N: Interview mit Emanuel Todd aus der NZZ: Das eingebildete Imperium

Geschrieben von Subman am 25. März 2003 14:09:44:

Als Antwort auf: N: Dramatisches Bienensterben geschrieben von Kober am 25. März 2003 12:36:48:

Das eingebildete Imperium

Interview mit dem französischen Historiker und Demographen Emmanuel Todd
Macht und Einfluss der USA werden kolossal überschätzt, sagt Emmanuel Todd. Ein amerikanisches Imperium werde es nicht geben. Die Welt sei zu gross und zu dynamisch, um sich von einer einzigen Macht beherrschen zu lassen. Für Todd, der 1976 in einem Buch den Zerfall der Sowjetunion vorausgesagt hat, steht ausser Frage: Der Niedergang Amerikas als Supermacht hat schon begonnen. Von Martin A. Senn und Felix Lautenschlager

NZZ am Sonntag: Herr Todd, Amerika sei wirtschaftlich, militärisch und ideologisch zu schwach, um die Welt wirklich zu beherrschen, schreiben Sie. Das werden viele Antiamerikaner gerne lesen. Aber wieso soll das mehr sein als Wunschdenken eines Intellektuellen aus dem traditionell sehr USA-kritischen Frankreich?

Emmanuel Todd: Das hat weder mit Wunschdenken noch mit Antiamerikanismus zu tun. Wieso würde ich sonst vor allem von links kritisiert? Die Zeitung der französischen Berufs- Antiamerikaner, «Le Monde diplomatique», hat als einziges grosses Blatt mein Buch totgeschwiegen. Die Überschätzung Amerikas ist für diese Leute eine Lebensgrundlage. In diesem Punkt treffen sie sich mit den amerikanischen Ultrakonservativen. Die einen machen Amerika mächtiger, als es ist, um es zu verteufeln, die andern, um es zu verherrlichen.

Sie hingegen müssen sich vorwerfen lassen, Amerika zu unterschätzen.

Das tue ich nicht. Die USA sind immer noch die stärkste Macht der Welt, aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass sie daran sind, ihre Position als alleinige Supermacht einzubüssen. 1976 habe ich in meinem Buch «La chute finale» («Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft») aufgrund der damaligen Indikatoren den Fall der Sowjetunion vorausgesagt. Jetzt komme ich aufgrund demographischer, kultureller, militärischer, monetärer und ideologischer Analysen zum Schluss, dass der zweite Pol der damaligen bipolaren Weltordnung nicht die einzige Supermacht bleiben wird. Die Welt ist zu gross und zu vielschichtig, um die Vorherrschaft einer einzigen Macht zu akzeptieren. Das amerikanische Imperium wird es nicht geben.

Wenn man anderen glaubt, gibt es dieses amerikanische Imperium längst. «Gewöhnt euch dran!», schrieb unlängst die «New York Times» auf dem Titelbild ihres Wochenendmagazins.

Das ist interessant. Jetzt, wo der Begriff nicht mehr der Realität entspricht, wird er überall verwendet. Als er noch eine reale Grundlage hatte, brauchte ihn kaum jemand.

Dann sind Sie also doch der Meinung, es habe ein amerikanisches Imperium einmal gegeben?

Die amerikanische Hegemonie ab Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die späten achtziger Jahre hatte in den entscheidenden Bereichen - Militär, Wirtschaft, Ideologie - eindeutig imperiale Qualität. 1945 wurde die Hälfte aller Güter der Welt in den USA hergestellt. Es gab zwar einen kommunistischen Block in Eurasien, Ostdeutschland und Nordkorea. Aber die starken amerikanischen Streitkräfte, die Marine und die Luftwaffe, übten die strategische Kontrolle über den Rest des Planeten aus - mit der Unterstützung oder zumindest dem Einverständnis vieler Alliierter, deren Hauptziel der Kampf gegen den Kommunismus war. Dieser Kommunismus hatte zwar hier und dort Zulauf unter Intellektuellen, Arbeitern und Bauern. Aber insgesamt installierten die USA ihre Hegemonie mit dem Einverständnis eines grossen Teils der Welt. Es war ein heilvolles Imperium. Der Marshall-Plan war ein vorbildlicher politischer und wirtschaftlicher Akt. Amerika war über Jahrzehnte eine «gute» Supermacht.

