat er umgebracht? Was hat der Irak den Amerikanern getan? Nichts. Absolut nichts.

Saddam hat seine Untertanen vergast.
Damals hat das im Westen niemand zur Kenntnis genommen. Fünf Tage nach der Vergasung der Kurden sass Englands Aussenminister Douglas Hurd in Bagdad. Er trug einen weissen Anzug und rauchte Zigarren mit Saddam, lässig sassen sie in ihren Sesseln. Diese Heuchelei ist unerträglich.

Die Amerikaner sagen: Saddam Hussein brach 17 Uno-Resolutionen. Er hat Massenvernichtungswaffen. Er arbeitet daran, Atomsprengkörper zu beschaffen. Er knechtet sein Volk.
Ich bitte Sie. Nicht alle Menschen fallen auf diesen Unsinn rein. Wir wissen: Die Invasion hat nichts mit den Massenvernichtungswaffen zu tun. Die Invasion hat nicht einmal etwas mit Saddam Hussein zu tun.

Sondern?
Saddam Hussein ist ein typischer arabischer Gewaltherrscher, der dank den Amerikanern einen Logenplatz im Horrorkabinett der Weltgeschichte bekommen hat. Saddam Hussein ist eine Art Tarnvorrichtung. Irak hat die zweitgrössten Ölvorkommen der Welt. Wenn sich die Amerikaner diese Reserven holen, haben sie ihre globale Führungsrolle für ein weiteres Jahrhundert gesichert. Das Öl im US-Protektorat Saudi-Arabien gehört ihnen ja schon.

Würden Sie sagen, das Saddam von seinen arabischen Amtskollegen bewundert wird?
Ja. Sie bewundern, sie beneiden und sie fürchten ihn. Sie sagen, der Irak sei eine Diktatur, als ob ihre eigenen Länder wunderbare Demokratien wären. Es gibt keine Demokratien in der arabischen Welt. Saddam hat den Frauen immerhin erlaubt, sich mit Männern zu treffen, auszugehen, ihr Leben zu geniessen. In Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht einmal Auto fahren. Das ist vielleicht das Gute an diesem Krieg: Wenn die Amerikaner vom Kampf gegen eine skrupellose Diktatur sprechen, schauen die arabischen Herrscher in den Spiegel und fragen sich: Sind beim nächsten Mal vielleicht wir dran?

Hat sich Saddams Image durch den Krieg zum Positiven verändert?
Ja. Vorher galt er als nicht so übel, jetzt ist er ein Volksheld. Aber nur solange er Widerstand leistet. Wir haben eine Redensart: Wenn die Kuh fällt, wird sie mit Messern zerfleischt. Die Araber bewundern Stärke.

Werden die Araber auch die Stärke der Amerikaner bewundern?
Grauenhafte Dinge werden die Amerikaner im Irak erwarten. Ich fürchte, dass die Zukunft der amerikanisch-arabischen Beziehungen eine sehr blutige Zukunft sein wird. Die Amerikaner sind jetzt schon daran, ihre Botschaftsvertretungen in Festungen zu verwandeln mit Milliarden von Dollars. Es werden Hunderte von Bin Ladens kommen.

Was halten Sie von Samuel Huntingtons These vom Zusammenprall der Zivilisationen?
Ich habe den Wirbel um dieses Buch nie verstanden. Die These ist ein alter Hut. Den Zusammenprall erleben wir seit mehr als 2000 Jahren. So what. Aber viele Pentagon-Leute glauben an Huntington. Es ist traurig, wenn eine grosse Nation wie die USA von Fanatikern regiert wird. Ich behaupte: Es gibt kaum mehr einen Unterschied zwischen Bin Laden und Bush. Wenn Bin Laden etwas gelungen ist, dann dies: Er hat eine ganze Administration in christliche Bin Ladens verwandelt. Bush redet in neobiblischen Begriffen.

Bin Laden hat einen Terroranschlag gegen die USA organisiert.
Der 11. September war ein grosser Schock, übrigens auch für uns Araber, aber man kann das nicht bewältigen, indem man selber zu einem Bin Laden wird.

Wie stark wirken religiöse Einflüsse auf die Entscheidungen arabischer Politiker?
Der theologische Hintergrund hat eine grosse Bedeutung, sicher. Wir Araber müssen geistliche und politische Sphäre konsequenter trennen, einverstanden. Aber Sie reden so, als ob die arabische Welt von religiösen Regierungen gelenkt würde. Ich muss es jetzt einfach sagen: Die arabischen Herrscher sind Bastarde. Wir wissen, dass gewisse arabische Regierungen im Namen Gottes regieren. Aber die haben nichts mit Gott zu tun. Sie reden Tag und Nacht vom Islam und sind 24 Stunden betrunken. Sie huren herum, verprassen das Vermögen ihrer Länder. Ich bin überzeugt, der Schweizer Bundesrat ist gottesfürchtiger als jedes arabische Regime. Die europäische Bourgeoisie hat einen grossen Beitrag bei der Entstehung der Demokratie geleistet. Unsere Bourgeoisie hurt im Westen herum und gibt dort ihr Geld aus. Saudi-Arabien hat die Flagge des Islam gehisst, aber dieses Land ist so weit vom Islam entfernt wie die Schweiz von Syrien. Eine Minute reden die Saudis vom Islam, in der nächsten eröffnen sie Pornokanäle für die muslimische Welt.

