Deutschland ist Weltmeister?

Geschrieben von Arkomedt am 30. Juni 2002 04:45:35:

Hallo allerseits, vielleicht etwas sehr weit ab vom Forumsziel.
Nehmt es locker! Wenns gar nicht anders geht, lösch es, Johannes!

Deutschland ist Weltmeister?

Das kleine Finale zwischen Südkorea und der Türkei war zu Ende. Es war ein ganz gutes Spiel gewesen, Michael war ganz froh, dass er doch noch zu Willi gegangen war. Sonst machte er sich nicht viel aus Fußball, aber es war ganz angenehm, zusammen mit anderen, viel mehr begeisterten, bei einigen Bierchen solche Spiele anzusehen.
„Soll’s noch eins sein, Michael?“ Willi hielt schon ein leeres Glas unter den Zapfhahn, schaute fragend herüber.
„Na klar, Willi, lot loopen! Und bring uns ein Spiel!” Michael mischte imaginäre Karten in der Luft.
„Mit wem willst du denn spielen? Ich muß gleich los.“ Fredi schien nicht sehr begeistert.
„Quatsch nicht, Fredi! Zwei Stunden oder so, spätestens bis sechs. Dann muß ich auch los. Hajo, du spielst doch mit, oder?“ Hajo nickte nur, zückte seine Börse und zählte schon mal Kleingeld auf den Tisch. Roland brauchte man nie zu fragen, wenns um Skat ging.
„Na gut, bis Sechs, wenn mein Geld solange reicht...“ Fredi wollte immer gebeten werden.
Die ersten Spiele waren nichts Besonderes, kleinere Beträge wurden hin- und hergeschoben.
Dann hatte Michael den ersten guten Grand, mit Dreien, Hand, Schneider. „Einsvierzig, meine Herren, und wir haben Böcke!“
„Warum dat denn dann?“ knurrte Hajo.
„Warum wat? Soll ich dir jetzt erklären, warum ihr verloren habt? Oder warum es nach einem Grand Hand Böcke gibt?“ Michael grinste. Die Dialoge waren so vorhersehbar!
Hajo muffelte zum Schein, musste dann aber auch lachen. Während er neu mischte und austeilte, fragte er: „Kann sich eigentlich noch jemand an die Weltmeisterschaft Vierundsiebzig erinnern?“
Roland wartete wie immer, bis er alle Karten geschlossen aufnehmen konnte. Beim Zusammenstecken sagte er: „Ja, natürlich kann ich mich erinnern. Warum fragst du?“
„Ist doch klar! Damals wurde Deutschland Weltmeister und morgen vielleicht auch.“ Hajo trank einen Schluck. „Ich denke jedenfalls, dass sie es morgen schaffen werden.“
Roland hatte was, er reizte bis Vierzig. Fredi war schon bei Dreiundzwanzig raus, Michael überlegte. Er hatte einen guten Kreuz, vielleicht einen Grand. Um jetzt zu halten, müsste er den Kreuz Hand spielen. Oder auf den Skat vertrauen. Wenn da noch ein Voller drin wäre...
„Ach Scheiß, man soll es nicht übertreiben. Weg, aber merk dir mal, was drin lag.“ Er wandte sich an Hajo. „Und ob ich mich an Vierundsiebzig erinnern kann! Deutschland wurde Weltmeister und ich ging dafür in den Arrest!“
„Warum dat denn dann?“
„Hast du eigentlich auch noch andere Fragen drauf, Hajo?“ Fredi feixte. Beim Skat war er lange nicht so gut wie beim Reizen. Und hatte wieder einmal Erfolg damit. Hajo ging wieder einmal ab wie eine Rakete.
„Fredi, halt du dich da mal lieber raus, wenn sich Männer unterhalten! Du warst doch damals noch im Kindergarten! Warum gingst du dafür in den Arrest, Michael?“
„Wollen wir jetzt Skat spielen oder klönen? Ich spiele Pik! Du kommst raus, Michael!“
Michael hatte damit gerechnet. „Pik mit Musik! Dann mal los!“ Er knallte die Herz Dame auf den Tisch, Fredi blieb mit der Neun darunter, Roland zögerte kurz und nahm mit dem König mit. Dann spielte er das Herz As, Michael stach mit der Trumpf Zehn und Fredi legte aufseufzend die Herz Zehn darauf.
„Das wars dann wohl! Daß du auch immer so leicht zu bluffen bist, Roland!“ Der war jetzt sauer.
„Ihr mit eurem Gequatsche! Arrest und so. Dann erzähl doch erst, dann können wir immer noch weiterspielen!“
„Ja, das interessiert mich jetzt auch.“ Erwin, der als Kiebitz neben Roland saß, beugte sich vor.