Jetzt ist es eine schlechte?

Sie ist vor allem viel schwächer geworden. Amerika hat nicht mehr die Stärke, um die grossen strategischen Akteure - allen voran Deutschland und Japan - kontrollieren zu können. Die industrielle Basis ist deutlich kleiner als jene Europas und etwa gleich gross wie jene Japans. Bei doppelt so vielen Einwohnern ist das kein besonderer Leistungsausweis. Das Handelsdefizit beträgt inzwischen 500 Milliarden Dollar - pro Jahr. Das militärische Potenzial ist zwar immer noch das weitaus grösste der Welt, aber es ist rückläufig und wird überschätzt. Bei der Benützung von Militärbasen sind die USA auf den guten Willen der Alliierten angewiesen, und diese sind nicht mehr so wohlwollend wie auch schon. Vor diesem Hintergrund ist der theatralische militärische Aktivismus gegen unbedeutende Schurkenstaaten zu sehen. Er ist ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke. Schwäche aber macht unberechenbar. Die USA sind daran, für die Welt zu einem Problem zu werden, wo wir uns daran gewöhnt hatten, in ihnen eine Lösung zu sehen.

Angenommen, Sie hätten Recht: Wie soll das blühende Imperium so rasch in den Untergang schlittern?

Zwischen den USA und ihren geopolitischen Interessensphären hat sich - zunächst langsam und kaum merklich, dann immer rascher - eine Schere aufgetan. Ab Beginn der siebziger Jahre öffnete sich ein Handelsdefizit. In diesem zunehmend asymmetrischen globalen Prozess spielten die USA die Rolle der Konsumenten und die übrige Welt jene der Produzenten. Von 1990 bis heute ist das Handelsdefizit von 100 auf 500 Milliarden Dollar geschnellt. Finanziert wurde dies mit Geldern und Kapitalien, die in die USA flossen. Allmählich ging es den Amerikanern wie den Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert, als sie vom Gold aus der Neuen Welt überschwemmt und in die Unproduktivität getrieben wurden. Man schlemmte und prasste und geriet wirtschaftlich und technologisch immer mehr in Rückstand.

Amerika ist doch immer noch der Inbegriff für wirtschaftliche und technologische Kompetenz.

Wenn ich von Wirtschaft spreche, dann meine ich nicht die inzwischen verblasste Neue Ökonomie, sondern den industriellen Kern mit seinen Spitzentechnologien. Da fallen die USA dramatisch zurück. Europäische Anleger haben in den neunziger Jahren zwar in den USA viele Milliarden verloren, die amerikanische Wirtschaft aber ein ganzes Jahrzehnt. Das Handelsdefizit resultiert inzwischen nicht mehr aus dem Import von Gütern niedriger und mittlerer Technologie. 1990 noch hatten die USA für 35 Milliarden mehr Spitzentechnologie exportiert als importiert. Inzwischen ist ihre Handelsbilanz sogar bei diesen Topgütern negativ. Bei der Mobilkommunikation hinken die Amerikaner weit hinterher. Die finnische Nokia ist viermal so gross wie die amerikanische Motorola. Mehr als die Hälfte der Satelliten werden inzwischen mit europäischen Ariane-Raketen ins All geschossen. Airbus ist daran, Boeing zu überholen: Das wichtigste Transportmittel für den Personenverkehr in der globalisierten Welt wird also künftig in Europa hergestellt. Das sind die Dinge, auf die es wirklich ankommt. Das ist weit entscheidender als ein Krieg gegen den Irak.

Sie wollen sagen: Die USA führen die falsche Schlacht am falschen Ort?

Die Führung der USA weiss nicht mehr, wohin sie will. Sie weiss, dass sie auf das Geld der übrigen Welt angewiesen ist, und verspürt Angst, zu nichts mehr zu taugen. Es gibt keine Nazis und Kommunisten mehr. Während eine sich demographisch, demokratisch und bildungspolitisch stabilisierende Welt begreift, dass sie immer weniger auf Amerika angewiesen ist, entdeckt Amerika, wie sehr es auf die Welt angewiesen ist. Deshalb stürzt es sich in militärische Aktionen und Abenteuer. Das ist klassisch.

