Kreml soll Freilassung von Ausländern verhindert haben
Geschrieben von Freiwild am 30. Oktober 2002 11:01:50:
Hallo Foris,
langsam wird es immer deutlicher, das Bild, das wir uns von dem
Geschehen in Moskau machen können.Lest selbst
Freundliche Grüße
Freiwild
(aus eigener Familiengeschichte
- mißtrauisch gegenüber Rußland und den Russen )
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Die Einschätzung westlicher Geheimdienste zum Moskauer Geiseldrama
Von unserem Korrespondenten Markus WehnerMOSKAU, 29. Oktober. Die russische Führung hat nach Einschätzung westlicher Nachrichtendienste verhindert, daß die im Moskauer Musical-Theater gefangenen Ausländer freigelassen wurden. "Sie wollten das nicht, damit die Geiselnehmer als internationale Terroristen gebrandmarkt werden und nicht als tschetschenische Freiheitskämpfer dastehen", sagte ein Mitarbeiter eines europäischen Geheimdienstes dieser Zeitung. Ziel der russischen Führung sei gewesen, daß der UN-Sicherheitsrat die Geiselnahme als Akt des internationalen Terrorismus verurteile. Deshalb hätte die russische Führung "gemauert", als die Geiselnehmer am Donnerstag morgen, dem Morgen nach der Einnahme des Musical-Theaters, die Freilassung aller Ausländer angeboten hätten. Unter den 117 Personen, die bei der Erstürmung ums Leben kamen, waren neun Ausländer.
Der Kreml habe mit seiner Weigerung das Vorhaben der Tschetschenen vereiteln wollen, der internationalen Öffentlichkeit die Geiselnahme als Teil des Krieges zwischen Rußland und Tschetschenien zu präsentieren, lautet die Einschätzung, die von den westlichen Geheimdiensten geteilt werde. Die Geiselnehmer hätten mit ihrer Bereitschaft, die Ausländer freizulassen, demonstrieren wollen, daß sie allein mit Rußland Krieg führten. Die Taktik Moskaus, den Terrorakt "auf die internationale Ebene zu heben", ging entsprechend dieser Darstellung auf. Der Sicherheitsrat nahm am Donnerstag abend Moskauer Zeit eine entsprechende Resolution auf Antrag Rußlands an. Danach sei die russische Führung bereit gewesen, auf das Angebot, die Ausländer freizulassen, zurückzukommen. Mittlerweile hätten aber die Geiselnehmer verstanden, daß die Ausländer für sie als "Schutzschild" wichtig seien, da sonst die Wahrscheinlichkeit eines sofortigen Sturms durch die russischen Spezialeinheiten unmittelbar gestiegen wäre. Am Donnerstag morgen waren zahlreiche westliche Botschafter zu dem Theater geeilt. Der österreichische Botschafter hatte damals gesagt, die Freilassung der Geiseln stehe bevor. Die russischen Behörden hätten mitgeteilt, daß die Geiselnehmer die im Theater befindlichen Ausländer den diplomatischen Vertretern ihrer Länder übergeben wollten. Von der russischen Regierung gab es dazu keine Stellungnahme. Zunächst hatte es geheißen, die ausländischen Geiseln würden um neun Uhr freigelassen, dann wurde die Freilassung auf 9.30 Uhr, dann auf elf Uhr verschoben. Schließlich teilte ein Mitarbeiter der Informationsabteilung des Kremls kurz vor zwölf Uhr mit, die Freilassung der ausländischen Geiseln sei gescheitert, weil die Diplomaten der Länder, deren Staatsangehörige sich in Geiselhaft befanden, sich nicht zu dem von den Terroristen geforderten Zeitpunkt um neun Uhr morgens vor dem Musical-Theater eingefunden hätten. (Fortsetzung Seite 2, siehe auch Seite 5.)
Die Botschafter reagierten auf diese Äußerung verärgert - später gab es eine Entschuldigung der russischen Seite. Ein Sprecher des russischen Einsatzstabes sagte am späten Donnerstag abend wartenden Journalisten: "Die Information, daß das Treffen der Diplomaten mit den Terroristen wegen der Verspätung der Diplomaten nicht stattgefunden hat, entspricht nicht der Wahrheit."
Der Kreml-Mitarbeiter verbreitete nach Angaben der russischen Agentur Interfax zudem folgende Version: Die Terroristen hätten nun neue Forderungen für die Freilassung der Ausländer erhoben, unter anderem die Anwesenheit von Vertretern der Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Die seien aber leider nicht in Moskau gewesen. Dies traf nicht zu - Ärzte der Organisation waren am Ort und gaben am Donnerstag sogar Fernsehinterviews. Zudem seien, so der Kreml-Sprecher weiter, die Mobiltelefone der Anführer der Terroristen ausgeschaltet oder niemand nehme die Anrufe entgegen. Die übrigen Terroristen aber seien nicht bereit, etwas zu unternehmen, da sich ihre Anführer gerade ausruhten. Diese Mitteilungen waren, so wird in Moskau vermutet, eine gezielte Desinformation, um der Öffentlichkeit das Scheitern der Freilassung zu erklären.
