Nachtrag: "Pocken" in Pakistan
Geschrieben von Swissman am 08. November 2002 22:30:43:
Johannes hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass ich es bislang versäumt habe, meine abschliessenden Erkenntnisse bezüglich der bereits vor längerer Zeit berichteten "Pockenepidemie" in Pakistan zu veröffentlichen *schäm", was ich hiermit nun nachholen werde.
Anstatt das Rad neu zu erfinden, erlaube ich mir einen Griff in mein Nachrichtenarchiv - Es folgt nun ein Artikel zum selben Thema, der am 15. August 2002 im "Sarganserländer" erschienen ist, und die Ereignisse zusammenfasst:
"Dark summer" fällt aus
Angebliche Pockenepidemie entpuppt sich als Windpocken
Mitte Juni meldete Pakistans grösste englischsprachige Tageszeitung, der "Dawn", den Ausbruch einer Pockenepidemie im nordpakistanischen Swabi-Distrikt. Der "Dawn" berief sich dabei auf einen Vertreter des pakistanischen Gesundheitsministeriums.
Von Michael Frei
Die Weltgesundheitsorganisation WHO entsandte schliesslich ein eigenes Ärzteteam nach Swabi, um der Sache auf den Grund zu gehen. Diesem gelang nach kurzer Zeit der Nachweis, dass es sich bei der vorliegenden Epidemie nicht um die Pocken, sondern um die Windpocken handelte. Aufgrund der ähnlichen Symptome kommt es gelegentlich vor, dass die Windpocken und andere Krankheiten aus der Gruppe der Orthopocken (insbesondere die Affen-, sowie die Kamelpocken springen gelegentlich auf Menschen über) mit den Pocken verwechselt werden. Bereits im März dieses Jahres meldeten indische Zeitungen fälschlich eine Pockenepidemie in der Provinz Bihar, die sich schliesslich ebenfalls als fehldiagnostizierte Windpocken herausstellte.
Die Pocken damals...
Im Gegensatz zu den vergleichsweise harmlosen Windpocken waren die 1980 von der WHO offiziell für ausgerottet erklärten Pocken eine hochansteckende, akut lebensbedrohliche Seuche: Deren Erreger, das Variola-Virus, führte, je nach Virus-Stamm, bei 30 – 50% der Erkrankten binnen Tagen zum Tode. Die Überlebenden blieben in vielen Fällen für den Rest ihres Lebens von den charakteristischen Pockennarben verunstaltet, teilweise verloren sie durch die Krankheit zudem ihr Augenlicht. Aus der Zeit, als die Pocken noch weltweit auftraten, weiss man, dass ein Erstinfizierter im Durchschnitt 10 – 20 gesunde Personen ansteckt. Da die Inkubationszeit, während der der Infizierte selbst noch frei von Symptomen ist, bis zu 14 Tagen beträgt, und die Ansteckung über die Luft erfolgt, ist im Prinzip jeder gefährdet, der in die Nähe eines Trägers des Variola-Virus gelangt.
...und heute?
Nun ist es freilich in höchstem Masse fraglich, ob die zitierten Erfahrungswerte so noch Gültigkeit hätten, wenn das Variola-Virus heute, sei es durch einen Unfall, sei es durch einen B-Waffen-Einsatz, in die Umwelt gelangen würde: Das Virus würde heute eine Welt vorfinden, die sich gegenüber 1978, als die Pocken in Somalia letztmals natürlich auftraten (der allerletzte Pockentote infizierte sich 1979 in Birmingham bei einem Laborunfall), grundlegend gewandelt hat – nie zuvor war die Menschheit derart mobil, wie heute. Nachdem die Pocken vor über 20 Jahren ausgerottet wurden hat man weltweit aufgehört, die Menschen dagegen zu impfen, in den Industriestaaten, wurde die Pockenimpfpflicht sogar noch früher abgeschafft (in Deutschland beispielsweise erfolgte die Aufhebung 1975) – wer nach dem Ende der Pflichtimpfung geboren wurde, ist daher in aller Regel nicht mehr geimpft und wäre den Pocken völlig schutzlos ausgeliefert. Mangels Auffrischung des Impfschutzes gilt es unter Fachleuten aber auch als gesichert, dass selbst die weitaus meisten Geimpften über keine Immunität mehr verfügen.