Klassisch?

Ja. Die letzte Überlegenheit, wel- che den USA noch bleibt, ist ihr Militär. Das ist klassisch für ein System, welches zerfällt. Den krönenden Abschluss bildet jeweils der Militarismus. Beim Zerfall des sowjetischen Imperiums war der Kontext genau derselbe. Mit der Wirtschaft ging es bachab, und in der Führung kam Angst auf. Der militärische Apparat gewann massiv an Gewicht, und die Russen zogen ins Abenteuer, um ihre wirtschaftlichen Defizite zu vergessen. Die Parallelen zur aktuellen Situation der USA sind offenkundig. Der Prozess hat sich in den letzten Monaten rasant beschleunigt.

Wo sehen Sie Indikatoren für diese Entwicklung?

In der europäischen Politik und der Dollarschwäche. In meinem Buch suggeriere ich, dass eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland wahrscheinlich sei. Inzwischen haben der deutsche Kanzler Schröder und Frankreichs Präsident Chirac meine «Historiker-These» mit ihrer gemeinsamen Haltung gegen Bush bekräftigt. Die über Erwarten prompte und heftige Reaktion von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld richtet sich nach seinen Worten zwar gegen das «alte Europa». In Tat und Wahrheit hat er Angst vor dem neuen Europa, und zwar sehr grosse Angst.

Inzwischen haben sich allerdings acht andere europäische Staaten verlauten lassen, nicht im Sinne der deutsch-französischen Achse.

Das wirklich Entscheidende ist in Deutschland passiert. Amerika kann sich als alleinige Supermacht nur halten, solange es die Kontrolle über Deutschland und Japan behält, beides sind riesige Kreditoren der USA. Deshalb kann man die historische Bedeutung dessen gar nicht überschätzen, dass ein deutscher Kanzler die Wahlen mit einem Nein zum Irak-Krieg, also mit einem Nein gegen die USA, gewonnen hat.

Und die Dollarschwäche?

Für mich als Historiker ist der Dollarkurs ein Mentalitätsindikator. Er reflektiert das Bewusstsein der internationalen Wirtschaftsführer über die Wirklichkeit der US-Wirtschaft. Dass der Dollar derart schwach ist, lässt darauf schliessen, dass sie die Lage als weit schlimmer einstufen, als sie öffentlich dargestellt wird. Fakt ist ja: Die Truppen für den Irak-Krieg, der als so einfach dargestellt worden ist, sind immer noch nicht bereit. Nach einem Jahr Hin und Her versuchen die diplomatisch schwergewichtigen Deutschland und Frankreich, diesen Krieg zu verhindern, und die meisten andern Alliierten beteiligen sich daran nur verbal, nicht finanziell. Sich auf einen Krieg am andern Ende der Welt einzulassen, mit einem Handelsdefizit von 500 Milliarden Dollar pro Jahr, mit Freunden, die nicht bezahlen wollen, und einem derart schwachen Dollar, das ist ein ganz schönes Risiko.

In Zukunft, schreiben Sie, werde es drei oder vier starke Pole geben, wovon der einflussreichste Europa sein werde. Rechnen Sie mit einer künftigen Supermacht Europa?

Eine Arbeitsthese meines Buches «Après l'empire» ist, dass der Begriff der militärischen Kontrolle der Welt keinen Sinn mehr machen wird. Was das Militärische angeht, kann künftig von einem Gleichgewicht auf der Welt ausgegangen werden. Ein nukleares Gleichgewicht gibt es ja nach wie vor zwischen den USA und Russland. Die Idee, man könne Teile der Welt durch militärische Operationen kontrollieren, ist passé, weil unrealistisch. Man kann Regime zerstören und ihre Anlagen bombardieren, wie es die Amerikaner in Afghanistan getan haben. Die Bevölkerungen, einschliesslich jener in der Dritten Welt, sind heute so weit alphabetisiert und gebildet, dass man sie nie wird rekolonialisieren können. Die einzige Macht, die heute noch wirklich entscheidend ist, liegt in der Wirtschaft.

Und wirtschaftlich trauen Sie Europa das Zeug zur Weltmacht zu?

