Blutrünstige Gesellschaften

Geschrieben von HotelNoir am 15. Dezember 2002 13:29:32:



...Geschichtstudenten wissen natürlich, daß die christliche Religion während der langen Dekaden des Fanatismus tatsächlich besonders blutig und zerstörerisch gewütet hat; Liberale und Rationalisten erinnern zwar stets an diese tragische Entwicklung der Religion der Liebe, aber nur wenige von ihnen haben sich die Mühe gemacht, all die Fakten zu registrieren, die der Harvard-Soziologe Pitrim Sorokin zum Thema KRIEG zusammengetragen hat.
In seinem Buch Social and Cultural Dynamics und anderen Werken belegt Sorokin zweifelsfrei, daß demokratische Nationen vom Anbeginn der Zivilisation bis heute in mehr imperialistische Kriege verwickelt waren und diese mit größerer Grausamkeit geführt haben als Völker mit irgendwelchen anderen Regierungsformen.
Orientalische Gewaltherrschaften, absolute Monarchien, ja selbst die faschistischen und kommunistischen Staaten von heute, sie alle haben sich im Lauf der Geschichte der abscheulichsten Tyrannei und allgemeinen Unterdrückung des Menschen schuldig gemacht, und doch waren sie insgesamt viel weniger aggressiv und kriegswütig als die Demokratien vom alten Athen bis zum modernen Amerika.



Der Blutdurst des Christentums und der Demokratie -- der regelrecht fühlbar wird, wenn man nur ein paar Minuten einer Rede von Prediger Jerry Falwell oder seinem guten Freund Ronald Reagan zuhört -- beruht natürlich auf Arroganz, Größenwahn und einem tiefeingewurzelten Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen nichtchristlichen und nichtdemokratischen Völkern. Darüber hinaus aber liegt die Gewalttätigkeit christlicher/demokratischer Länder in dem einzigartigen Wahn begründet, in dem sowohl die Religion der Liebe als auch die Politik der Freiheit befangen ist. Dieser Wahn besteht in der Überzeugung dem Menschen sei eine Art von >>freiem Willen<< angeboren, der ihn über das Tier erhebt und den Göttern fast ebenbürtig macht.



Der Wahn vom freiem Willen ist keineswegs ein kleiner Irrtum wie etwa die irrtümliche Überzeugung, es sei Dienstag, obwohl es in Wirklichkeit Mittwoch ist. Er ist nicht einmal einem der gewichtigeren Denkfehler bekannter Art vergleichbar wie etwa Marx' Behauptung ein totalitärer >>Arbeiterstaat<< würde nach seiner Entstehung schnell und auf magische Weise wieder >>dahinschwinden<<. Er ist noch schändlicher und verderblicher als der mittelalterliche Hexenwahn, durch den aus Hysterie, Aberglauben und auf bloßes gerüchteweises Hörensagen hin, das kein heutiges Gericht als Beweismittel anerkennen würde, zehn Millionen (?) Frauen auf dem Scheiterhaufen umkamen. Der Wahn vom freien Willen ist viel schwerwiegender als alles. Er verdreht die Wirklichkeit um 180°, und wer ihm verfällt, begegnet allem, was um ihn herum geschieht, mit völligem Unverständnis; er könnte ebensogut taub, stumm und blind sein und zur Warnung ein Schild tragen mit der Aufschrift : ENDSTATION IRRENHAUS.



Das rede ich nicht einfach so daher, und ich möchte auch nicht als satirisch oder polemisch mißverstanden werden. Die heutige Biologie und Psychologie hat klar und deutlich nachgewiesen, daß sich 99% der Menschheit 99,99999 % der Zeit in einem roboterhaften, zombieähnlichen Zustand befindet. Und das gilt nicht etwa für >>die anderen<<. Es gilt für SIE UND MICH. Das einzig Positive an uns sind die gelegentlichen Lichtblicke, aber die hat eigentlich auch jeder, der an Schizophrenie leidet.


