N: 40 Jahre Elysseevertrag - Vernunftehe, vom Weltgeist gestiftet
Geschrieben von Freiwild am 10. April 2003 00:52:41:
Als Antwort auf: N: NACHRICHTEN (o.T.) geschrieben von Freiwild am 10. April 2003 00:43:51:
40 Jahre Elysée-VertragVernunftehe, vom Weltgeist gestiftet
Frankreich und Deutschland können nicht ohne einander, selbst wenn ihre Staatschefs nicht miteinander können
Von Klaus Harpprecht
Malen wir ein bisschen schwarz, um die deutsch- französische Jubelgemeinde für einen Augenblick aufzuscheuchen: Nehmen wir an, Jacques Chirac, an die 70 und nicht immer weise, ertrüge den Anblick des aufsässigen Teutonen Gerhard Schröder nur noch mit mühsam gebändigter Wut, der Kanzler wiederum sei über den herrischen Hochmut des Hausherrn im Elysée-Palast so tief verstimmt, dass auch Doris’ blondestes Mädchenlachen und Bernadettes mahnende Mütterlichkeit beide nicht miteinander versöhnen könnten: was dann? Le moteur franco-allemand en panne? Kaput? Ein für alle Mal?
Gemach! Den beiden bliebe nichts anderes, als sich seufzend ihren gemeinsamen Interessen zu beugen, wenn zum Beispiel das Weiße Haus die sofortige Aufnahme der Türkei in die Europäische Union verlangte oder die neuen Mitgliedstaaten sich zu einen Anschlag auf die Kassen des Agrarmarkts zusammenrotteten. Sie sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig: Jeder hat es bisher gelernt (Ludwig Erhard ausgenommen). Sie gehören zueinander – auf Gedeih oder, falls sie sich dem Gebot der Vernunft entziehen, auf Verderb. Sie können nicht ohne einander, selbst wenn sie miteinander nicht können. Sie haben erfahren, dass es besser ist, aus freien Stücken zu wollen, was sie ohnedies müssen. Der Deutsche wird sich nicht ohne Schmerz des Berliner Gipfels zu Beginn seiner Kanzlerschaft entsinnen, bei dem er im höheren Interesse der deutsch-französischen Partnerschaft zähneknirschend das Agrardiktat Präsident Chiracs akzeptierte. Nicht ohne Groll wiederum erinnert sich der französische Staatschef an die schmähliche Konferenz von Nizza, bei der ihm Schröder die Anerkennung des numerischen Übergewichts der 80 Millionen Deutschen abzwang (und damit – cui bono? – die Grundregel vom gleichen Rang Frankreichs und Deutschlands in der Union für einen Moment außer Kraft setzte). Was half’s? Schröder hat es, mit Joschka Fischers Nachhilfe, genauso begriffen wie Chirac: Es gibt zur deutsch- französischen Kooperation keine Alternative.
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Immerhin verzichtete Pompidou, von Willy Brandt ermutigt, auf die gaullistischen Vorbehalte gegen den Beitritt Großbritanniens zur Gemeinschaft von Brüssel. Und in der Amtszeit der beiden wurde, man vergisst es allzu oft, vom Ministerrat das Konzept der „schrittweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion“ mitsamt der europäischen Zentralbank aus der Taufe gehoben. Bis 1980 sollte das große Ziel erreicht sein. Die Mitgliedstaaten brauchten, wie man weiß, zwei Jahrzehnte länger. Doch versicherte – ein bewegender Augenblick – der todkranke Pompidou dem Kanzler bei seinem letzten Besuch am Rhein, dass die französisch-deutsche Partnerschaft – für die Brandt den Begriff der entente élémentaire formuliert hatte – eine zuverlässige Konstante der Politik seines Landes bleibe. Er fragte, ob Willy Brandt dies für Deutschland bestätigen könne. Nach einer kurzen Besinnung bekräftigte der Kanzler, dies treffe für ihn und jeden denkbaren Nachfolger zu, selbst für Franz Josef Strauß.
Fernziel: Die europäische Einheit
Die Architektur der Europäischen Union war umrissen. Der Hanseat Helmut Schmidt, ein geeichter „Atlantiker“ und Frankreich zunächst eher fremd, begann mit Präsident Giscard – vor allem durch den Währungsverbund – den Ausbau der Fundamente. Ein merkwürdiges Paar: der französische Aristokrat mit den eleganten Salonmanieren und der politische Intellektuelle norddeutscher Prägung. Aus ihrer Freundschaft, die zu Anfang vom nüchternen Wirtschaftsverstand der beiden bestimmt war, entwickelte sich eine europäische Dynamik, wie wir sie heute so sehnlich herbeiwünschen. Die unterschiedlichen Prägungen der Persönlichkeiten im Reigen der deutsch-französischen Paare, die fruchtbaren, manchmal auch nur frustrierenden Spannungen, die sich daraus ergaben, die konkurrierenden Talente, die einander so oft ergänzten, die Kollisionen und die Angleichung der Interessen: Jedes Element stand – und steht – im Dienst des Prozesses, der, in kleinen und in großen Schritten, zur europäischen Einheit drängt. Keiner der Staatsleute ist ihm entkommen, ob diesseits oder jenseits des Rheins. Man könnte an das Wirken des Weltgeistes glauben.
(c) DIE ZEIT 04/2003