Warum nicht? Man sagt zwar oft und gerne, die Europäer seien etwas naiv und passiv. Man wirft ihnen vor, die militärische Rüstung vernachlässigt zu haben. Wenn man aber sieht, dass militärische Macht nicht mehr die wahre Macht ist, und wenn man sieht, dass die Amerikaner mittelfristig nicht mehr die wirtschaftlichen Mittel haben werden, um ihren Militärapparat zu bezahlen, dann kommt man zum Schluss: Die Europäer haben das Richtige gemacht. Sie haben auf die Wirtschaft gesetzt. Sie haben den Euro eingeführt. Ihre Industriepolitik ist insgesamt recht kohärent und beständig. Der Airbus ist nur ein Beispiel. Europa ist gut gerüstet.

Wofür ist Europa «gerüstet»?

Für den Konflikt, der eben beginnt: zwischen den Amerikanern, die den Krieg gegen den Irak wollen, und den Europäern, die ihn letztlich nicht wollen. Der Irak, der nahe bei Europa liegt, ist auch für die Europäer und Japaner der Lieferant von Öl. Aber sie können sich dieses kaufen, mit dem Geld, das sie bei ihren industriellen Exporten verdienen. Sie sind wirtschaftlich stark genug, sie müssen den Irak nicht militärisch zu beherrschen suchen. Die Amerikaner hingegen haben mit ihrem gigantischen Handelsdefizit kaum mehr die Mittel, um für ihren Ölverbrauch zu bezahlen. Deshalb ist für sie die militärische Kontrolle dieser Region auf der andern Seite der Welt vital. Vordergründig geht es um Krieg oder nicht Krieg. In Wahrheit geht es wahrscheinlich schon um die Frage, ob der Irak in die Interessenzone Europas oder Amerikas gehört.

Wer wird in diesem Kampf um Einflusssphären gewinnen?

Auffällig ist, wie ungeschickt die USA vorgehen und wie weit sie vom Universalismus abgerückt sind. Sie sehen die Welt nicht mehr, wie sie wirklich ist. Es gelingt ihnen nicht mehr, ihre Alliierten fair und ausgewogen zu behandeln. All das erinnert mich an das Deutschland Wilhelms II. Die USA verlieren laufend Alliierte. Man hat den Eindruck, es gebe in einem Washingtoner Büro einen Beamten, der den Auftrag habe, jeden Tag eine Idee auszubrüten, um den USA einen neuen Feind zu schaffen.

Wäre es denkbar, dass Europa eines Tages die Stelle von Amerika ein- nimmt?

Es wird nie mehr eine alleinige Weltmacht geben. Neben den USA, Europa und Japan wird auch Russland wieder aufkommen. China, mit seiner heute noch schwachen Technologie, wird bald dazustossen. Insgesamt aber stagnieren die traditionellen Grossmächte alle. Dafür holt die Dritte Welt auf. Und das gibt doch eigentlich Anlass zu Hoffnung.

«Après l'empire»
Emmanuel Todd, 52-jährig, ist Historiker und Politologe am nationalen Institut für Demographie in Paris. In seinen Forschungen untersucht er den Aufstieg und den Niedergang von Völkern und Kulturen über Tausende Jahre.

In seiner neuesten Publikation prognostiziert Todd den Niedergang der USA als alleinige Supermacht: «Après l'empire. Essai sur la décomposition du système américain» (Editions Gallimard 2002). Mit einer ähnlichen Arbeit hatte Todd bereits 1976 Aufsehen erregt. Damals kündigte er aufgrund von Indikatoren wie der zunehmenden Kindersterblichkeit den bevorstehenden Zusammenbruch der Sowjetunion an. («La chute finale. Essais sur la décomposition de la sphère soviétique», Edition Robert Laffont; Deutsch: «Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft», Ullstein 1982.)

1995 fand der Gaullist Jacques Chirac in den Schriften Todds die Inspiration für seine Wahlkampagne zum Thema der sozialen Ungleichheit. Er gewann die Wahl und wurde Präsident.

Todd studierte Politikwissenschaften am Institut des Etudes Politiques in Paris und doktorierte in Geschichtswissenschaften an der Universität Cambridge.


NZZ am Sonntag, 2. Februar 2003




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