OST, WEST UND MITTE


Im Orient, mit eigener Blödheit geschlagen und gleichzeitig abergläubisch herrscht über das Märchen vom >>freien Willen<< eine erstaunliche Klarheit: Buchstäblich ohne Ausnahme sind alle großen Philosophen zu der Erkenntnis gekommen, daß Esel, Heuschrecken, Delphine, Schildkröten, Kolibris, Hunde, Hühner, Tiger, Haie, Ziesel, Spinnen, Schimpansen, Kobras, Kühe, Läuse, Tintenfische, Rehe und Menschen von gleicher Bedeutung, gleicher Bedeutungslosigkeit und gleicher Leere sind und in gleicher Weise Ausdrucksformen der >>Weltseele<< oder der >>Lebenskraft<< darstellen. Buddhismus, Vedanta und Taoismus behaupten gar, jedes der eben erwähnten klugen Tiere einschließlich des Menschen besitze etwa genausoviel >>freien Willen<< wie Blumen, Büsche, Felsen und Viren, und der Wahn des Menschen, vom Rest der Natur getrennt oder ihm überlegen zu sein, sei eine Form der narzißtischen Selbsthypnose. Aus dieser egoistischen Trance zu erwachen, ist das erklärte Ziel aller psychologischen Systeme des Ostens .



Im Widerspruch zu dieser östlichen Erkenntnis und Hinnahme einer bestehenden natürlichen Ordnung, aber auch zu den christlich-demokratischen Wahnvorstellungen vom >>freien Willen<< und von >>persönlicher Verantwortung<< stehen die Geheimlehren des Sufismus im Islam und der Hermetik in Europa. Diese räumen zwar ein, daß domestizierte Primaten ( Menschen ) die gleichen Mechanismen aufweisen wie ihre wilden Artgenossen ( etwa Schimpansen ), nehmen aber an, daß die Menschen durch bestimmte Übungen immer weniger mechanisch agieren, bis sie schließlich im Laufe einer Entwicklung über Jahr und Tag hinweg Freiheit und Verantwortung erlangen.



Derartige spirituelle ( neurologische ) Übungen der ENT - WICKLUNG und Entmechanisierung finden im Orient natürlich kaum Anklang, da dort die Auffassung vorherrscht, daß man als Roboter geboren wird und als Roboter stirbt; und noch geringeres Interesse bringen ihnen die christlich-demokratischen Kulturen entgegen, die davon ausgehen, daß man bereits frei und verantwortlich geboren ist und nicht ARBEITEN, HART ARBEITEN muß, um überhaupt einmal annähernd nichtmechanische Bewußtseinszustände und Verhaltensweisen zu erleben.



Im Orient ist man leicht zur Vergebung bereit, denn von Robotern kann man nicht erwarten, daß sie etwas anderes tun als das, was durch Vererbung und Umwelteinflüsse hineinprogrammiert wurde. Die christlich-demokratischen Nationen sind so blutrünstig, weil sie nicht vergeben können, sondern jeden einzelnen für die Verhaltensprägungen und -konditionierungen verantwortlich machen, die jeweils >>out<< sind. ( Darum nannte Nietzsche das Christentum >>die Religion der Rache<< und Joyce den christlichen Gott einen Blutrichter.) Der Sufismus und die Hermetik sind insofern fast orientalisch, als sie Robotern ihre Roboterhaftigkeit vergeben, aber sie tun es ohne falsche Gefühle. Mit den Worten eines Sufidichters :


Der Narr vergibt nicht und vergißt nicht,

die Halberleuchteten vergeben und vergessen;

der Sufi vergibt, aber vergißt nicht.



Das heißt, der Sufismus und andere hermetische Traditionen gehen davon aus, daß Roboter sich wie Roboter benehmen, ohne sie dafür verantwortlich zu machen, aber sie vergessen auch keinen Augenblick, keine Nanosekunde lang, daß wir in einer Roboterwelt leben -- einem bewaffneten Irrenhaus --, wie der Dichter Allen Ginsberg sagt. Wer diesen Traditionen angehört weiß, daß ein Mensch der christliche oder demokratische Sprüche von sich gibt, darum noch keineswegs mit brüderlicher Liebe handelt; im allgemeinen verhält er sich weiterhin so wie ein falsch verschalteter Roboter.


(Robert Anton Wilson - Vorwort zu "Ent-wickle Dich" von Ch. S. Hyatt)


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