Re: Leute, habt alle Angst ! Die Grundlage der "Gesellschaft"

Geschrieben von Torsten am 13. Oktober 2002 23:10:15:

Als Antwort auf: Re: Leute, habt alle Angst ! geschrieben von Apollo am 13. Oktober 2002 22:13:57:

Lieber Apollo,

dazu habe ich mir schon früher Gedanken gemacht.

Angst und Gesellschaft


Warum sind Angststörungen so weit verbreitet?
Natürlich ist Angst zunächst einmal eines unserer grundlegenden Gefühle. Zudem ist sie überlebenswichtig und war es schon, bevor unsere Vorfahren auf die Idee kamen, es einmal nur auf den Hinterbeinen zu versuchen, damit die Hände freiwerden, um sich zum Menschen zu entwickeln. Angst muß schnell in verschiedensten Situationen nützliche Reaktionen auslösen, sonst war es vielleicht das letzte Mal, daß man keine Angst hatte. Sie muß lieber zehnmal zuviel als einmal zuwenig auftreten.
Das begründet aber noch lange nicht, warum die Angst zur Krankheit mit derart weiter Verbreitung wird. Normalerweise hat sie nämlich nach Bewältigung der Situation wieder abzuklingen und schon gar nicht bei Gelegenheiten aufzutreten, welche beim besten Willen keine Bedrohung erkennen lassen. Erst recht hat sie sich nicht zu verselbständigen oder gar weitere Probleme auszulösen (Panikattacken, Depressionen...). Nun ja, der Angst kann man schlecht erklären, was sie falschmacht. Aber vielleicht wir uns selbst.
Natürlich ist die Lösung nicht ganz so einfach. Aber ein Grund für ihre Verbreitung ist: wir benutzen die Angst selbst im Kontakt mit Anderen, um unsere Interessen durchzusetzen.


Die kultivierte Angst als Organisationsgrundlage der Gesellschaft

Jede Handlung erfordert eine Motivation, welche positiv oder negativ sein kann. Neben einer inneren Motivation (Ideale, Ziele, Abneigungen) werden zwischenmenschliche Beziehungen durch äußere Motivation bestimmt (Ankündigung von Belohnung und/oder Strafe). Je nach Ergebnis der erwarteten Handlung werden durch Belohnung oder Bestrafung Glück/Freude oder Schreck/Trauer/Schmerz/Enttäuschung/Wut ausgelöst. Angst und ihr Gegenspieler Vorfreude haben ihren Platz zwischen Auftrag und Auswertung.
Die Wertigkeit von Belohnung und Strafe variiert je nach Art der zwischenmenschlichen Beziehung und Aufgabenstellung. So unterscheidet sich der Blumenkauf zum Valentinstag erheblich von der Steuererklärung ans Finanzamt.
In der Gesellschaft steht aus unserem Empfinden die Bestrafung im Vordergrund. Um bei dem letzten Beispiel zu bleiben: die Steuerrückzahlung wird als selbstverständlich (und natürlich viel zu niedrig) hingenommen, eine Nachzahlung aber eher als Strafe (und natürlich viel zu hoch) bewertet.
Dies hängt wohl auch damit zusammen, daß der Mensch Negatives eher wahrnimmt. Niemandem wird bewußt, wenn er gesund ist, wohl aber die Krankheit. Das ist auch verständlich, da Wohlbefinden keiner Reaktion und damit Wahrnehmung bedarf, eine Bedrohung aber sehr wohl.

Bedrohung, Aufgabe und Angst

Ein wesentlicher Unterschied zwischen unmittelbarer Bedrohung und drohender Bestrafung bei schlechter Erfüllung von Aufgaben ist der unterschiedliche Zeitrahmen.
Bei real bedrohlichen Situationen ist die Funktion klar: darüber werden unmittelbare Reaktionen vermittelt (Verharren, Flucht, Angriff) und ein Lernverhalten angeschoben (falls die Lösung zum Überleben geeignet war). Das Gelernte dient künftig der Vermeidung oder Bekämpfung der Gefahr.
Auch bei der Organisation tierischer Gemeinschaften besteht ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen Handlung und Belohnung/Bestrafung. Folge ist ebenfalls ein situationsbezogenes Verhalten.
Dieser zeitliche Zusammenhang ist in der menschlichen Gesellschaft häufig aufgehoben. Zwischen Aufgabenstellung, Erfüllung und Auswertung können große zeitliche (und räumliche) Abstände liegen. Dies führt zu einer Verlängerung der "Angstphasen", welche zudem weitere unabhängige Situationen überlagern. Das Gefühl "Angst" wird auch mit vom Auslöser unabhängigen Situationen in Verbindung gebracht. Mit zunehmender Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen nimmt dieses Problem zu.
Das ist übrigens nicht nur graue Theorie: längst ist bekannt, daß die unmittelbare Bestrafung von Verkehrssündern einen wesentlich höheren Erziehungseffekt hat, als das Foto des "Starkastens" nach Wochen oder Monaten.

Angst und Vernunft

Die meisten Menschen sind dumm und schlecht. Damit sie ihren Aufgaben nachkommen, müssen sie eingeschüchtert werden.
Stimmt das? Ein Neugeborenes ist weder dumm (obwohl völlig unwissend) noch schlecht ("Verbrechergene" haben sich meist als Sackgasse erwiesen).
Wissen, Denken und Moral werden erst durch Erziehung, Bildung und zwischenmenschliches Umfeld vermittelt. Das ist so banal wie grundlegend. Aus den Erfahrungen und Vorstellungen ergeben sich die Grundlagen des Handelns. Wenn durch Androhung von Strafe Angst ausgelöst und zur (negativen) Motivation eingesetzt wird, wird sie zum festen Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen. Das betrifft sowohl das berufliche, gesellschaftliche wie auch private Umfeld. Ich möchte dies als eine teils bewußte, teils unbewußte Kultivierung der Angst bezeichnen.
Die Alternative wäre ein von Vernunft geprägtes Handeln, das freie Handeln durch "Einsicht in die Notwendigkeit". Das betrifft nicht nur den, an den eine Forderung ergeht, sondern auch den Fordernden. Diese Alternative klingt wie eine irrealistische Zukunftsvision, ist aber im persönlichen Maßstab durchaus anwendbar.
Einerseits sollten wir uns fragen, inwieweit unsere Forderungen an Andere erfüllbar sind und andererseits, ob die an uns gestellten Forderungen vernünftig und erfüllbar sind. Nur so kann jeder selbst verhindern, bei Anderen Angst auszulösen und wird diejenigen besser verstehen, welche dies bei uns tun - und dadurch Angst besser verstehen.

Vernunft und Strafe

Mit dieser Vernunft meine ich nicht die völlige Handlungsfreiheit des Einzelnen, was zur Anarchie führen würde. Die Bestrafung von Vergehen ist durchaus sinnvoll. Wie bereits erläutert, muß sie aber in einem erkennbaren zeitlichen Zusammenhang mit einem tatsächlichen Vergehen erfolgen und sollte nicht als ständige Drohung für alle möglichen Vergehen (oder Nicht-Vergehen i.S. ungerechter Bestrafung) im Raum stehen.


Obwohl ich hier nur auf Bestrafung eingegangen bin, ist Vieles sinngemäß auf Belohnung anwendbar.
In der resultierenden unausgewogenen Wahrnehmung von Belohnung und Bestrafung sehe ich eine wesentliche Voraussetzung einer "Angstbereitschaft", welche bewußt und unbewußt in der Erziehung und anderen zwischenmenschlichen Beziehungen gebahnt wird.


Viele Grüße

Torsten


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