Mal was zur Auflockerung: Zahlenmystik aus Anlass des 11. September

Geschrieben von DaveRave am 11. September 2002 16:52:22:

Neun Elfen kommen: Zahlenmystik, Verschwörungstheorien und Spökenkiekerei aus Anlass des 11. September
(VOLKER BREIDECKER; SZ v. 06.09.2002)


Das Hexeneinmaleins der vorigen Saison ging so: 11 plus 9 plus 2 plus 1 – Nullen zählen nicht –, macht 23. Zielangabe WTC = World Trade Center, denn W ist der 23., T der 20., C der 3. Buchstabe im Alphabet, und 20 plus 3 machen auch 23. Zielangabe Pentagon, denn 2 plus 3 ergeben 5, und obendrein ist der fünfeckige Bau 23 Meter hoch. Von Numerologen und Verschwörungstheoretikern wurden dergleichen magische Zahlenspiele im Internet schon unmittelbar nach den Attentaten auf New York und Washington angestellt. Auch die Gegenprobe fehlte nicht: Man zerlege die magische Zahl 23 in die beiden Ziffern 7 und 16, ersetze diese durch die entsprechenden Buchstaben in der Reihenfolge des Alphabets, bis man mit G und P die Abkürzungen für „Große Paranoia“ erhält. Abrakadabra.

Und wieder ist Advent, nur muss man rückwärts zählen wie die Kinder, nicht vorwärts wie die Kalender der Erwachsenen: Noch fünf, dann vier... Dabei gäbe es gute Gründe für die Angst der Erwachsenen vor dem Weihnachtsmann, dem alten keltischen „Bohnenkönig“, dem erst in Amerika die Mütze aufgesetzt wurde, mit der er nach Europa zurückkehrte: Wie das christliche Fest ein vormals heidnisches ablöste und wie die Heiligen, die jeden Tag im christlichen Kalender anführen, als Nachfolger der alten Planetengötter und Dämonen figurieren, so ist auch der Weihnachtsmann nichts anderes als der gezähmte Nachfahre eines orientalischen Schreckgespensts: des Moloch mit seinem alles verschlingenden Bauch. „Du darfst keines von deinen Kindern für Moloch durch das Feuer gehen lassen und so den Namen deines Gottes entweihen“, steht im Buch Leviticus geschrieben.

Wer hat „Angst vor dem 11. September“, wie die mit täglich wechselnden Meldungen bediente Schlagzeile einiger Blätter derzeit lautet? Und was ist das für eine seltsame Angst, die sich an ein vergangenes Datum heftet? Wie im Traum fürchtet sie ausgerechnet am Tag der kalendarischen Wiederkehr eines schrecklichen Ereignisses dessen Wiederholung: Die Börse kracht, die Post warnt vor Briefattentaten, die Flughäfen sind alarmiert, Transatlantikflüge werden mangels Passagieraufkommen für diesen Tag gestrichen, die Berliner Polizei fühlt sich schon im voraus überfordert.

Anstatt dass die Leute sich auf einen Tag des Eingedenkens einstimmen, steht die Frage im Vordergrund, ob ein „Terror-Feiertag“ mit „Jubiläumsattentaten“ bevorstehe. Da sämtliche magischen Rechenoperationen seit dem 11. September 2001 aber immer wieder auf die Zahl 23 kommen, sollte man sich in diesem Jahr vielleicht doch mehr vor dem 23. September fürchten, der in Deutschland der Tag nach den Wahlen sein wird.

Allein, die Seele und das Gemüt zählen anders, und der eigenwilligen „Rechenkunst des Traumes“, von der Sigmund Freud wusste, dass sie „dem Aberglauben als besonders verheißungsvoll“ gelte, hat der Kopf auch bei bestem Vorsatz nichts entgegenzusetzen. Und nirgendwo, so befand Freuds Wiener Arzt- und Schriftstellerkollege Arthur Schnitzler, werde mehr und heftiger geträumt als im öffentlichen Leben: „Politik ist das phantastischste Element, in dem Mensch sich überhaupt bewegen können, nur, dass sie es nicht merken.“ Dass in den Zahlen Wunderkräfte verborgen liegen, ist seit dem deutschen Magier Agrippa von Nettesheim der Grundsatz der Numerologie, der esoterischen Kunst, im Geheimnis der Zahlen die Geheimnisse des Lebens und im Geheimnis der irdischen Natur die Geheimnisse des Himmels zu entschlüsseln.

