Nicht nur die deutsche Geschichte ...

Geschrieben von franke43 am 08. November 2002 12:50:32:

Als Antwort auf: Hilfe! Ich habe ein ernstes mentales Problem mit der deutschen Geschichte! geschrieben von Niels am 08. November 2002 12:25:11:

Hallo

Was ich jetzt schreibe, ist absolut kein Rechtfertigungsversuch
für die Naziverbrechen. Wer mich kennt, weiss, dass ich das
niemals billige.

Trotzdem lohnt es sich mal den Horizont zu erweitern.

Es geht auch nicht darum, dass jetzt die Opferzahlen des einen
Regimes gegen die des anderen "aufgerechnet" werden. Es geht
lediglich darum, dass zumindest die Bildungsschicht in
Deutschland versucht hat, den dunklen Fleck in der eigenen
Geschichte durch "Aufarbeitung" und kollektive Selbstkritik
anzugehen, während viele andere Nationen ihre dunklen Flecke
niemals ähnlich behandelt haben.

>Ich kann einfach nicht fassen, daß sich tatsächlich soviel Böses in Dland >zusammenbrauen konnte. Die Nazi-Verbrechen erscheinen mir immer noch unfaßbar, >obwohl ich 30 Jahre nach der Hitlerzeit geboren bin. Das ist doch alles wie >ein großer schwarzer Fleck in der deutschen Geschichte. Manchmal wünschte ich, >ich könnte diesen Fleck aus dem Gedächtnis der Menschheit ausradieren. Aber es >geht nicht.

Wir würden wohl alle diesen Fleck ausradieren wollen. Aber wie mit
dem Blutfleck auf der Hand von Lady Macbeth geht es nicht.

Wie sieht es mit der Vergangenheitsbewältigung der grossen Verbrechen
anderer Länder aus:

- Die Indianervertreibungen und der Genozid durch Spanier und Briten
in Süd-, Mittel- und Nordamerika

- Die Verbrechen der europäischen Kolonialmächte in Afrika und Asien

- Die inneren Gewalttiraden diverser Diktaturen von Mussolini und
Franco über Pol Pot, Somoza, Kim il Sung und Kim Jong Il usw. usw.

- Und nicht zu vergessen: die riesigen Massenmorde im Namen der
"Arbeiterklasse" unter Stalin in der ehemaligen SU und unter
Mao in China und im Tibet.

Kaum eine Nation, die auch nur halbwegs viele Menschen auf die
Beine stellt, ist in ihrer Geschichte frei von dunklen Flecken.
Aber nur unser Volk schämt sich wirklich für seine Vergangenheit
und lässt sich von den anderen in die Ecke stellen, während die
ihre eigene Schuld totschweigen dürfen.

>Natürlich bin ich nicht schuldig, aber als Deutscher belastet es einen >naturgemäß.

Der Begriff "Schuld" in der deutschen Sprache ist sehr unglücklich,
weil mehrdeutig:

Es gibt eine ökonomische Schuld (Schulden), eine moralische Schuld
(Untaten und Verbrechen) und eine kausale Schuld (Verursacherprinzip).
Dazu noch eine juristische Schuld (Haftung). Wir können die Schuldfrage
nur dann diskutieren, wenn wir klarstellen, welchen dieser Schuldbegriffe
wir anwenden wollen.

Ich halte hier den moralischen Schuldbegriff für den angemessenen.

>Vor allem frage ich mich, warum so viele mitgemacht haben.

Aus demselben Grund, weshalb viele in den USA die Indianer umgelegt
und die farbigen Sklaven ausgenutzt haben:

Vorteilnahme, Landraub, Angst vor den eigenen Oberen (Blockwart)

>Warum >sind Millionen Deutsche einem "Führer" hinterhergerannt, der im >bürgerlichen Leben versagt hat? Warum haben so wenige gesehen, was Hitler >wirklich bedeutet?

Weil der es geschafft hat, seine eigene misslungene Karriere
zu glorifizieren und sein Misslingen in Erfolge umzudeuten.
Hitler war ein sehr guter Redner, trotz des rollenden "R"

Ausserdem haben die Nazis schnell ein Maffiasystem installiert,
in dem jeder riskiert hat, selber im Lager zu landen.

>Mich interessiert vor allem die Frage der Schuld. Was meint ihr, gibt es eine >Kollektivschuld des deutschen Volkes am Holocaust? Oder meint ihr, daß Schuld >stets nur persönlich ist? Wieviele Deutsche wußten eigentlich, was in >Auschwitz usw. vor sich geht?

Genau das: Juristisch gibt es nur eine Täter- oder Mittäterschuld.
Moralisch kann es vielleicht noch eine Mitwisserschuld geben.

Aber auch wenn alle gewusst hätten, was in Auschwitz vor sich
gegangen ist, hätten sie nichts tun können. Allein die Andeutung,
die Umsiedlung der Juden nach Osten diene zu deren Ermordung,
hätte den Systemkritiker schnell selbst an diesen Ort gebracht.

Getreu dem alten Naziwitz:

"Junger Mann, Ihnen fehlt die Konzentrrration.
Wirrr haben ein Lagerrr, wo Sie das lerrrnen können."

>Ich meine, wir Deutschen haben doch eine sehr verkorkste Geschichte. Und was >das Schlimmste ist, es wird für alle Ewigkeit so bleiben.

Viele andere Völker haben auch eine verkorkste Geschichte,
aber sie befassen sich nicht damit.

>Bei uns kann sich doch gar kein gesundes Nationalgefühl mehr entwickeln. Wir >müssen uns doch immer noch schämen, wenn man uns im Ausland "spaßeshalber" >mit "Heil Hitler!" grüßt.

Leider kann man Briten und Franzosen nicht mit einem markigen
Gruss grüsen, der diese Leute an die Verbrechen ihrer Vorväter
in der Kolonialzeit erinnert.

>Ich habe auch den Eindruck, daß in Westdeutschland nach dem Krieg sehr schnell verdrängt wurde. Verdrängung scheint eine deutsche Spezialität zu sein.

Nein, die anderen sind uns da weit über.

>Ach irgendwie fällt mir plötzlich nix mehr ein... Ich wollte halt nur sagen,daß mich die deutsche Geschichte im Moment mental belastet.

Mich hat sie weite Teile meines Lebens belastet, weil ich
ja im Ausland lebe.

>Danke für euer Verständnis.
>Niels

Nix zu danken.

Bei Gelegenheit mal neue Bahndaten oder glaubwürdige Sichtungen.

Gruss

Franke 43


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