Sind die arabischen Länder reif für die Demokratie?
Die arabischen Herrscher versuchen uns seit Jahren einzureden, wir seien nicht reif für die Demokratie. Menschenrechte, Parlamentarismus, Liberalismus werden als westliche Errungenschaften verteufelt, dagegen müsse man einen arabischen Sonderzug fahren. Alles Unsinn. Gewiss kann man zugeben: Arabische Gesellschaften sind Stammesgesellschaften. Die Leute tendieren dazu, sich an ihren Clans zu orientieren, nicht an Parteien und ihren Repräsentanten. Aber: Man muss irgendwo anfangen. Schauen Sie sich den kleinen Wüstenstaat Katar an, der ebenfalls von diesen kulturellen Faktoren geprägt ist. Trotzdem wurde ein Weltfernsehsender wie Al-Dschasira auf die Beine gestellt. Das ist eine bedeutende Leistung.

Was ist das grösste kulturelle Hindernis auf dem Weg zur Demokratie?
Die Araber kennen keine Kultur des Dialogs. Wir praktizieren sie nicht. Weder zu Hause, in der Moschee, in den Fabriken noch in den Universitäten. Ich schreibe gerade ein Buch über dieses Phänomen. Wir haben eine Kultur der Furcht und der Unterdrückung.

Also haben die Pessimisten doch Recht, die die Araber vorderhand verloren glauben?
Nein, wir sind nicht mit undemokratischen Genen auf die Welt gekommen. Unser Problem ist, dass unsere Regierungen keinen Wandel wollen. Und die Amerikaner arbeiten lieber mit Despoten zusammen. Parlamente geben ihnen Kopfweh, siehe Türkei und US-Truppen.

Können, sollen westliche Mächte die Demokratie in den Nahen Osten exportieren?
Ja. Falls die Amerikaner in der gleichen Absicht zu uns kämen wie damals, als sie den Deutschen und den Japanern Freiheit und Demokratie brachten, würde ich sie mit offenen Armen begrüssen.

Zwei Atombomben auf Japan, Flächenbombardemente auf deutsche Städte. Der Irakkrieg, den Sie ablehnen, wird weit weniger blutig geführt.
Dank den Atombomben ist Japan heute eine Demokratie. Die Amerikaner haben dem Land beim Wiederaufbau geholfen. Den Deutschen gaben sie den Marshall-Plan und weitreichende Unterstützung. Ich glaube nicht, dass die Amerikaner uns ähnlich helfen würden.

Was macht Sie so sicher?
Was haben die Amerikaner in Afghanistan getan? Gut, sie haben ihre Pipelines gesichert, aber wo ist die Renaissance, die versprochen wurde? Die Situation ist unstabil, ich nehme ihnen nicht ab, dass sie als Befreier kamen. In Afghanistan kontrolliert Präsident Karsai nicht einmal Kabul. Wissen Sie, was ihm kürzlich passierte? Er verlor seine Schuhe. Würden Sie einem Mann, der nicht einmal auf seine Schuhe aufpassen kann, ein Land anvertrauen?

Warum sind Sie zum berühmtesten Polemiker der arabischen Medienwelt geworden?
Anfänglich war ich ein serviler, ängstlicher Junge aus einer armen syrischen Bauernfamilie, einer Sklavenfamilie. Meine Mutter hatte elf Kinder. Wir wohnten in einem Zweizimmerhaus mit unendlich vielen Mäusen. Ich wuchs auf in einem Klima der Unterdrückung. Erst allmählich wurde ich zum Rebellen. Am meisten geprägt haben mich in der Schule die britischen Schriftsteller, nachher die britischen Journalisten. Ich liebte ihre Respektlosigkeit. Nachdem ich meine Doktorarbeit über Ikonoklasmus im modernen englischen Drama geschrieben hatte, sagte ich mir: Ich werde irgendwann in die arabische Welt zurückkehren und dort alle heiligen Kühe schlachten. Bei Al-Dschasira schlachten wir alles.

Könnten Sie den Propheten Mohammed in Ihrer Sendung als Hochstapler bezeichnen?
Sicher. Wir haben es sogar getan.

