@ nerada
Geschrieben von isthar am 20. Juni 2001 21:55:39:
hallo,
in bezug auf unsere kürzliche diskussion habe ich hier grade noch mal einen text gefunden, den ich dir nicht vorenthalten möchte. diesmal eher von der gesellschaftlichen seite aus gesehen.
eve
Der Einfluß gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes
von Erich Fromm (1958c-d)
Das Ziel der Erziehung von Kindern ist nicht nur, ihnen mehr oder weniger intellektuelles Wissen zu vermitteln oder Werte wie Ehre, Mut, etc. beizubringen. Die Funktionen jedes Individuums innerhalb der Gesellschaft gehen weit über das Erwähnte hinaus: Sie müssen es lernen, entsprechend den Normen zu arbeiten und zu konsumieren, die die Produktionsmittel und Konsummuster der Gruppe und Gesellschaft erfordern, in der sie leben.Nehmen wir als Beispiel eine primitive Gesellschaft, einen Stamm, der auf einer kleinen Insel in der Mitte des Ozeans lebt und der sein Überleben nur durch Fischen sichert. Nehmen wir des weiteren an, daß die Fischart in diesen Gewässern die Zusammenarbeit der Fischer erforderlich macht. Es liegt auf der Hand, daß die Bewohner solch einer Insel den Wunsch nach Kooperation entwickeln und zu einer friedlichen Koexistenz genötigt sind. Dasselbe gilt für bestimmte Arten von ausschließlich agrarischen Gesellschaften. Im Gegensatz dazu werden die erforderlichen Charakterzüge eines Jäger- und Kriegerstammes, dessen Leben von der Jagd oder der Eroberung anderer Stämme abhängt, eher Aggressivität, Kampfbereitschaft und Stolz auf persönliche Tapferkeit sein.
Noch einmal anders lagen die Dinge in einer feudalen Gesellschaft: Die Mitglieder der oberen Klasse mußten die Fähigkeit zur Führerschaft und, wir könnten hinzufügen, das Bedürfnis zur Ausbeutung anderer entwickeln; der Einzelne hatte sich ein Gefühl von Stolz anzueignen, das an Arroganz grenzt, und er mußte es lernen, an der Überfülle von Zeit und ihrer Verschwendung Befriedigung zu finden. Zugleich hatten die Mitglieder der unteren Klassen die Qualitäten des Gehorsams und der Geduld zu erlernen, die zum Ertragen des Elends nötig sind.
Die wichtigsten Charakterzüge und zugleich auch die wichtigsten Werte des Bürgertums im 19. Jahrhundert waren das Verlangen zu akkumulieren und sparsam hauszuhalten, das Verlangen andere, insbesondere Arbeiter und Völker anderer Rassen, auszubeuten und ein starkes individualistisches Gefühl, das treffend in dem Satz ausgedrückt ist: "Mein Haus ist meine Burg."
Diese Charakterzüge sind im 20. Jahrhundert rasch verschwunden und werden in einer Gesellschaft, die darauf baut, daß immer mehr konsumiert wird, nicht länger als Werte betrachtet. Das Individuum muß sich dann im gesteigerten Maße befriedigt fühlen, wenn es noch mehr konsumiert, nicht aber wenn es spart. Schließlich ist in einer Gesellschaft, die auf der Kooperation Tausender von Arbeitern und Angestellten in den Unternehmen basiert, Teamarbeit verlangt, nicht aber eigennütziger Individualismus.
Dennoch gibt es bestimmte gemeinsame Züge der Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa die Notwendigkeit, pünktlich, ordentlich und zuverlässig eine Arbeit zu verrichten - Notwendigkeiten, die mit der modernen industriellen Produktion verbunden sind und die in einem vergleichbaren Maße in der feudalen Gesellschaft vor etwa 300 Jahren kaum existierten.
Um gut zu funktionieren, braucht jede Gesellschaft zu ihrem Bestand Menschen, die fast automatisch in der Weise handeln, wie es diese bestimmte Gesellschaft erfordert. Mit anderen Worten: Sie müssen das tun wollen, was sie tun sollen. Wenn jeder von ihnen sich täglich neu zu entscheiden hätte, ob er pünktlich sein will oder nicht, und ob er ordentlich sein will oder nicht usw., dann würde er sich wahrscheinlich ebenso häufig gegen die gesellschaftlichen Erfordernisse entscheiden wie dafür, selbst wenn er dadurch das gute Funktionieren der Gesellschaft gefährdet. Das Individuum muß gleichsam automatisch in Übereinstimmung mit den Normen seiner Gesellschaft handeln. Das bedeutet, daß der gesellschaftliche Verhaltenszug zum Charakterzug werden muß.
In jeder Gesellschaft gibt es eine Reihe von Charakterzügen, die der Mehrheit ihrer Mitglieder gemeinsam ist: den "Gesellschafts-Charakter". Er hat die Funktion, das Überleben der Gesellschaft zu sichern. Vom Standpunkt des Individuums aus hat er die Aufgabe, dem einzelnen eine erfolgreiche Wirksamkeit innerhalb der Gesellschaft zu gewährleisten. Obwohl der Gesellschafts-Charakter durch viele Faktoren bestimmt werden kann, sind werden seine Wurzeln im Kind doch durch die Eltern grundgelegt. Da der elterliche Charakter mit dem "Gesellschafts-Charakter" übereinstimmt, formen sie dementsprechend auch den Charakter ihres Kindes. Auf diese Weise wird die Familie zum psychologischen Agenten der Gesellschaft.
