Fehler in den Gesellschaftsformen
Geschrieben von wikking am 12. November 2002 15:30:20:
Als Antwort auf: Schnee von gestern geschrieben von franke43 am 12. November 2002 13:53:30:
Servus Franke43,
ich schätze Dich und Deine Meinungen sehr - wie Du weißt - aber hier haben wir wirklich einige unterschiedliche Standpunkte.
Für alle, die's lesen: es hat wirklich mit dem Haupt-Thema "Prophezeiungen" zu tun, denn wenn wir die Voraussagen richtig verstehen und anwenden wollen, müssen wir auch beständige Selbst-Kritik auf uns nehmen und beständig unsere Standpunkte erweitern bzw. andere Standpunkte überdenken.Du schreibst,
"...Ich erwarte von einer guten offenen Gesellschaft, dass sie
möglichst wenig kategorisch fordert (Rollenerwartungen)
oder verbietet (Repression), sondern möglichst vieles passiv
zulässt ..."
Dies ist ja unsere anerzogene Toleranz gegenüber jedem anderen.
Grundsätzlich richtig, wenn von "Toleranten" angewendet.
Oft genug ist's nicht so. Ein Beispiel: Seit sich das deutsche Fernsehen "toleranter" zeigt, wimmelt es in Talkshows und seichtem Unterhaltungs-Quatsch von allerlei "Andersdenkenden", die in den meisten Fällen mit dem Moderator Gespräche am untersten Level des Erträglichen führen. Da wird über den Sinn von Piercings an weiblichen Schamlippen diskutiert und ein vollbrüstiger macho-man brüstet sich damit, wie "geil" (sorry, es war o-Ton !) es sei, wenn man das beim Sex spüren würde. Ich geriet vor ein paar Wochen des Abends mal in so eine "Talkshow" und wunderte mich nur noch über die Auswüchse der großen Freiheit. Dies wirklich nur als Beispiel. Je mehr (unbewußte) Toleranz, desto mehr Auswüchse, weil die Toleranz durch aufgeblähte Ego-Trips mißbraucht wird. Ich führe das gleich noch aus ...
Anderes Beispiel, zum Allemansrett: vor vielen Jahren führte ich eine Reisegruppe durch Stockholm (ich war ja lange Jahre Reiseleiter...). Ein lokaler Betreuer zeigte uns dann einen goldbetäfelten Saal (war's im Rathaus oder beim Königspalast .. ich weiß nicht mehr....), in dessen uneinsehbarer Ecke einige liebe, nette Touristen ein paar Gold-Täfelchen herausgebrochen hatten. Kostenloses Souvenir offenbar. Der lokale Guide meinte: "Das haben wir Schweden von unserer großen Toleranz, wir werden bestohlen..., weil wir jedem Gast erst mal vertrauen..."
Das große Problem in allen Gesellschaften ist ja l e i d e r , daß Vertrauen und Toleranz, sowie der Ruf nach Freiheit, praktisch immer mißbraucht werden, von genau denen, die nicht "reif" für diese Freiheit sind.
Es steht außer Frage, daß niemand beurteilen und trennen kann, wer reif ist und wer nicht, denn wir sind alle fehlerhafte Menschen, sozusagen noch "unreif" - und müssen uns jede Art von (innerer und äußerer) Freiheit erst erkämpfen. Wie sagte sinnegmäß mal Richard v. Weizsäcker: Freiheit sei ein hohes Gut, das beständig von Neuem erkämpft werden müsse...
So ist Deine Forderung nach der toleranten und freiheitlichen Gesellschaft zwar absolut richtig, doch in der Praxis führt sie zum Mißbrauch und zur Dekadenz, weil unzählige Leute noch niemals für ihre eigene (innere) Freiheit "gekämpft" haben, sondern sich ins gemachte freiheitliche Nest setzen, für das andere schwer kämpfen mußten. Siehe hierzu auch den Mißbrauch des Sozialstaates in Schweden.
