Re: mit den Farben hatte er es ja, der prophetische Nietzsche
Geschrieben von Backbencher am 03. September 2002 21:05:17:
Als Antwort auf: mit den Farben hatte er es ja, der prophetische Nietzsche geschrieben von franz_liszt am 03. September 2002 16:43:11:
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Mit den Farben habe ich es auch. Vor allem mit der Basisfarbe hier im Forum. Wenn ich das viele Schwarz hier sehe, wird mir ganz schwarz und ich sehe nur noch schwarz für die Zukunft.Die Buchkritik ist recht nett geschrieben...
Ich halte Nietzsche wirklich für einen großen Propheten und Seher, der analog zu den historischen oder zeitgenössischen - und hier im Forum bekannten Propheten und Sehern - nicht müde wird, einen wesentlichen Aspekt hervorzuheben: Die innere persönliche (Neu-)Ausrichtung angesichts der sich materialisierenden Wirklichkeiten.
Die christlichen Propheten benutzten dafür den Begriff 'Buße', der oftmals mit 'Umkehr' gleichgesetzt wird. Für unsere 'aufgeklärte' Welt haben die Begriffe 'Buße' und 'Umkehr' schnell etwas Unzeitgemäßes oder welftfremdes Frommes und werden daher gefühlsmäßig nicht gemocht. Was die Propheten vermeintlich verlangen ist uns mittlerweile grundsätzlich zuwider. Diese Art von persönlicher Konsequenz aus den Zukunftsschauen widerstrebt uns zutiefst.
Ich würde heute von 'redlicher Neuausrichtung' oder 'Neuorientierung im Geist der Redlichkeit' sprechen, wohl wissend, daß ich damit recht unklare Begriffe benutze. Aber diese erlauben es, das ganze wieder mit 'Geist' zu füllen und nicht nur mit festen Regeln und Glaubenssätzen, wie es das überlieferte Christentum tut.
Spaßeshalber zitiere ich nochmals Nietzsche aus 'Jenseits von Gut und Böse':
227.
Redlichkeit, gesetzt, daß dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister - nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die allein uns übrig blieb, zu "vervollkommnen": mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Kultur und ihrem dumpfen düsteren Ernst liegen bleiben! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hilfe, was wir nur an Teufelei in uns haben - unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser "nitimur in vetitum", unsern Abenteuerer-Mut, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, - kommen wir unserm "Gotte" mit allen unsern "Teufeln" zu Hilfe! Es ist wahrscheinlich, daß man uns darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: "ihre "Redlichkeit" - das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!" was liegt daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir zuletzt von uns? Und wie der Geist heißen will, der uns führt? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, - sorgen wir dafür, daß sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; "dumm bis zur Heiligkeit" sagt man in Rußland, - sorgen wir dafür, daß wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm - zu langweilen? Man müßte schon ans ewige Leben glauben, um ....Schönen Abend noch!
Backbencher, der sich heute mal an das Rednerpult gewagt hat...