N: Europa und Amerika: Nach der Kraftprobe die Ernüchterung

Geschrieben von Freiwild am 07. April 2003 17:56:24:

Als Antwort auf: Nachrichten (o.T.) geschrieben von Freiwild am 07. April 2003 00:18:24:

© Damir Sagolj/Reuters

In meinen Augen ein lesenswerter, wichtiger Artikel der Zeit vom Wochenende
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Der Realitäts-Schock

Europa und Amerika: Nach der Kraftprobe die Ernüchterung

Von Josef Joffe


Hinter dem „Nebel des Krieges“, wie das ausgiebig zitierte Clausewitz-Wort lautet, verbergen sich im Irak zwei weitere Konflikte. In dem einen geht es um die Verteilung der Macht in der Welt, in dem anderen um ihre Ordnung im 21. Jahrhundert. Beide sind lange vor dem 20. März ausgebrochen.

Der erste war im Kollaps der Sowjetunion 1991 angelegt. Das war das Ende des Kräftegleichgewichtes, in dem die beiden Supermächte sich sozusagen gegenseitig aufhoben – durch Druck und Gegendruck. Übrig blieb ein Amerika, in dem sich das Gefühl unbegrenzter Freiheit mit der Versuchung grenzenloser Möglichkeiten paarte. Deshalb der Irak-Krieg à deux, deshalb der diplomatische Gegenfeldzug unter französisch-deutscher Flagge. Jacques Chirac formuliert seine Gleichgewichtsstrategie ganz offen, wenn er von einer „multipolaren Welt“ spricht; der Kanzler tut’s etwas zahmer, indem er nach „mehr Europa“ ruft. Das Ziel ist die Auflösung des amerikanischen Machtmonopols.

Im zweiten Duell geht es nicht um Macht, sondern um Ordnung. Wie soll diese überhaupt nicht „schöne neue Welt“ organisiert werden? In der Gewaltherrscher, die nicht unbedingt den Gesetzen der balance of terror gehorchen, nach Massenvernichtungswaffen streben. Eine Welt, in der Terroristen einen Staat wie Afghanistan kapern, um den Rest dann mit Massenmord zu überziehen.

In Paris und Berlin quält man sich mit diesen existenziellen Fragen genauso wie in Washington. Nur offerieren beide Seiten andere Antworten. Verkürzt lauten sie „Völkerrecht“ hier, „Koalition der Willigen“ dort. Diesseits wie jenseits des Atlantiks sind die Akteure aber zu kurz gesprungen.

Die USA lernen in diesen Tagen, dass „Netzkrieg“ und Präzisionswaffen nicht Legitimität ersetzen. Dieses Manko erklärt die stille Schadenfreude, die sich in Europa breit macht, und den unterschätzten Widerstand, der den Amerikanern im Irak entgegenschlägt. Saddam ist zwar eine der übelsten Ausgeburten des 20. Jahrhunderts, aber es fehlte der klare, drängende Kriegsgrund, den vor zwölf Jahren der kuwaitische Staatenraub geliefert hatte.

Auch die Europäer entdecken den Preis der Selbstüberschätzung. Die Kontinental-Achse konnte den Krieg nicht stoppen; sie hat weder Bush ernüchtert noch Saddam eingeschüchtert. „Europa muss endlich mit einer Stimme sprechen“, lautet das probate Lamento. Doch wird damit das Problem als Lösung angeboten. Europa spricht nicht unisono, weil viele den Führungsanspruch von Paris/Berlin so fürchten, wie diese den Hegemonismus der USA. Außerdem summieren sich Europas Minus nicht zum Plus. Jenseits von England und Frankreich mit ihren Resten an Kriegerkultur sitzt die Aversion gegen das Militärische zu tief, um diesen gebeutelten Kontinent zu einem strategischen Gewicht zu verdichten. Ein „Kerneuropa“, wie abermals gefordert? Vielleicht, aber nur um den Preis einer formalisierten Spaltung.

Gibt es bessere Nachrichten? In diesen Tagen, da Amerikanern wie Europäern bewusst wird, wie lange dieser Krieg noch dauern könnte, beginnt sich zumindest der Nebel in den Köpfen zu lichten. Donald Rumsfeld redet nicht mehr ganz so schneidig daher; auch in den EU-Hauptstädten zeigt sich Ernüchterung. Just hat der französische Außenminister Villepin eine Rede in London gehalten, die sich streckenweise wie eine Liebeserklärung an Amerika liest. Er sprach von „gemeinsamen Werten“ und „vollständiger Solidarität“; jetzt müsse ein „enges und vertrauensvolles Verhältnis wiederhergestellt“ werden.

