Zeitkritik: Wirtschaftskrise, Anfang am Ende (Feuilletonartikel aus der ZEIT)

Geschrieben von Fred Feuerstein am 29. November 2002 20:16:43:

DIE ZEIT: "Wirtschaftskrise" - Sie kommt auch zu Euch, Systemfreunde !


Anfang am Ende

Kaum hat die Karriere begonnen, da ist sie für viele von uns schon wieder vorbei. Die Krise erreicht die Wohlstandskinder. Ein Anflug von Panik
Von Henning Sussebach

Die Krise. Erst las ich nur von ihr, da war sie noch weit weg. Dann hörte ich von ihr, über drei Ecken. Dann erwischte sie Freunde von Freunden, dann die Freunde selbst, die Einschläge kamen immer näher. Als Ersten traf es Christian, wie ich ein Journalist. Dann Katrin, Grafikerin. Dann Petra, Lektorin. Seit Oktober geht auch Stefan, unser Nachbar aus dem vierten Stock, morgens nicht mehr zur Arbeit. Er ist der Mann, der den Slogan »It’s not a trick, it’s a Sony« erfunden hat. Sein Job ist weg, sein Dienst-Passat, sein Siegerlächeln. Es ist kein Jahr vergangen, und mein Adressbuch ist zum Nummern-Friedhof geworden, überall tote Festnetzanschlüsse und durchgestrichene E-Mail-Adressen. Wer früher @faz, @siemens, @pixelpark war, sitzt heute @home. Ich blättere von A bis Z, zähle nach und komme zu dem Ergebnis: Ich habe nicht mehr viele Freunde, die noch eine feste Stelle haben.

Bin ich der Nächste? Ich habe Angst.

Es ist eine Angst, die ich nicht kannte. Ich wuchs auf mit der Erfahrung zu bekommen, was ich bekommen wollte, und zu werden, was ich werden wollte. Als ich auf der Grundschule war, wollte ich aufs Gymnasium. Als ich auf dem Gymnasium war, wollte ich auf die Universität. Als ich auf der Universität war, wollte ich in den Beruf. Als ich im Beruf war, wollte ich eine Familie. Als ich eine Familie hatte, wollte ich eine Eigentumswohnung.

Als ich die Eigentumswohnung hatte (mithilfe von Eltern, Erbe und nicht zuletzt einem Kredit, den ich dreißig Jahre lang abbezahlen werde), war mein persönliches Wirtschaftswunder vollbracht. Schnell zwar, aber im Resultat doch nur das bürgerliche Glück, das immer Ziel des ganzen Strebens war. Alles war derart glatt gegangen, dass ich – bis dahin ein Rastloser – ein ruhiger Mensch zu werden schien. Ich träumte nicht mehr diesen Albtraum, dass alles, was ich erreicht hatte, ungültig ist, solange ich nicht diese Mathearbeit nachgeschrieben habe, die ich in der siebten Klasse mal versäumt hatte. Ich hörte sogar auf, mit den Zähnen zu knirschen.

Mein Leben? Ein Sammeln, ein Zugewinn, jede Handlung verzinst, jedes Jahr etwas mehr: Bildung, Erfahrung, Verantwortung, Geld, Selbstsicherheit, auch die. Mein Lebenskonto war im Plus, als ich Anfang des Jahres 30 wurde. Ich feierte in meinem Dachgeschoss, blickte hinunter auf den Park und die Stadt und fühlte eher, als dass ich dachte: »Ich bin angekommen. So könnte es bleiben.«

Jetzt, am Ende des Jahres, wohnen wir immer noch mit Blick auf den Park, meine Frau, meine Tochter und ich. Es sieht so aus, als habe sich nichts verändert, und doch ist vieles anders. Ich habe alle Gewissheiten eines Wohlstandskindes verloren, Gewissheiten, die andere längst aufgegeben hatten, die für mich aber noch gegolten hatten. Dass ich mein Leben lenken kann. Dass Leistung und Erfolg zusammenhängen. Dass ich auch im schlimmsten Fall stets eine neue Stelle finden würde. Und jetzt? Soll nicht mal mehr meine Lebensversicherung garantiert sein.


Wegen der Krise. Dieses eine Wort fasst zusammen, was innerhalb eines Jahres so vielen Lebensläufen eine andere Richtung gab: die kranke Weltwirtschaft, die Winkelzüge der Bilanzbetrüger, die geplatzten Blasen an den Börsen, die Angst vor Terror und Krieg.

