Re: Ein Traum, literarisch

Geschrieben von Backbencher am 07. Dezember 2002 14:33:22:

Als Antwort auf: Re: Ein Traum, literarisch geschrieben von Arkomedt am 07. Dezember 2002 01:53:39:

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Oh, Arkomedt, jetzt ist mir aber was passiert. Ich wollte mit dem Beitrag von Nietzsche nicht Deinen Traum oder Dein literarisches Können kritisieren. Ich wollte den Ausschnitt aus Zarathustra nur als freie Assoziation neben Deinen Traum stellen. Dass ich 'Literat' in Anführungszeichen setzte war, weil Nietzsche von den meisten Menschen nicht als Literat sondern als Philosoph gesehen wird.

Tatsächlich ist er für mich der Schriftsteller mit dem allerbesten Deutsch was ich kenne. Ich habe gehört, dass Nietzsche der deutsche Autor mit dem höchsten aktiven Wortschatz ist, nämlich rund 30.000 Wörtern. Was mich nicht groß wundert, wenn man sieht, wie meisterhaft er Wörter erfindet bzw. verwendet. Hierfür ("Bleitropfen-Gedanken") und als Beispiel seiner stilistischen Kunst eignet sich das gepostete Stück 'Vom Gesichte und Rätsel' ausgezeichnet.

Übrigens hat sich Nietzsche von seiner frühen Jugend an mit nichts anderem als mit klassischer Literatur beschäftigt. Später, zu Zeiten als er Zarathustra schrieb, war er krank und konnte sich nicht anders helfen, als ohne Unterbrechung in den Schweizer Gebirgswäldern zu gehen, wo er nebenher nichts anderes tat als seine Stücke zu formulieren und in der Hosentasche laufend zu schreiben. Du musst Dich da also nicht mit ihm messen und was für Dich subjektiv von Wert ist, darüber müssen wir nicht streiten.

N. ist für mich ein außerordentlicher Seher mit einem übergroßen Sehnsucht nach der evolutionären Entwicklung des Menschen. Als Seher zeigt er weniger konkrete Ereignisse auf, als viel mehr geistige Zustände und Entwicklungen. Einiges hierzu habe ich ja schon gepostet, ist aber schnell in den Archiven versunken. Dass er von den Deutschen missverstanden und missbraucht werden wird, hat er übrigens klar vorhergesehen.

Weil's so schön war, noch mal was zur aktuellen Situation....

Herzliche Grüsse
Backbencher


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Vom neuen Götzen

Irgendwo gibt es noch Völker und Herden, doch nicht bei uns, meine Brüder: da gibt es Staaten.

Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt tut mir die Ohren auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker.

Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: "Ich, der Staat, bin das Volk.''

Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.

Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin.

Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen Blick und Sünde an Sitten und Rechten.

Dieses Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten.

Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt - und was er auch hat, gestohlen hat er's.

Falsch ist alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Eingeweide.

Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!

Viel zu viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden!

Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!

"Auf der Erde ist nichts Größeres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes'' - also brüllt das Untier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Knie!

Ach, auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er errät die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden!

Ja, auch euch errät er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!

Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen, - das kalte Untier!

Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.

Ködern will er mit euch die Viel-zu-vielen! Ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden, ein Pferd des Todes, klirrend im Putz göttlicher Ehren!

Ja, ein Sterben für viele ward da erfunden, das sich selber als Leben preist: wahrlich, ein Herzensdienst allen Predigern des Todes!

Staat nenne ich's, wo alle Gifttrinker sind, Gute und Schlimme: Staat, wo alle sich selber verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord aller - "das Leben'' heißt.

Seht mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich die Werke der Erfinder und die Schätze der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl - und alles wird ihnen zu Krankheit und Ungemach!

Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie verschlingen einander und können sich nicht einmal verdauen.

Seht mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld, - diese Unvermögenden!

Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie klettern über einander hinweg und zerren sich also in den Schlamm und die Tiefe.

Hin zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es, - als ob das Glück auf dem Throne säße! Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron auf dem Schlamme.

Wahnsinnige sind sie mir alle und kletternde Affen und Überheiße. Übel riecht mir ihr Götze, das kalte Untier: übel riechen sie mir alle zusammen, diese Götzendiener.

Meine Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste ihrer Mäuler und Begierden! Lieber zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie!

Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von der Götzendienerei der Überflüssigen!

Geht doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht fort von dem Dampfe dieser Menschenopfer!

Frei steht großen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht.

Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut!

Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.

Dort, wo der Staat aufhört, - so seht mir doch hin, meine Brüder! Seht ihr ihn nicht, den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen? -

Also sprach Zarathustra.
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