Auch in Berlin sind mildere Töne zu hören. SPD-Generalsekretär Olaf Scholz wünscht „unseren Verbündeten Erfolg“; die Partei verurteile „plumpe und dumme antiamerikanische Hetze“. Mag sein, dass sein fein kalibrierender Kanzler morgen wieder andere Signale setzt; mag sein, dass Rumsfeld nach ein paar gloriosen Siegen wieder Hochmut zelebriert. Dennoch kriecht eine neue Nachdenklichkeit nach vorn, die im fintenreichen Spiel der UN-Diplomatie und im Lärm der Demonstrationen verdrängt worden war.

Nachdenken worüber? Zum Beispiel über Interessen. Die USA wollen eine Welt, in der nicht al-Qaida und Saddam Hussein die Regeln bestimmen – ein gutes Prinzip. Sie wollen es allein durchsetzen? Dieser Krieg ruft immer lauter: Der Starke ist am mächtigsten eben nicht allein. Ein Beispiel: Heute suchen deutsche und amerikanische Beamte im Hamburger Hafen einträchtig nach Terror- Konterbande en route zur Ostküste. Was ist klüger – Alleingang oder Zusammenarbeit? Die Frage beantwortet sich von selbst. Und wie entsteht Kooperation? Durch Respekt, Zuhören und Konzentration auf gemeinsame Interessen.

Die Amerikaner stützen sich auf die Macht, der das Recht fehlt, die Europäer auf das Recht, dem die Macht abgeht. Der Sicherheitsrat als oberste Instanz? Dabei wird vergessen, dass in diesem Gremium nicht unbeteiligte Schöffen sitzen, sondern interessengeleitete Staaten. Da sollen Unrechtsregime das Recht hüten, Alleinherrscher über ihresgleichen richten. Dieses Forum ist kein Amtsgericht, weil die Richter in eigener Sache urteilen.

Aber das Völkerrecht, das auf Souveränität, Nichteinmischung und (weitestgehendem) Gewaltverzicht basiert? Realpolitiker antworten, dass dieses Recht keinen der 100 oder 200 Kriege nach 1945 verhindert hat. Doch Moralpolitiker ahnen inzwischen, dass sich neue Fragen stellen. Wie wird das Völkerrecht mit Terrorgruppen fertig, die sich hinter der Souveränität ihres Gastlandes verschanzen? Wie mit Despoten, die nach Atomwaffen greifen? Muss ihr Opfer den ersten Schlag abwarten – oder darf ein solcher Staat Prävention üben? Auf jeden Fall hat die Praxis die Zäune des Westfälischen Systems längst durchbrochen – zuletzt im Kosovo, wo die Nato ohne UN-Segen gebombt hat, und zwar im Dienste eines höheren moralischen Interesses.

Die neue Gewalt des 21. Jahrhunderts – ob sie von Staaten mit unkonventionellen Waffen oder Nicht-Staaten mit konventionellen ausgeht, ob von Bürger- oder Privatkriegen – lässt sich mit dem klassischen Völkerrecht nicht mehr fassen. Hanebüchen wäre es, diese Tradition zu verwerfen, doch wenn neue Tatbestände auftauchen, muss sich auch das Recht ändern. So jedenfalls halten wir es in unserer Binnenwelt.

Und wer schreibt das Recht? Die Staaten, denn es gibt keinen anderen „Gesetzgeber“. Nicht die Saddam Husseins oder Kim Jong Ils, sondern die üblichen Verdächtigen, jene Groß- und Mittelmächte, die nicht bloß Interessen haben, sondern auch Verantwortung tragen. Wo die zu finden sind? Hauptsächlich in dem Teil der Welt, den wir den „Westen“ nennen, obwohl ein immer größerer Teil des „Ostens“ dazugehört. Dieser „Westen“ basiert nicht auf dem Völkischen, sondern auf dem Rechtsstaat, der wiederum ohne Macht nicht denkbar ist. Die Ernüchterung ist der erste Schritt, die Besinnung auf die besten Traditionen Europas und Amerikas muss der nächste sein. Oder: Die reine Macht schützt vor Torheit nicht, die reine Moral nicht vor der Vergeblichkeit.

(c) DIE ZEIT 15/2003




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