Re: Frage an die schweigenden Zwillinge zum Irakkrieg
Geschrieben von Napoleon am 11. März 2003 09:58:50:
Als Antwort auf: Frage an die schweigenden Zwillinge zum Irakkrieg geschrieben von franz_liszt am 10. März 2003 20:13:50:
habe was über sie gefunden gruss napo
Sprachlose Wortkünstler
Die stille Welt der Zwillinge Konstantin und Kornelius Keulen
Die Zwillinge Konstantin und Kornelius sind Autisten. Seit ihrer Geburt vor 17 Jahren haben sie kein Wort gesprochen - und doch gelten die beiden als hoch begabt. Nach dem Abitur wollen sie Philosophie studieren. Kommunizieren können sie nur über das geschriebene Wort. Ihre Texte und Gedichte hat die Journalistin Simone Kosog nun als biografische Reportage veröffentlicht.
Sie wissen, dass sie anders sind. Anders, weil sie sich unserer verbalen Kommunikation verweigern. Sie leben in einer Welt der überwältigenden Stille. Mit zwei Jahren hören sie immer nur Bach, die "Brandenburgischen Konzerte", alle sechs hintereinander. Monatelang immer nur Bach. Musik ist für sie das innere Tor zur Welt da draußen, die beide messerscharf beobachten. Nur: Sie reden kein einziges Wort.
Kommunikation per Computer
Als sie drei sind, bekommt die Mutter die psychiatrische Diagnose: Ihre Zwillinge seien autistisch, mehr noch: geistig behindert. "Frühkindlicher Hirnschaden ist ja immer ganz schnell die Diagnose", meint Silvia Keulen, selbst Kinderärztin. Doch daran hat die Mutter nie geglaubt, weil sie im alltäglichen Leben festgestellt hat, wie ihre Söhne alles ganz genau beobachtet haben. "Und dadurch kamen wir nie auf die Idee, dass sie geistig behindert sind." Fortan meidet die Mutter alle hirnphysiologischen Tests, weil sie der sichtbaren Intelligenz ihrer "sprachlosen" Zwillinge vertraut. Sie wird Recht bekommen.Als die beiden gerade mal sechs sind, fangen sie tatsächlich an zu kommunizieren, und zwar mit Hilfe des Computers. Bis heute. Und das nur im Körperkontakt mit der Mutter. "Facilitated communication", gestützte Kommunikation, heißt die in den USA entwickelte Methode. Sie formulieren erstaunliche Sätze, immer klein geschrieben, auch darüber, warum sie schweigen: "wer laut spricht, der zerstört seine welt. eine welt, die würdig ist und weiterbestehen soll.",schreibt der achtjährige Kornelius. "leben ohne sprache läßt mir innere sicherheit, um komplizierte gedanken zu formulieren.", heißt es bei seinem Bruder Konstantin. Silvia Keulen meint: "Ihre Welt ist die Welt des Denkens. Und das haben sie auch einmal so beschrieben: Wir denken immerzu, und wir müssen immer denken."
Besondere Wahrnehmung
Denken ist einsame Erkenntnis. So erschließen sich die Zwillinge die äußere Welt. Offenbar denken beide in rasender Geschwindigkeit, verarbeiten ihre Sinneseindrücke sekundenschnell. "ich herausfordere die einmalige, eine lichtsekunde und teile mit ihr meine, deine existenz.", schreibt Konstantin im Alter von 14 Jahren. "eile meine seele / eile fort / eile meine seele / eile an den ort / innerweltlich unerhört / finde ich den ort. / ausserweltlich fast betört / meide ich den ort", ein Gedicht von Kornelius im selben Alter.Jetzt mit 17 ist ihr erstes Buch "Zu niemandem ein Wort" erschienen. Gedichte, Essays, Reiseberichte, Reflexionen, leichtfüßig selbstironisch oder abgrundtief melancholisch. Texte von atemberaubender Intensität und Genauigkeit ihrer Weltwahrnehmung. Passt da der Begriff "Autismus"? Der renommierte Forscher Fritz Poustka, Chefarzt der Psychiatrie an der Universität Frankfurt am Main, beschreibt, was Autisten kennzeichnet: "Man muss sich Leute vorstellen, die sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Sie sehen überscharf Details, sie sehen beispielsweise, wenn jemand lacht oder weint, wie weit die Zähne entblößt sind. Aber sie können sich keinen Reim drauf machen, was das bedeutet. Sie sehen die Zusammenhänge nicht." Auf die Zwillinge trifft das nicht zu. Es passiert, dass sie mit einem Mal abrupt stehen bleiben, sich die Ohren zuhalten und sich durch Gesten warnen, ehe Minuten später ein Böllerschuss losgeht. Die Jungs wussten das erstaunlicherweise viel früher.
Souveräne Alltagsbewältigung
Untypisch auch für "klassische" Autisten, ist wie souverän die zwei ihren Alltag meistern. Selbstständig radeln sie zu ihrer ganz normalen staatlichen Gesamtschule. Sie sind in der 12. Klasse, die 11. haben sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Auf dem Schulhof werden sie unsicher, linkisch, verharren im Abseits. Kornelius mimt den Clown, das ist sein Versuch, mit den anderen Kontakt aufzunehmen. Doch es glückt nicht so richtig. Dicht beieinander gehen sie an den Wänden entlang. "in uns giert eine große sünde: nach mittelmaß." Ist das der Schlüssel zu den beiden? Ortrud Meyhöfer, die Schulleiterin der Voltaire-Gesamtschule, findet keine Antwort: "Dieser Satz macht mich unheimlich traurig. Das korrespondiert eigentlich mit dem, was sie mir gemailt haben: dass sie irgendwo dazugehören möchten. Und sie wissen gleichzeitig, dass es eigentlich nicht geht, und dass es nicht funktionieren kann." In der Deutschstunde wird das schriftliche Referat der Zwillinge über Max Frischs Roman "Homo Faber" analysiert. Die Mitschüler bemühen sich, die komprimierten Thesen der Zwillinge zu verstehen. Die Tische der beiden sind leer, kein Buch, kein Manuskript. An der Diskussion scheinen sie nicht sonderlich interessiert. Mimisch und gestisch verständigen sie sich über die Kommentare ihrer Mitschüler: per Geheimcode.
"Sie lesen gar nicht. Sie sind schneller im Lesen, im Aufnehmen, was mich völlig verblüfft hat", ist ihrer Deutschlehrerin Erika Kiesant aufgefallen. "Ich hab ihnen einen Text hingelegt, der wurde in Sekundenschnelle zur Seite geschoben.Wie das in ihrem Kopf funktioniert, kann ich mir nicht erklären." Auf die Frage, wie sie Bücher lesen, antwortet Konstantin: "Wir lesen alle Bücher in dichter Abfolge. Keiner sieht es. Keiner wird verstehen, wie das geht. Das ist wesentlich mit unserer Art, die Welt zu verstehen, verbunden. Die Bücher sind unsere Verbündeten." Der "Hellseher" Kornelius hat auf die Frage, wie lange der Irak-Krieg dauern werde, seine eigene Antwort: "Ich ernenne Bush zum Kriegstreiber und die Völker dieser Erde zu feigen Gesellen. Wer will Krieg? Nur Machtbesessene und Besitzgierige."Der Schluss-Satz der listigen, hintersinnigen Zwillinge über ihren so genannten Autismus: "wenn es den menschen hilft, uns zu klassifizieren, so sollen sie es tun. uns ist es egal. ein leben definiert sich durch sich. ein leben ist frei."