Ich weiß, größer als die Krise ist oft das Krisengerede, vielleicht auch dieses hier. Und Rezessionen hat es viele gegeben, ganze Generationen von Bergleuten und Stahlarbeitern wurden in die Arbeitslosigkeit gekippt. In meiner westdeutschen Reihenhausjugend habe ich nur nichts davon mitbekommen. Ich lebte in einem Land mit vier Millionen Arbeitslosen, ohne einen einzigen zu kennen – und ohne mich darüber zu wundern. Vielleicht reißt mich das, was jetzt geschieht, endlich in die Realität.

Lebenslinien stürzen ab wie Aktienkurse

Doch einen Sturz wie diesen, gab es den schon mal für ganze Jahrgänge von Berufsstartern? In Friedenszeiten? Eine Antwort hat die Bundesanstalt für Arbeit: Die Zahl der arbeitslosen Akademiker ist noch nie so schnell gestiegen; um 25 Prozent in einem Jahr. Am häufigsten trifft es junge Menschen mit ähnlichen Biografien wie meiner, Menschen, die gerade beginnen wollten, sich in ihrem Leben einzurichten, und die sich jetzt mühsam von Jahresvertrag zu Jahresvertrag oder nur noch von Auftrag zu Auftrag hangeln.

Das ist ein ziemlicher Einbruch, verglichen mit den Perspektiven, die wir in den letzten Jahren hatten. Da gab es viele Lebenslinien, die in dieselbe Richtung wiesen wie die Aktienkurse. Steil nach oben. Dann steil nach unten. Jetzt werden wir vom Markt genommen. Abgestempelt sind wir auch schon, vom Spiegel als »jung, erfolgreich, entlassen«, vom stern als »Generation arbeitslos«, von der Süddeutschen Zeitung als »Generation fear«, die einmal die »Generation fun« gewesen ist. Manchmal schwingt da Genugtuung mit, dass es ausgerechnet diese Generation getroffen hat. Einige waren ja auch ekelhaft in Zeiten des Booms, neureich, mit sehr spitzen Ellenbogen. Sie dachten, sie seien gerissener als der Kapitalismus selbst.

Vielleicht mussten wir so werden. Wir, die wir aufgewachsen sind mit Fernsehsendungen, die Heiteres Beruferaten hießen und später dann Wetten, dass…?, dieser samstäglichen Muskelschau voller Zuversicht und Optimismus, diesem Zeitgeist-Konzentrat der achtziger Jahre: »Seht her, was ich kann! Jeder ist seines Glückes Schmied! Ein bisschen Zielstrebigkeit, und alles ist möglich!« So liefen wir ins Leben, lernten, sparten uns die Revolution, legten unsere Prüfungen ab und eilten in die Büros – jeder mit seiner eigenen, zumindest fantasierten, Erfolgsgeschichte unterwegs, Superstar im eigenen Kopfkino, Regisseur und Hauptdarsteller zugleich. Schöner Film. Dann riss das Band.

Vielleicht ist es ein Trost für die Millionen Menschen, denen es schon lange viel schlechter geht, ohne dass sich jemand für sie interessiert hätte: Die Arbeitslosigkeit kriecht langsam von unten nach oben, in der gesamten Gesellschaft und in meinem Leben auch. Sie kam drüben aus dem Park, wo sie seit Jahren mit den Alkoholikern auf den Bänken saß, ist über die Straße in unser Haus geschlichen, steigt Stockwerk für Stockwerk hinauf und hat sich jetzt den Werbemann in der vierten Etage gepackt. Und ganz oben, im ausgebauten Dach, sitze ich und glotze auf das Elend hinab, obwohl es mir noch am besten von allen geht.

Ich frage mich, ob ich das so schreiben darf in meinem (soweit ich weiß) sicheren Job.


Es könnte nach Hysterie eines Besserverdienenden klingen. Doch habe nicht auch ich ein Recht auf Angst, mit einer Familie zumal?

Fast möchte man darüber lachen: Ausgerechnet wir, die wir nie gegen das System aufbegehrt haben, werden jetzt von ihm verstoßen. Der freie Markt galt uns nicht als »Schweinesystem«, sondern als Chance. Es gab Eltern, Lehrer, Professoren, die uns für unseren Pragmatismus verachtet haben. Jetzt bekommen wir zu hören, dass unser Dasein nicht viel mehr sein soll als ein ökonomisches Problem, dass wir »zu teuer« sind – ob als Arbeitnehmer mit unseren Löhnen, mit Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld oder als Arbeitslose, die den anderen auf der Tasche liegen.

