Buchtip: John Brunner: Schafe blicken auf

Geschrieben von Badland Warrior am 15. Dezember 2002 23:20:20:

1972 geschrieben, aber aktueller denn je.

... und ringsum Fäulnis schwillt
John Brunner: Schafe blicken auf
(Heyne SF 06/8003 - High 8000)
gelesen von Peter Schünemann



"Die Schafe blicken auf, sind hungrig, nicht gefüttert,
Allein vom Wind gebläht, widerlichem Dunst, darin sie stöbern,
Im Leibe Moder, und ringsum Fäulnis schwillt."


Mit diesem Zitat aus Miltons Poem "Lycidas" beendet Brunner seinen Roman "Schafe blicken auf".
Bezeichnenderweise trägt dieses allerletzte "Kapitel" des Werkes (es besteht nur aus dem Zitat) die
Überschrift "Nächstes Jahr", was man auf die vorhergegangene Gliederung beziehen könnte, die
nach Monaten erfolgte, vom Dezember irgendeines Jahres bis zum November des nächsten.
Dennoch, mir scheint, als seien mit diesem Zitat direkt wir angesprochen - und als könnte dieses
Jahr, welches das Schwellen der Fäulnis erlebt, unser nächstes Jahr sein. Daß die Charaktere des
Buches Menschen wie du und ich sind, macht die Drohung nur noch offenkundiger. "Schafe blicken
auf", veröffentlicht 1972, ist aktuell wie eh und je, und Wolfgang Jeschke hat recht getan, den
Roman in die Reihe "High 8000 - Eine Auswahl guter Science Fiction" aufzunehmen. Ebenso
gerechtfertigt erscheint das Hardcover, denn es ist eindeutig ein Roman, den man mehrmals lesen
sollte.
Worum es geht? Schlicht und einfach um den Zusammenbruch der Zivilisation amerikanischer
Prägung, ums Versagen des Common sense, um die literarische Widerlegung der These Adam
Smiths, daß man die Wirtschaft und deren einzelne Individuen nur sich selbst überlassen müsse, dann
stelle sich schon von ganz allein ein dem Gemeinwohl förderliches Gleichgewicht her, und jeder, der
an sein eigenes Interesse denke, arbeite dann automatisch auch für die Interessen der Gemeinschaft.
Nun, diesen optimistischen Ausblick von der Wiege des modernen Kapitalismus her widerlegt die
heutige Welt allemal. Rezession und Arbeitslosigkeit, in der Politik entweder Stagnation und blinder
Aktionismus oder das Zurück zu einem wieder freieren Konkurrenzkampf ohne diese lästigen
sozialen Hindernisse für den Unternehmergeist; Krisenherde überall auf der Welt, Rebellionen,
nationalistische Kleinkriege, eine hilflos agierende UNO, der gefährlich angeschlagene russische Bär;
Hunger und Klimakatastrophen ... Und vor allem die immer weiter um sich greifende
Umweltverschmutzung, derzeit wahrscheinlich die Bedrohung Nummer Eins für unser Geschlecht.
Das alles erleben wir live.
Muß man es dann auch noch beschreiben?
Man kann es nicht oft genug tun, finde ich. Fand wohl auch Brunner, der dem Thema etliche seiner
Meisterwerke widmete; vor allem zu nennen sind hier "Stand On Zanzibar" (1968 - dt.
"Morgenwelt"), "The Sheep Look Up" und "The Shockwave Rider" (1975, dt. "Der
Schockwellenreiter"). Das SF-Lexikon nennt diese Bücher "eindringliche Dystopien, die in der
modernen SF ihresgleichen suchen".
Hauptfigur in diesen Romanen ist die angeschlagene Gesellschaft selbst, ein System, das untergeht,
weil es "verkonsumiert" worden ist und auch weiterhin so behandelt wird. Daran läßt Brunner keinen
Zweifel: Es ist die Gier der einzelnen Individuen nach mehr Besitz, von welcher das letztendliche
Chaos herrührt. Die Welt wird verarbeitet zu den hübschen bunten Dingen des abendländischen
Alltags, und am Ende ist nicht mehr viel Welt übrig, so daß der Kampf um die verbleibenden
Ressourcen immer gnadenloser wird. Doch das bemerkt nahezu niemand; die meisten Figuren in
"Schafe blicken auf" empfinden die Zustände als ganz normal, wahrscheinlich so wie wir diese Luft
normal finden, vor der unsere Vorfahren vermutlich geflohen wären wie vor der Pest. Fast keiner will
merken, daß "ringsum Fäulnis schwillt", daß die Welt zugrunde geht.
Nur die Trainisten, so genannt nach dem Wissenschaftler und Warner Austin Train, versuchen gegen
das System zu kämpfen oder wenigstens die alten Fehler nicht mehr zu begehen. Die einen
veranstalten mehr oder minder gewalttätige Demonstrationen gegen den Konsum, die anderen ziehen
sich auf Landkommunen zurück und probieren den Ausstieg in die Autarkie. Keiner der beiden
Wege führt zum Ziel; der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß er dergleichen Wege für Sackgassen
hält. Die Gewalt provoziert am Ende nur die Gegengewalt des Staates, und die Landkommune ...
Aber das gehört zum Inhalt und sei hier nicht verraten. Der rote Faden, der sich durch die Handlung
zieht, hat jedenfalls nur bedingt etwas mit den einzelnen Personen zu tun, die wir kennenlernen, etwa