Hat man eine Fatwa gegen Sie ausgesprochen?
Ich hatte Scheich Karadawi im Programm, einen der angesehensten religiösen Führer. Ihm setzte ich den grössten Säkularisten Syriens gegenüber. Er sagte dem Scheich: Erzähl mir nichts von Mohammed, erzähl mir nichts von Religion, erzähl mir nichts vom Koran. Ich glaube an gar nichts. Du erzählst von Gott, als habest du eine Fax-Verbindung mit ihm. Du schickst ihm einen Fax hoch, er schickt dir einen Fax runter. Nach der Sendung war die Hölle los. Fünf Botschafter verliessen Doha wegen mir, es gab Hunderte von offiziellen Protestnoten arabischer Regierungen.

Warum leben Sie noch?
Ich bekam eine ganze Serie von Drohungen. Aber mein Problem sind die Regierungen, nicht die Leute. Sie lieben mich, weil sie schon so lange unterdrückt werden.

Sind Sie neutral?
Nein, die Leute wollen, dass ich Stellung nehme gegen die traditionellen Positionen. Ich muss die Rolle des Antichrists spielen. Vor sechs Monaten wurde ich an einer eigens zu diesem Zweck einberufenen Sitzung der Informationsminister aller Golfstaaten in Oman zum gefährlichsten Mann des Nahen Ostens erklärt. Diesem Ruf muss und will ich gerecht werden.

Hat der Emir von Katar jemals interveniert?
Manchmal, das ist ein Problem, geht man zu weit. Man tut’s einfach. Ich habe in einer erhitzten Diskussion während der Sendung gesagt, alle arabischen Herrscher seien im Grunde genommen Verbrecher, Bastarde. Das war too much (lacht).

Was passierte?
Ich ging vier Wochen in die Ferien, bis sich der Sturm legte.

Welches Tabu würden Sie nie anrühren?
Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich würde gerne noch mehr religiöse Tabus angreifen. Aber das ist gefährlich.

Woran denken Sie?
Unsere Religion ist eine Mixtur aus Mythologie und Glaube. Die mythologische Seite ist sehr mächtig, man darf sie nicht anrühren. Im Koran steht nicht, dass Frauen nicht Auto fahren dürfen. Nirgends wird der Schleier verordnet. Einst war der Islam eine frivole, tolerante Religion. Doch dann kamen die Leute mit den Bärten, die Fundamentalisten. Das ist eine Entartung.

Man hat Ihrem Sender vorgeworfen, er würde mit seinen Bildern Teil der irakischen Propagandamaschine.
Wir sind unparteiisch. Wir zeigen, wie die Cruise-Missiles aufsteigen, und wir zeigen, im Unterschied zu CNN, wie sie einschlagen. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Plötzlich erinnern sich alle an die Genfer Konventionen, auch die Amerikaner. Das israelische Fernsehen zeigt seit Jahren die Bilder toter israelischer Soldaten. Wenn wir das Gleiche mit den Arabern tun, wird es als schlimm empfunden.

Im Sog Ihres Erfolgs sind andere Fernsehanstalten entstanden im arabischen Raum. Was halten Sie von der Konkurrenz?
Ich begrüsse sie, aber im Moment kann niemand gegen uns antreten. Wir haben die grösste Freiheit.

Sie haben als Journalist im Westen und in der arabischen Welt gearbeitet. Was ist der grösste Unterschied?
Im Westen werden Sie von Ihrer Regierung, von Ihrer Demokratie geschützt. Hier nicht. Mich kann man morgen umbringen. Die westlichen Medien sind Teil einer Tradition, wir sind neu und kaum verankert in einem arabischen demokratischen System.

Wie unabhängig ist Al-Dschasira?
Wir sagen nicht, wir seien zu hundert Prozent unabhängig. Das ist Unsinn. Aber wir stehen für einen Quantensprung in den arabischen Medien. Früher konnten die Araber ohne Genehmigung ihrer Geheimdienste nicht mal über Tee oder die Salatpreise reden. Jetzt wird offen über heisse Themen diskutiert. Ich habe schon Anrufe bekommen aus Beduinenzelten von Leuten, die mein Programm mit einer Satellitenschüssel mitten in der Wüste angeschaut haben. Ich will auch die extremsten Positionen in meiner Sendung haben. Wir waren Jahrhunderte in einem Käfig eingesperrt, jetzt muss alles raus.

Wie nachhaltig ist dieser Effekt?
Al-Dschasira hat alle politischen Tabus gebrochen. Wir haben Millionen von arabischen Hirnen befreit. Wir haben einen gewaltigen Felsen geworfen in die abgestandenen arabischen Gewässer. Eines Tages wird man die Früchte unserer Arbeit ernten können.


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