Intr.Text für die Papstwahlinteressierten

Geschrieben von Templar am 16. Juli 2001 09:34:56:

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Der Revolutionär von der Kanzel
Von Johannes von Dohnanyi

Pünktlich zum G-8-Gipfel in Genua macht sich Kardinal Dionigi Tettamanzi zu
einer Leitfigur der Gegner der Globalisierung. Und schielt dabei auf die
Papstnachfolge

Es ist unbekannt, ob der italienische Kardinal Dionigi Tettamanzi, wie die Mehrheit seiner
Landsleute, ausser der Heiligen Schrift auch den Sternen glaubt. Falls ja, dann müsste ihn
das Horoskop eines der mit der Papstnachfolge beschäftigten römischen Astrologen
nachdenklich stimmen. Rechtzeitig vor der Wahl des 216. Nachfolgers auf dem Stuhl des
heiligen Petrus, schrieb der Sterngucker, werde der Kardinal durch die Konstellation von
Jupiter und Uranus «visionäre Konzepte entwickeln, die sein bisheriges Denken
revolutionieren».

Zurückhaltend, fast vorsichtig kommen die ersten Sätze. Von christlicher Solidarität spricht
Kardinal Dionigi Tettamanzi zu den mehr als 2000 Katholiken, die sich an diesem heissen
Genueser Samstagmorgen im Theater Carlo Felice drängen. Von der dringenden
Notwendigkeit, Antworten auf die sich verbreiternde Kluft zwischen dem reichen Norden und
dem armen Süden der Welt zu finden.

Doch dann schaut der Würdenträger auf die zumeist jungen Gesichter im Saal. Sein Tonfall
wird plötzlich schärfer: «Wir verlangen Gerechtigkeit.» Beim Satz, dass «ein einziges
aidskrankes Kind in Afrika mehr wert ist als das ganze Universum», kippt Tettamanzis
Stimme vor Empörung. Jeder Applaus treibt ihn an.

Dem Himmel sei Dank für das Engagement der jungen Generationen in einer Zeit, in der die
Gesellschaft ihre ethischen und moralischen Werte verloren und durch das Postulat des
Profits um jeden Preis ersetzt habe. Es sei «nur recht und billig, die Mächtigen der Welt unter
Druck zu setzen». Jede Silbe wie ein Keulenschlag. Beim entscheidenden Satz, mit dem er
endgültig Position bezieht, klammert sich der Kardinal so fest an das Pult, dass die Knöchel
schneeweiss durch das Halbdunkel leuchten: «Die Kirche steht an der Seite derer, die
gegen die Perversität dieser Globalisierung kämpfen.»

Übernächstes Wochenende treffen sich in Genua die Staats- und Regierungschefs der acht
grössten Industrienationen. 200 000 Demonstranten, die die Vertreter dieses
«G-8-Imperiums» für allen Hunger und jedes Elend, für Ausbeutung, Kriege, Krankheiten,
Umweltschäden und erdrückende Schuldenlasten in der Dritten Welt verantwortlich machen,
sind bereit zum Gipfelsturm.

Der Papst als Stichwortgeber

Gewiss will Kardinal Tettamanzi mit seinen Worten keinen Freibrief für die gewaltbereiten
Protestler unter ihnen ausstellen. Aber sein Antiglobalisierungsmanifest, sagt der
Heraus-geber der katholischen Mailänder Wochenschrift Tempi, «könnte auch von Italiens
Jungkommunisten oder den Globalisierungsgegnern der ÐWeissen Overallsð stammen».
Von oberflächlicher Kapitalismuskritik spricht Luigi Amicone. Und von einem gefährlichen
Rückfall in gescheiterte Wirtschafts- und Sozialmodelle. Der Kardinal von Genua habe sich
zum Schutzpatron des «Volks von Seattle» erklärt. «Wenn die sich durchsetzen, wird es
den Armen in der Welt noch schlechter gehen.»

Eigenmächtig geschah das nicht. Seit Jahren schon unterscheidet sich auch Papst Johannes
Paul II. in kaum mehr als der Wortwahl von den Forderungen der Globalisierungsgegner.
Dionigi Tettamanzi tut den nächsten logischen Schritt. «Die Globalisierung, eine
Herausforderung», lautet der Titel seines bereits in zweiter Auflage erschienenen Buches.
Auch damit erhält das «Volk von Seattle» den unmissverständlichen Segen des Kardinals
und wird politisch aufgewertet.

Am Abend nach seinem Auftritt im Theater ist der von Tettamanzi gewollte katholische
Antiglobalisierungs-Fackelzug durch die Innenstadt 5000 Menschen lang. Wie der
konservative Kirchenmann Tettamanzi den weltweit wachsenden Protest gegen den
wirtschaftlichen Neoliberalismus für die eigene und die Agenda der Kirche vereinnahmt,
könnte ein Lehrstück für die künftige Machtpolitik des Vatikans werden.

«Ich weiss, was Armut heisst», erinnert der 67-jährige Lombarde an die eigenen
Entbehrungen als Kind eines armen Schreiners. Vielleicht ist es diese Zeit seines Lebens,
derentwegen ihm die pastorale Nähe zu seiner Gemeinde immer wichtig ist.