Es kann denn auch kein Mensch mit letzter Gewissheit sagen, was genau bei einer Rückkehr der Pocken geschehen würde – zumindest dies darf jedoch als gesichert gelten: Durch die hohe Mobilität der westlichen Gesellschaften, sowie die hohe Bevölkerungsdichte in den Städten, wäre die Ausbreitungsgeschwindigkeit vermutlich deutlich erhöht, und infolge fehlender Immunität der Bevölkerung wäre auch die Sterblichkeitsrate der Erkrankten ausserordentlich hoch. Und: Auch heute noch gibt es kein Heilmittel gegen die Krankheit – die Ärzte könnten nichts anderes tun, als versuchen, die Symptome zu lindern. Kommt noch erschwerend hinzu, dass die wenigsten heute praktizierenden Ärzte jemals einen echten Pockenkranken gesehen haben: Fehldiagnosen wären vorprogrammiert – dadurch aber ginge wertvolle Zeit verloren.
"Dark Winter"
Vor gut einem Jahr fand in den USA unter dem Titel "Dark Winter" eine hochinteressante Übung des Katastrophenschutzes statt, die sich mit einem hypothetischen Terrorangriff mittels Pocken, und die daraus erwachsenden Folgen befasste. Als die Übung nach 13 Tagen abgebrochen wurde, hatten sich die Pocken, im Rahmen der Simulation, bereits über 25 US-Bundesstaaten und 15 Länder ausserhalb der USA verbreitet...
Die Übung zeigte auf, dass selbst die heutige Hochleistungsmedizin bei einer Freisetzung von Pockenviren erst einmal völlig machtlos wäre: Innert Tagen hätte sich die Krankheit über weite Teile der Erde verbreitet, nach 13 Tagen stand die Erde faktisch einer weltweiten Pandemie gegenüber. Hunderte Millionen Tote wären die unausweichliche Folge gewesen. Die Menschheit hätte voraussichtlich Jahre gebraucht, um den Erreger erneut auszurotten.
Das "Dark Winter" zugrundeliegende Szenario ist keineswegs einem Horrorfilm entlehnt, denn das Variola-Virus ist nur in der freien Wildbahn ausgerottet, nicht aber im Labor: Offiziell verfügen weltweit noch zwei Laboratorien über Pockenstämme – Es sind dies das Center for Desease Control (CDC) in Atlanta und das Institut für Virologische Forschungen in Moskau. Inoffiziell wird jedoch befürchtet, dass gewisse andere Staaten nach wie vor über nicht deklarierte Variola-Vorräte verfügen. Verdächtig ist insbesondere das Verhalten Nordkoreas: Flüchtlinge aus dem kommunistischen Staat, die Armeedienst geleistet hatten, wurden nachweislich gegen die Pocken geimpft – B-Waffenexperten vermuten daher, dass Nordkorea in Erwägung zieht, die Pocken als biologische Waffe einzusetzen...
Einige Fragen zum Umgang mit der Seuche...
Glücklicherweise hat sich der Bericht des "Dawn" als Fehlalarm herausgestellt. Dennoch wirft die Epidemie, bzw. das Verhalten der zuständigen Stellen, einige ernsthafte Fragen auf: Angesichts der tödlichen Gefahr, die von einer potentiellen Wiederkehr der Pocken ausgeht, mutet das Verhalten des CDC und der WHO allerdings reichlich fragwürdig an: Das CDC ist wohl die westliche Einrichtung, die über die meisten Erfahrungen im Umgang mit den Pocken verfügt. Angesichts der grossen Erfahrungen des CDC im Umgang mit Variola könnte man vermuten, dass das CDC und die WHO Hand in Hand zusammenarbeiten würden, um einen Pockenverdacht abzuklären und allenfalls schnellstmöglich geeignete Gegenmassnahmen zu ergreifen. In seiner Antwort an den Verfasser dieser Zeilen machte das CDC jedoch geltend, nicht über die Kompetenz zu verfügen, in diesem Fall tätig zu werden. "In internationalen Notfällen", so der Sprecher des CDC "die einen Staat betreffen, wird das CDC für gewöhnlich nicht tätig, es sei denn, der Gesundheitsminister des betroffenen Landes bitte uns um Unterstützung. Bislang wurde das CDC vom pakistanischen Gesundheitsminister nicht kontaktiert." Angesichts der realen Gefahr, die von den Pocken auch heute noch ausgeht, fragt man sich in der Tat, ob die zuständigen Stellen es sich leisten können und dürfen, wertvolle Zeit mit Kompetenzstreitigkeiten zu verlieren.
- Re: News: dafür kommt die Beulenpest! franz_liszt 09.11.2002 09:25 (0)