Die tschetschenischen Geiselnehmer hatten schon unmittelbar nach der Einnahme des Musical-Theaters nicht nur verkündet, daß sie alle Muslime freilassen würden, sondern auch alle Ausländer. Einige Ausländer im Saal, die dies mitbekommen hatten, konnten dann das Gebäude verlassen, indem sie ihren Paß vorzeigten. Am Donnerstag morgen hatte auch die Web-site der radikalislamistischen Extremisten von der bevorstehenden Freilassung von weiteren dreißig ausländischen Geiseln gesprochen. Dafür, daß die Geiselnehmer alle Ausländer am Donnerstag morgen freilassen wollten, sprechen auch Aussagen von Tschetschenen, die mit ihnen in Telefonkontakt standen. Der Vertreter des Tschetschenenführers Maschadow in Aserbaidschan, Ali Assajew, sagte in einem Interview, das er der aserbaidschanischen Zeitung "Serkalo" am Donnerstag gab, er habe um neun Uhr Moskauer Zeit mit den Geiselnehmern telefoniert. Er zeigte sich in dem Interview überzeugt, daß die Geiselnehmer, wie sie ihm zuvor angekündigt hätten, alle Ausländer schon freigelassen hatten.
Mit der Freilassung von Kindern und kranken Geiseln hatten die Geiselnehmer mehrfach versucht, eine Deeskalation in Gang zu setzen. Der Kreml setzte dagegen, so die Einschätzung von Geheimdienstmitarbeitern in Moskau, eine "Frustrationsstrategie", indem man auf ein Entgegenkommen der Terroristen nicht reagierte und keinen bevollmächtigten Verhandlungspartner benannte. "Man hat sie einfach in Watte laufen lassen", lautet die Einschätzung eines Geheimdienstmitarbeiters.
Der "persönliche Vertreter" des Tschetschenenführers Maschadow in Europa, Sakajew, hat auf dem "Weltkongreß der Tschetschenen" in Kopenhagen der russischen Regierung vorgerworfen, sie habe die Stürmung des Musical-Theaters in Moskau angeordnet, um der Freilassung der Geiseln durch die Geiselnehmer zuvorzukommen. Die Geiselnehmer hätten über Mobiltelefon in der Nacht zuvor erklärt, daß sie alle Geiseln am nächsten Morgen freilassen wollten. Die Behörden hätten daraufhin die Erstürmung des Musicaltheaters angeordnet, damit "die Tschetschenen nicht zu Helden werden konnten". Sakajew hatte die Geiselnahme am Wochenende im Namen Maschadows verurteilt, aber Rußland die Schuld daran gegeben.
Unterdessen hat die russische Regierung am Dienstag angekündigt, im Kampf gegen den Terrorismus verstärkt die Armee einzusetzen. Verteidigungsminister Sergej Iwanow sagte, dies sehe ein neuer nationaler Sicherheitsplan vor, mit dem man auf "die wachsende terroristische Bedrohung für Rußland" reagiere. Die Moskauer Polizei teilte mit, sie habe Dutzende mutmaßlicher Komplizen der Terroristen festgenommen. Die Sicherheitskräfte unternähmen "beispiellose Anstrengungen, um das terroristische Netzwerk" in der russischen Hauptstadt aufzudecken, sagte Innenminister Boris Gryslow. Die russische Presse berichtet zudem von strengen Kontrollen der Polizei gegenüber südländisch aussehenden Moskauer Bürgern sowie von telefonischen Bedrohungen und einzelnen Übergriffen aus der russischen Bevölkerung gegen Tschetschenen.
In Tschetschenien wurde am Dienstag der Abschuß eines Mi-8-Hubschraubers der russischen Streitkräfte durch die tschetschenischen Kämpfer bekannt. Dabei kamen vier Soldaten ums Leben. In jüngster Zeit waren mehrfach Hubschrauber von den Kämpfern abgeschossen worden, unter anderem im August ein Mi-26-Transporthubschrauber, wodurch 121 Soldaten getötet wurden.
Von den ehemaligen Geiseln hatten am Dienstag mehr als dreihundert die Moskauer Krankenhäuser verlassen. Fast ebenso viele wurden noch weiter behandelt. Bei 27 Patienten galt der Zustand weiterhin als kritisch. Nach Angaben aus der amerikanischen Botschaft handelt es sich bei dem Gas, das beim Sturm eingesetzt wurde, wahrscheinlich nicht um ein Nervengas, sondern um ein Opiat.Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.10.2002, Nr. 252 / Seite 1
- Sorry - Link zu FAZ-Quelle funktioniert nicht mehr ! (o.T.) Freiwild 30.10.2002 18:36 (0)