Nehmen wir die mit Schrägstrich getrennten neun Elfen und befragen wir das Internet, so wird uns unter der Adresse www.kelticas-hexenwelt.de/ traumstein/zahlen.htm Aufklärung zuteil: „Die Neun ist eine heilige Zahl. Die Neun ist das Symbol der Vollendung und als 3x3 eine verstärkt wirkende Drei.“ Da prüfe jeder seine träumerischen Einfälle selbst. Und die Elf? „Die Zahl Elf überschreitet den Zehner, der die Zahl der Gebote und des Gesetzes ist ... Die Elf ist das Symbol der Sünde.“ Man denke nur an die verkehrte Welt des Karnevals und an die traditionellen Spitzenraten unehelicher, weil an den tollen Tagen gezeugter Geburten in den rheinischen Landen um den 11. 11. eines jeden Jahres.

Wenn einschlägige Experten ausgerechnet jetzt „signifikante Bewegungen“ in der weltweiten islamistischen Terrorszene ausmachen, ließe sich dies freilich auch damit erklären, dass just in diesen Tagen der Ängste und Erwartungen auch der Druck auf jene Kreise gewachsen ist, durch eine neue schreckliche Tat ihren Daseinsnachweis zu erbringen.

Dass man ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch gleich konkrete Objekt- und Zielvorgaben unterbreitet – der Petersdom in Rom, San Franciscos Golden Gate Bücke und so weiter –, könnte sich nach der Dialektik von Erwartung, Erfüllung und Überbietung noch als fatal erweisen. Es ist eine Art Läuten, weniger mit Sturmglocken, als wie mit jenen selbsttönenden mechanischen Glockenuhren, die einst von jesuitischen Missionaren erfunden und in China eingeführt wurden, wo es bis dahin noch keine Zeitmessung gab. Und schon gar nicht gab es die christliche Zeitrechnung, die man beim Schüren mit der Angst vor dem 11. September jetzt den Islamisten unterstellt, deren Kalender doch ein ganz anderer – nach dem Mond- und nicht nach dem Sonnenjahr berechneter – ist, wenn auch die modernen digitalisierten Uhren, die wegen ihrer Ziffernfülle um so mehr zu magischen Zahlenspielen herausfordern, dort nicht viel anders als bei uns gehen.

In jedem Fall muss gefragt werden: Warum zum Teufel sollte es ausgerechnet der 11. September sein? Will man als Terrorist von Allahs Gnaden dem christlichen Kalender genügen, so muss man auch die Heiligen berücksichtigen, und für ein besonderes Geschehen bedarf es auch eines besonders herausragenden Heiligen. Dieser Maxime folgten bereits die mittelalterlichen Christen, die prominente Ereignisse notfalls auch umdatierten, nur um sie mit dem Walten eines hinreichend würdigen Tagespatrons zu verknüpfen.

Was hat der 11. September da schon zu bieten? Nur Randfiguren: Wahlweise die heiligen Helga, Regula, Felix, Paphnutius und Ludwig, wenn man vom Geburtstag des großen Philosophen Theodor W. Adorno vor genau 99 Jahren absieht, denn ein Heiliger war er nicht. Nein, da möchten wir doch um Aufschub bitten, wenigstens bis zum 19. September, dem Tag des heiligen Gennaro (Januarius), dessen Blutwunder die Neapolitaner und ihre Fußballmannschaften wenigstens seit 1389, dem Jahr seiner erstmaligen urkundlichen Bezeugung, in Atem hält.

Oder bot der 11. September 2001 am Ende doch so etwas wie ein nach regelmäßiger Wiederkehr verlangendes Fest, mit einem Bilderrauschen für die Sinne, bei dem zusammen mit unseren Ängsten, Beklemmungen und Nervenkitzeln auch unsere besten Gefühle, geheimsten Träume und innigsten Sehnsüchte freigesetzt wurden? So wie früher einmal, vor langen Zeiten, an Weihnachten, als wir noch Kinder waren und leuchtenden Auges unseres Abstands von der profanen Alltagswelt der Erwachsenen gewahr wurden: „Ach, dieses Weihnachten“ – so klagte der Schriftsteller D. H. Lawrence einmal mit Kinderaugen – „war bloß ein häusliches Fest, ein Fest der Süßigkeiten und des Spielzeugs! Warum änderten nicht auch die Erwachsenen ihre Alltagsherzen und gaben sich der Verzückung hin? Wo war die Verzückung?“ Bei den neun Elfen haben wir die Verzückung wiedergefunden. Advent, Advent. Gut geträumt?



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