Ich kenne Menschen, die kommen damit klar. Die sagen: »Kommt Zeit, kommt Rat. Ich schlage mich schon durch. Dann ziehe ich halt um.« Eine beneidenswerte Lebenseinstellung, zeitgemäß dazu. Jedenfalls aus Sicht der Arbeitgeber.

Ich kriege das nicht hin. Wohl, weil ich traditionelle Ideale habe – und nicht weiß, was schlecht sein soll an dem Wunsch nach einer stabilen Familie, an langjährigen Freundschaften vor Ort, an gewachsenen sozialen Netzen.

Schlecht erscheint mir allenfalls, dass diese Ideale für immer mehr meiner Freunde nicht mehr realisierbar, nicht mehr bezahlbar sind, was mich wiederum verunsichert: Wenn ich meiner Tochter aus ihren Kinderbüchern vorlese, frage ich mich, ob es Sinn macht, ihr Geschichten zu erzählen, in denen eine Familie 20 Jahre lang in einer Stadt, in einem Haus lebt. Kann ich ihr meine Werte noch als lebenswert verkaufen, wenn ich längst weiß, dass sie damit in ihrem Leben nicht mehr »kompatibel« sein wird mit »ökonomischen Zwängen«?

»Wer weiß, was in einem Jahr ist«, sagen mir jetzt schon die Prediger von Flexibilität und Mobilität. Ein Satz wie ein Tätscheln. Ich hasse diesen Satz. Ich will wissen, was in einem Jahr ist. Ich will wissen, dass ich dann noch an Ort und Stelle bin. Ich will meiner Tochter, wenn wir in einigen Jahren Kinderfotos anschauen, nicht nach jedem Umblättern erklären müssen: »Das war in Berlin … das war in Düsseldorf … da wohnten wir in München.«

Ich kann Entlassungen und erzwungenen Ortswechseln nicht das schönfärberische Etikett »Lebenserfahrung« ankleben. Ich will nicht immer unterwegs sein wie Peter, noch ein Freund, Lehrer für Latein und Griechisch, dem beharrlich die Verbeamtung verwehrt wird. Jahrelang ist er mit seiner Familie von Stadt zu Stadt, von Schule zu Schule gezogen. Er hat sich nicht frei gefühlt dabei, sondern wie ein Tagelöhner. Es mag seltsam klingen für einen jungen Mann, aber mein Zukunftswunsch war dieser: Ich wollte irgendwann ankommen, Verantwortung übernehmen, in Würde altern wie diese Männer in den Werbespots der Lebensversicherer.

Ist das zu viel verlangt vom Leben? Ein Ausweis deutscher Vollkasko-Mentalität? »Vom Staat ist nicht mehr viel zu erwarten, ihr werdet für euch selber sorgen müssen, beweglich sein, mobil«, sagen mir einige Alte und fordern dann höhere Rentenbeiträge für ihren Vollkasko-Lebensabend (freilich haben sie mir und vielen anderen einen Vollkasko-Start ins Leben ermöglicht.)

In diesem Dilemma schaue ich mit einem Anflug von Neid auf die vielleicht letzten Glücklichen, Sesshaften in unserer Gesellschaft: meine Eltern und ihre Freunde. Sie sind alle um die 60, haben die Rente sicher, die Kinder durchgebracht, das Haus abbezahlt. Natürlich ist ihnen das nicht alles zugefallen, hatten sie es nicht leicht in ihren ersten Jahren, doch gerieten sie stetig in ruhigeres Fahrwasser. Uns, habe ich den Eindruck, steht der umgekehrte Kurs bevor. Wie sich plötzlich alles dreht: Ich möchte ihnen Sätze sagen, die jahrzehntelang wir Kinder zu hören bekommen haben. »Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es euch geht.« Absurd klingt das: Ich bin neidisch auf gelebte Leben. Diesen Neid, den gibt es wohl nur, wenn die Zukunft mehr Risiken als Chancen birgt. Die Vergangenheit hat man sicher.