Ich weiß auch keine Lösung aus diesen Dilema, außer einer Erhebung des gesamten menschlichen Bewußtseins (worauf die Entwicklung unserer Welt ja zusteuern mag...). Doch im äußeren wird es wohl noch eine Zeitlang zwischen diesen beiden Extremen und Folgeerscheinungen hin-und-herpendeln:
a) Diktatur, Unfreiheit, Toleranzlosigkeit
darauf: Revolution, weil die Menschen sich nach Freiheit sehnen...
b) liberale Gesellschaft, viel Toleranz, persönliche Freiheit
darauf: Mißbrauch der Toleranz, Dekadenz, subtile Unterwanderung der persönlichen Freiheit.Du schreibst:
".......Unsere westliche Gesellschaft macht Fehler, wenn sie aus
dem passiven Erlauben der freien Lebensgestaltung eine
aktive Forderung nach freier Lebensgestaltung macht
("Du SOLLST Dich emanzipieren, Karriere machen, etc."),
statt bei der passiven Akzeptanz (bei uns darf jede(r))
zu bleiben und die Rahmenbedingungen dementsprechend
zu schaffen....."Der Fehler ist sicher nicht die Forderung nach Aktivität (denn Passivität ist die Wurzel jeder Trägheit und des Untergangs, des Gelebt-Werdens, anstatt des bewußten Lebens....), sondern die Forderungen nach "fesselnden", vergänglichen und unsinnigen Aktivitäten, Karriere, äußere Dinge, Geld, Ansehen ... und all diese geltenden Werte der westlichen Gesellschaft.
Was wäre, wenn eine Gesellschaft einmal von ihren Bürgern folgende aktive Werte einfordern würde: Selbständigkeit (statt Duckmäuserei), innere Entwicklung (aus sich selbst heraus, statt auf Psychologen-Couchs und von den salbungsvollen Reden der Herren Politiker etc.), Lebens-Sinnfindung im Sinne einer wirklichen Berufung (statt ein Hineinpressen von Kindesbeinen an in das System einer Raubbau- und Ellenbogen-Gesellschaft), das Suchen nach aufrichtigen geistigen, ewigen Werten (statt in einer Wegwerf-Gesellschaft dazu gezwungen zu werden, alle paar Monate einen neuen Computer zu kaufen) etc.etc.
Die Liste wäre endlos.
Klar, Franke43, noch ist's Science Fiction.
Aber es ist erreichbar !
Wir einzelne Menschen können damit beginnen, wo immer wir auch in unserem persönlichen Leben stehen.Du schreibst:
"....Die islamischen Gesellschaften machen hingegen den nach
meiner Ansicht viel schlimmeren Fehler, sehr vieles,
was wir für selbstverständlich halten (Waldspaziergang)
gar nicht erst allen zu erlauben.
Einer Forderung (Du sollst eine Männerkarriere machen !)
kann Mann/Frau sich verweigern.
Einer Repression (Frau darf nicht allein in den Wald)
kann man nicht ausweichen, ausser man beugt sich und
verzichtet auf seine Freiheit...."Nach üblichem westlichen Weltverständnis ist das absolut richtig, was Du schreibst.
Wie sieht jedoch die Praxis aus ?
Kann bei uns eine Frau sich wirklich der Rolle verweigern, in die sie gezwungen wird, ebenso ein Mann? Franke43, ich kann von mir sagen, ich habe ein recht gesundes Selbstbewußtsein und ich habe mich durch die unmöglichsten Situationen in meinem Leben bereits durchgebissen. Aber dadurch, daß ich wirklich "anders" war, als die meisten "anderen" in Deutschland, und stets meinen eigenen Weg beschritten habe, hatte ich derart immense Kämpfe zu führen, daß ich weiß, wovon ich rede. Viele führen diese Kämpfe nicht, sie wählen lieber die ihnen zugedachte Rolle und schwimmen mit dem Strom.