«Ich will Predigten, die die Leute verstehen können», lautete 1989 die erste Anweisung des
frisch ernannten Erzbischofs von Ancona. Bis heute erinnern sich die Gläubigen in der
adriatischen Küstenstadt an diesen Hirten, dessen Tür zu allen Stunden offen stand. Die
gleichen Regeln gelten auch im erzbischöflichen Palast in Genua, den Dionigi Tettamanzi vor
sechs Jahren bezog. Von «aussergewöhnlicher Sensibilität» sprechen seine Mitarbeiter.
Und davon, dass er lange vor den meisten anderen die Gefahr der Globalisierung begriffen
habe. Obwohl Tettamanzi behauptet, nur die ethisch-moralischen Aspekte der
Globalisierung und wenig von ihren ökonomischen Auswirkungen zu verstehen, scheut er
nicht vor praktischen Vorschlägen im Kampf gegen die «entmenschlichte Ideologie des
Profits» zurück. Der Markt sei verwundbar: «Die Entscheidung der Konsumenten für oder
gegen ein Produkt ist ein Machtmittel. Zwingen wir die multinationalen Konzerne zu
verantwortungsbewusstem Wirtschaften, indem wir diese Macht nutzen.» Nicht der Mensch
habe der Wirtschaft, sondern diese dem Menschen zu dienen. Für eines seiner aus dem
Englischen entliehenen Lieblingswörter gibt es keine Über-setzung: «glocal» – global
denken und lokal handeln. Das Bestreben, kompliziertes, abstraktes Denken verständlich
darzustellen, ist für Dionigi Tettamanzi seit seinen Studien an der päpstlichen Universität
Gregoriana zur zweiten Natur geworden. Moral und Ethik beschäftigten den Geistlichen seit
langem. Längst gelten die Positionen des habilitierten Professors im Bereich der Bioethik als
Eckpfeiler der modernen katholischen Doktrin. Ein Grossteil der wissenschaftlichen
Argumente, mit denen der Papst oder der Leiter der vatikanischen Glaubenskongregation,
Kardinal Joseph Ratzinger, ihre konservativen moraltheologischen Lehrsätze untermauern,
stammt aus der Feder von Dionigi Tettamanzi.

Der Seminarist Tettamanzi blieb seinen Studienkollegen als Streber in Erinnerung. Seine
Liebe zu Büchern und komplizierten wissenschaftlichen Theorien trug ihm in Kurienkreisen
den Ruf des uncharismatischen Intellektuellen ein. In einer anderen als der derzeitigen
Konstellation an der Spitze des Kirchenstaats wäre dies wohl das Ende seiner Karriere
gewesen. Doch die geistige Nähe zum konservativen polnischen Papst und zu dessen
engsten Beratern machen den Einstieg in die politische Arena der katholischen Kirche fast
zwingend.

Ein treuer Diener – mit Ambitionen

Anfang der neunziger Jahre wird Tettamanzi unter Kardinal Camillo Ruini zum Sekretär der
italienischen Bischofskonferenz ernannt. Hier beweist er zum ersten Mal sein doppeltes
Talent: Fähigkeit zum Dialog, als er der kommunistischen Zeitung L’Unità erlaubt, das Neue
Testament als kostenlose Beilage zu verteilen. Und unnachgiebige Härte gegenüber
Abweichlern von der offiziellen Doktrin. Dem politisierenden Priester Gianni Badget Bozzo
verbietet er jeden öffentlichen Auftritt. Dem Laienorden Opus Dei, der das Ohr des Papstes
hat, steht er nahe. Dass er 1999 zum Kardinal ernannt wird, ist der sichtbare Beweis dafür,
wie gut Tettamanzi sein Beziehungsnetz über die Jahre hinweg geknüpft hat.

Niemand aus seiner Umgebung und schon gar nicht er selbst würde es je zugeben. Aber
Dionigi Tettamanzi ist nicht nur ein treuer Diener seines päpstlichen Herrn. Für den Kardinal ist
die Zeit gekommen, an die Ernte zu denken, an die Erfüllung seines Traums. Die Reisepläne
bis ins Jahr 2004, die der Vatikan für den derzeitigen Statthalter Petri schmiedet, sind
Augenwischerei. Der polnische Papst ist schwer krank. Die Tage von Johannes Paul II. sind
gezählt.

Für diesen Moment in nicht allzu ferner Zukunft glaubt Karol Wojtyla sein Haus bestellt zu
haben. Bis auf 10 hat er alle 145 Kardinäle, die seinen Nachfolger bestimmen, selbst
ernannt. Tettamanzi gehört zu dem kleinen, exklusiven Kreis der «Papabili», den wenigen
Kardinälen, die das «Zeug zum Papst» haben.

Doch jeder Aspirant weiss: Über den Einzug in die päpstlichen Gemächer im Vatikan
entscheiden heute die Stimmen der Kardinäle aus der Dritten Welt. Es geht also darum, sich
für das Endspiel in der Sixtinischen Kapelle zu positionieren und hinter den Kulissen die
Allianzen für das Konklave zu schmieden.

Dass sich Tettamanzi Verbündete ausgerechnet unter den Globalisierungsgegnern sucht,
schadet allerdings seinem Ansehen in konservativen katholischen Kreisen Italiens. Opus Dei
und dessen geheimnisumwittertes internationales Wirtschaftsimperium gingen bereits auf
Distanz. Die einflussreiche Laienorganisation Comunione e Liberazione ist über die
plötzliche Nähe des Kardinals zum «revolutionären und marxistischen Gedankengut» des
«Seattle-Volks» entsetzt. Um seine Kritiker zum Schweigen zu bringen, müsste es der
Kardinal schaffen, den Protest der Globalisierungsgegner in Genua politisch eindrucksvoll zu
gestalten, ohne mit den unvermeidlichen Gewaltakten in Verbindung gebracht zu werden.
Es ist ein Spiel mit höchstem Risiko, untypisch für einen Würdenträger. Denn nach dem
vorletzten Wochenende im Juli wird Dionigi Tettamanzi wissen, ob er sich weiterhin zu den
Papabili zählen darf oder nicht.


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