Revolution? Nur in unserem Innersten

»Damit gehst du besser zum Therapeuten«, sagte neulich ein Kollege belustigt. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass in dieser Krise noch mehr abhanden kommen könnte als Selbstbewusstsein und Besitzstand. Dass es auch nicht nur um mich geht. Sondern um das Miteinander der Generationen und das Gesicht einer Gesellschaft. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, bei der Sanierung des über hundert Jahre alten Stadtbades in unserem Viertel zu helfen; ich wollte Verantwortung in unserer Eigentümergemeinschaft übernehmen; mich im Kindergarten meiner Tochter engagieren. Ich zögere jetzt. Man überlegt sich so etwas noch gründlicher, wenn man sich nicht mehr sicher sein kann, wo, was und wer man im nächsten Jahr ist. So kommt es, dass eine Tatsache (die arbeitslosen Freunde) zu einem vielleicht übertriebenen Gefühl führt (die Sorge um den Job), das wiederum eine Tatsache schafft: den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben, wenn man darunter mehr als nur Partys versteht.

Dabei sah es so aus, als wollten einige von uns gerade einen Weg einschlagen, der uns doch noch mit den Biografien unserer Eltern, Lehrer und Professoren versöhnt hätte: zwar nicht erst engagiert und dann etabliert, aber immerhin erst etabliert und dann engagiert.

Doch was tun? Man sitzt und redet. »Vielleicht zehn Prozent runter mit allem, mit Löhnen, Renten, Subventionen«, sagt ein Freund. »Quatsch, das gibt doch nur noch mehr Pleiten und Arbeitslose«, sagt ein anderer. »Halbe Rente für Kinderlose«, sage ich dann immer, »zumindest für diese Double-income-no-kids-Schnösel, die später üppig vom Staat versorgt werden. Die haben ja eigentlich genug Geld, um privat vorzusorgen.« Wenn ich dann aber lese, dass durch die höheren Rentenbeiträge im nächsten Jahr die Lohnnebenkosten so sehr steigen, dass nur deshalb noch mal 60000 Menschen ihre Arbeit verlieren werden (darunter bestimmt auch viele Double-income-no-kids-Schnösel), dann weiß ich nicht mehr, ob die Konfliktlinie zwischen Familien und Kinderlosen verläuft oder doch eher zwischen Jung und Alt. Am Ende haben sich zahllose Gräben aufgetan, mal stehe ich auf der einen Seite, mal auf der anderen, nur eine Lösung finde ich nicht, findet niemand von uns. Vielleicht verzetteln wir uns in Details. Menschen, die bisher mit dem System konform gingen, fällt es schwer, plötzlich aufzubegehren.

Die einzige Revolution, der einzige Umsturz, findet deshalb in unserem Innersten statt: Wir leben jetzt präventiv. Denken jeden Schritt voraus, sind in Gedanken immer in der Zukunft, ob wir gerade auf Konsum verzichten, uns gegen Kinder entscheiden oder mit ganz anderer Absicht als früher den Bettlern ein paar Münzen in den Plastikbecher werfen. Bei mir ist es tatsächlich so: Bislang gab ich ihnen Geld, weil ich wusste, dass sie es gebrauchen können, wofür auch immer. Jetzt gebe ich ihnen noch etwas mehr – weil ich hoffe, dass mich das gegen jedwede Form des Absturzes versichert. Ein Ablasshandel auf die Zukunft.

Ein Freund von mir hat zwar Arbeit, aber er weiß nie, wie lange noch. Er weiß nur, dass er sparen muss, vorsichtshalber. Er sagt immer, das mache ihm nichts aus. Aber in diesem Sommer wollten wir beide mit unseren Kindern für ein Wochenende zelten fahren. Raus aus der Stadt, nur ein paar Kilometer. Die Meteorologen waren sich nicht sicher, wie das Wetter werden würde, erst heiter, am Abend eventuell Gewitter. Der Freund rief an, er wirkte wie so oft gehetzt und gestresst und sagte: »Acht Euro für den Zeltplatz, und dann regnet es vielleicht, und wir fahren noch am selben Tag nach Hause? Das Risiko ist mir zu groß.«

Ich fuhr, die Sonne schien. Es war ein wunderbares Wochenende, aber mein Kumpel war nicht dabei. Wegen acht Euro. So ist das mittlerweile: Wir dachten, uns gehört die Zukunft. Jetzt sparen sich die Ersten von uns aus Angst davor die Gegenwart.




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