Solange sich keine grundlegenden Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur ergeben, funktioniert dieser Vorgang reibungslos. Treten allerdings Veränderungen ein, wie dies heute überall auf der Welt geschieht, dann treten Widersprüche zwischen dem traditionellen Gesellschafts-Charakter und den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen auf, für die das Individuum zunächst schlecht ausgerüstet ist. Eltern fühlen sich dann oft machtlos, sie verlieren jegliche Autorität und verstehen ihre Kinder nicht. Dabei appellieren sie noch oft an das Einvernehmen der Kinder und zeigen darin einen bestürzenden und zunehmend gefährlichen Mangel an Verantwortung. Diese neue Generation hat nämlich kein Verständnis mehr für den Sinn des Lebens; sie fragt sich nicht mehr, wohin sie gehen oder was sie anstreben soll. In Schule und Kirche werden zwar noch die alten Werte der Demut und Rechtschaffenheit gelehrt, doch sind sie zugleich in eine Gesellschaft eingebunden, die sich am Wunsch nach mehr Geld und Konsum ausrichtet - was meist ein noch größeres Maß an Verschwendung bedeutet. Diese Generation erlebt ihre Erziehung, die die neuen Entwicklungen verpaßt hat, als überholt. Ihre Eltern fühlen sich machtlos, da sie ebenfalls desorientiert sind.
Bislang habe ich nur den einen Aspekt der Situation beschrieben: wie es zu einer Gesellschaft kommt, die angepaßte menschliche Wesen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse braucht. Doch die Menschen sind keine unbeschriebenen Blätter, auf die die Gesellschaft nur ihren Text zu schreiben bräuchte. Sie haben vielmehr ihre eigenen Grundbedürfnisse, die sie mit allen Individuen der menschlichen Rasse teilen. Sie haben das Bedürfnis, auf andere bezogen zu sein. Sie haben das Bedürfnis, sich in einer Welt verwurzelt zu fühlen, die sie als die ihre betrachten können. Sie haben das Bedürfnis, ihr Gefühl des Geschaffenseins entweder durch schöpferische Produktivität oder durch Zerstörung zu transzendieren. Sie haben das Bedürfnis nach einem Identitätserleben, das es ihnen erlaubt, "Ich" zu sagen. Und sie bedürfen eines Orientierungsrahmens, der ihrer Lebenswelt einen Sinn gibt. Wäre ein Mensch völlig unbezogen oder destruktiv, wäre er verrückt.
Aus gesellschaftliche Gründen muß der einzelne den Zielen seines Gesellschafts-Charakters entsprechen. Auf Grund seines Menschseins, seines Wohl-Seins und seiner Selbstverwirklichung aber muß er sich eine Gesellschaft schaffen, die die Zwecke der menschlichen Rasse erfüllt. Eine Gesellschaft ist nämlich nur dann eine gesunde Gesellschaft, wenn sie einen Gesellschafts-Charakter anstrebt, der sich dem universalen Menschheits-Charakter annähert. Je mehr Diskrepanzen aber zwischen den gesellschaftlichen und den humanen Bedürfnissen bestehen, desto schlechter ist die Gesellschaft. In diesem Fall hat der einzelne nur noch die Wahl zwischen einem schweren Nervenzusammenbruch oder der Veränderung seiner Gesellschaft, damit diese die Bedürfnisse des universalen Menschen besser erfüllt.
Es ist sehr wichtig, daß sich die heutigen Eltern nicht so ohne weiteres von dem gesellschaftlichen Verlangen nach größerem Erfolg, mehr Geld oder Luxus beeindrucken lassen. Sie sollten sich sehr genau überlegen, was ihre eigenen Werte und Ideale sind und sich nicht so leicht dazu verleiten lassen, die Orientierungen ihrer Kinder zu übernehmen, für die es keine allgemein gültigen menschlichen Werte mehr gibt.
Seelische Krankheit ist immer ein Anzeichen dafür, daß grundlegende menschliche Bedürfnisse nicht zufriedengestellt werden und daß es an Liebe, vernünftigem Sein und Gerechtigkeit mangelt. Seelische Krankheit zeigt, daß etwas Wichtiges fehlt und sich deshalb pathologische Tendenzen entwickeln. Wenn Eltern ihren Kindern wirklich wünschen, daß sie nicht nur erfolgreich, sondern auch seelisch gesund sind, dann müssen sie solche Normen und Werte als wesentlich erachten, die zu seelischer Gesundheit und nicht nur zum Erfolg führen.
Anmerkung:
1) Dieser Vortrag aus dem Jahr 1958 wurde von Erich Fromm in spanischer Sprache gehalten und unter dem Titel "Los factores sociales y su influencia en el desarrollo del niño" in der Zeitschrift La Prensa Médica Mexicana (Jahrgang 23, 1958, S. 227f.) veröffentlicht. Jorge Silva García, Tlalpan / Mexico hat ihn ins Englische übersetzt. Von dort wurde er durch Karl von Zimmermann ins Deutsche gebracht. - Erstveröffentlichung im Jahrbuch der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Vol. 3, Münster: LIT-Verlag, 1992, S. pp. 167-169.
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- Super Narada 21.6.2001 09:41 (4)
- Re: Super isthar 21.6.2001 12:20 (3)
- Der Punkt ist heikel Narada 21.6.2001 14:40 (2)
- alles klar, nerada ;o) (ot) isthar 23.6.2001 15:33 (0)
- Re: Der Punkt ist heikel Zet 21.6.2001 17:18 (0)