Austin Train selbst oder die Journalistin Peg, den Versicherungsvertreter Philip Mason oder den
Polizisten Pete Goddard. Sie alle fungieren hier nur als Steinchen in einem Mosaik, illustrieren
einzelne Aspekte des Zusammenbruchs - und dessen Fortschreiten ist es, das die vielen Teilchen
zusammenhält, aus denen der Roman besteht. Er beginnt fast harmlos, mit dem "Amoklauf" eines
"Niggers" mitten auf einem Highway; er endet mit einer Welle des Wahnsinns und der Gewalt, die
ganz Denver überschwemmt. Erst nach und nach durchschaut der Leser die einzelnen Stränge der
Handlung, erkennt er, wer mit wem wie zu tun hat, erfährt er die Lösung des Rätsels um den
Amokläufer.
Brunner bedient sich hier, wie schon in "Morgenwelt" und dann wieder in "Der Schockwellenreiter",
einer extremen Montagetechnik, die er von Dos Passos' "Manhattan Transfer" abgesehen haben soll,
was ich aber nicht beurteilen kann, da ich dieses Werk nicht kenne. Jedenfalls handhabt er sie
meisterhaft. Jedes Kapitel beginnt mit einem Gedicht. Meist sind die Texte alt, bisweilen sehr alt. Sie
zeigen die Wurzeln der heutigen Verhaltensweisen; der Autor bekundet so, daß für ihn die
Ursprünge des Übels nicht im Denken der letzten drei, vier Generationen liegen, sondern im Denken
des abendländischen Menschen generell, in seiner Art, die Welt zu sehen, rational zu zergliedern und
sich in ihr einzurichten. Auf die Gedichte folgen Handlungsteile, oft nur wenige Seiten lang, immer
wieder unterbrochen von Werbespots, eingefügten amtlichen Dokumenten, den Texten fiktiver
Nachrichtensendungen, neuen Handlungsteilen ... Bei keiner Person verharrt Brunner allzu lange, und
wie gesagt: Erst nach und nach kristallisiert sich das Beziehungsgefüge heraus. Dabei beeindruckt,
daß der Autor nie den Überblick verliert, daß er die Fäden jederzeit in der Hand behält und
souverän miteinander verknüpft. Der Text wirkt leicht geschrieben, aber die Planung muß schwierig
gewesen sein. Sicherlich wird diese Art Technik nicht jedem Leser Freude machen, denn allzu oft
unterbricht Brunner die Geschichte einer Person, um ganz woanders zu beginnen, und Überblättern
nützt nicht viel, denn wenn es vierzig Seiten später weitergeht, sind neue Aspekte hinzugekommen,
haben sich vielleicht zwei Fäden miteinander verschlungen, so daß diese Tricks nichts nützen. Nein,
man muß Geduld haben, um dabeizubleiben - doch es lohnt sich!
Bleibt ein Zweifel: Ist das Buch nicht längst veraltet? Fünfundzwanzig Jahre liegen zwischen ihm und
dem Heute - haben sich da nicht manche Prognosen von selbst erledigt?
Im Gegenteil. Zum Beispiel liest sich der Hilfseinsatz der UN in der von Kriegen und Hunger
heimgesuchten afrikanischen Region Noschri wie eine Pulitzer-Preis-Story von heute; Parallelen zu
Somalia drängen sich förmlich auf. Der Kampf der USA in Honduras gegen die Tupamaros erinnert
an Vietnam und Grenada gleichzeitig, und daß der Präsident der Vereinigten Staaten ein ehemaliger
Schauspieler ist, der seine Reden in Hollywood und Disneyland hält und nur nichtssagende
Statements, bestehend aus markigen Zitaten, abgibt - nun, äh ... Man merkt dem Roman sein Alter
nicht an, bisweilen wirkt er wie eine brandaktuelle Politsatire. Da sich aber die Zustände, wie es im
Moment aussieht, nicht verbessern werden, wird "Schafe blicken auf" wohl noch eine ganze Weile
für den Leser interessant bleiben. Hoffen wir nur, daß Brunners Prognosen nicht von der
Wirklichkeit eingeholt werden ...
Die "Hochliteratur", so bemerkt Herausgeber Wolfgang Jeschke im Vorwort mit Bezug auf ein
Aldiss-Zitat, wende sich mehr und mehr der Verklärung der Vergangenheit zu; die Gegenwart und
erst recht die Zukunft seien für die meisten Literaten wohl unüberblickbar geworden. "Die Folge
dieser Haltung ist", so Jeschke, "daß eine Analyse der Gegenwart, eine gesellschaftskritische
Auseinandersetzung mit ihren Problemen und Tendenzen, wie es bei Dickens und Zola noch
selbstverständlich und bei Fallada und Dos Passos noch gegeben war, in der heutigen sogenannten
Hochliteratur nicht mehr stattfinden. Diese Funktion fällt zunehmend der Science Fiction zu."
Genau. Und wenn sie, wie hier von Brunner, literarisch hochkarätig erfüllt wird, so sollte der SF-Fan
sich nicht vom "Spinner! Spinner! Trivial! Trivial!"-Gemurmel ewig besserwissender Ästheten
irritieren lassen, sondern sie ganz einfach nach den großen Kritiken und Zukunftsentwürfen der
heutigen "Hoch-" oder Mainstream-Literatur fragen. Und die folgende Verlegenheitspause freundlich
lächelnd genießen.

The Sheep Look Up, © 1972 by Brunner Fact and Fiction, Ltd., dt. von Horst Pukallus, 1978 und
1997, 526 S., DM 19,90






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