Doch wie sagt eine buddhistische Weisheit: "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom, - wer zur Quelle will, muß gegen den Strom schwimmen...."
Gegenbeispiel: Ich kam mal im Norden von Thailand mit einer buddhist. oder hinduistischen Frau ins Gespräch (weiß nicht mehr die Religion...), die gut Englisch sprach. Wir kamen auch auf die "Rolle der Frau" in ihrem kleinen Dorf zu sprechen und sie meinte, daß ihr einziger Lebens-Sinn darin bestehe, sich bedingungslos ihrem Mann zu unterwerfen. Ja: unterwerfen. Ich war natürlich schockiert, habe das damals absolut nicht verstanden. Das Gespräch habe ich aber nie vergessen. Diese Frau hatte eine derartige Hingabe, einen Glauben, eine vollendete Weiblichkeit ... unglaublich. Als wenn sie von innen heraus leuchten würde. Gut, nach westlichem Verständnis von Freiheit eine nahezu undenkbare Haltung. Doch diese Frau war zutiefst glücklich, zufrieden und erfüllt. Sie sah in ihrem Mann so etwas wie ihre persönliche männliche Gottheit - und wußte, daß ihr Mann sie im Gegenzug sozusagen als "Göttin" verehrt. (Siehe hierzu das kathol. Sakrament der Ehe in der ursprünglichen Form: Das Erkennen der Gottheit im Gegen-Geschlecht...)Sag mir: wie viele Männer und Frauen, die _wirklich_ glücklich und erfüllt sind, gibt es in der liberalen, freiheitlichen Gesellschaft der westlichen Länder?
Es soll keine Antwort auf eventuelle Unterdrückungs-Meschanismen in islamischen Gesellschaften sein, nur eine Aufforderung zum Hinterfragen der eigenen Ansichten.
Wir müssen ja immer vor der eigenen Haustüre zuerst kehren..., unsere eigenen gesellschaftlichen Unterdrückungs-Mechanismen erkennen und beseitigen.Du schreibst
"....Insofern halte ich die Fehler der westlichen Gesellschaft
hier für vertretbarer...."Mag ja sein. Aber wir leben im Westen, auch Skandinavien ist "Westen".
Daher müssen wir h i e r anfangen, an unseren eigenen Fehlern zu arbeiten.Ich habe einen Grundsatz: Ich gebe nur jemandem einen klaren Ratschlag, wenn ich genau dieses "Problem" bereits selbst durchlebt und bewältigt habe. (Denn alles andere ist missionieren und oftmals nur Blah-Blah zur Genugtuung des eigenen Egos).
Ich habe in meiner Vergangenheit massivste Probleme mit Abhängigkeiten gehabt. ich schrieb Dir ja in einer privaten Mail darüber. Daher kann ich zu dieser Thematik einiges sagen.
Die Abhängigkeiten, die wir in der westlichen Gesellschaft von unseren Rollen und dem dahinterstehenen Druck haben, sind immens !!
Laß uns alle erst mal beginnen, dran zu arbeiten.
Wenn wir uns dann als erfüllte und aufrichtig glückliche Gesellschaft empfinden können, dann ist die Zeit reif, unsere Erfahrungen an andere Kulturen zu überbringen. Alles andere wäre so etwas wie ein moderner Kreuz-Zug. Die Geschichte lehrt, wie das ausging...Die Ausführungen zu diesem Thema sind kein "Schnee von gestern".
Sie sind leider hoch-aktuell, wie der dauernde - immer kriegerischer werdende - Zustand unserer Welt zeigt.
Wir Teilnehmer in diesem Forum wollen schließlich gemeinsam nach Möglichkeiten Ausschau halten, wie wir aktiv die Zukunft gestalten können...
Oder sehe ich das falsch ???Lieben Gruß
wikking