„Na ja, ganz kurz. Ich war von Zweiundsiebzig bis Vierundsiebzig in Cottbus im Knast, wegen staatsfeindlicher Hetze.“ Er kam nicht weiter.
„Soll das jetzt hier ne Politikrunde werden? Dann gehe ich gleich!“ Fredi war überhaupt nicht amüsiert.
„Fredi, geh oder bleib. Jetzt erzähle ich. Kann dir auch nur gut tun, was über alte Zeiten zu erfahren. Von der ganzen Weltmeisterschaft haben wir kaum etwas mitbekommen. Wir hatten ja keine Radios, und in den Zeitungen stand auch nur was über die DDR-Mannschaft drin. Als der Sparwasser damals in Hamburg das Siegestor schoß, gegen die Bundesrepublik, da wurde gejubelt. Aber eben nicht von uns, von den Politischen.“ Michael brach ab, trank von seinem Bier.
Roland nutzte die Unterbrechung. „Jetzt, wo du es erzählst, fällt es mir auch wieder ein. Der deutsch-deutsche Fußballkrieg! Eigentlich hätte die DDR damals Weltmeister werden müssen! Wir haben schließlich die Bundesrepublik besiegt! Eins zu Null, wenn ich mich nicht irre! Alles Schiebung, damals wie heute!“
„Quatsch, Schiebung. Das war doch in der Vorrunde!“ Hajo überlegte. „Nein, in den Gruppenspielen.“

Michael hatte seine Zigarette angezündet und erzählte weiter.
„Egal, ob Vorrunde oder Gruppe. Fakt ist, dass die Schließer nach dem Sieg der DDR ganz aus dem Häuschen waren. Sie tönten rum, dass die DDR nun endlich mal gezeigt hätte, wie man mit den aufgeblasenen Typen der BRD fertigwerden könnte. Nach dem Sieg in Hamburg hieß es immer nur Sparwasser hier und wir werden Weltmeister da!
Die Kriminellen hauten in die gleiche Kerbe. Sie biederten sich mit Fußballgesprächen bei den Schließern an, achteten auf jedes Wort gegen die DDR-Mannschaft und trugen es weiter.
Als dann die Nachricht durchsickerte, dass die bundesdeutsche Mannschaft die Niederlande mit Zwei zu Eins im Endspiel geschlagen hatte, die DDR aber nur auf Platz Sechs gelandet war, flogen tatsächlich die Fetzen. Aus allen Zellen brüllten die Politischen ‚Deutschland ist Weltmeister!’ Es wurden Klopapierrollen angezündet und aus den Fenstern geschmissen, wir Politischen feierten den Sieg Deutschlands vor Allem über die DDR.“
Michael holte tief Luft, sah sein leeres Glas. Er wollte gerade bestellen, als Willi ihm schon ein neues Glas reichte. Es war ruhig in der Kneipe geworden.
„Das sind doch olle Kamellen!“ hörte man irgendwo aus dem Hintergrund.
„Erzähl weiter“, bat Fredi.
„Ja. Also, von innen, aus den Zellen die Schreie ‚Deutschland ist Weltmeister!’ von außen das Schlüsselknallen der Schließer. ‚Deutschland? Welches Deutschland?’ Und ‚Wer hat das gesagt???’. Dann wurde unsere Zelle aufgeschlossen. Vier Schließer stürmten herein, Arafat und Terror vorneweg, der Luftablasser etwas im Hintergrund. ‚Wer ist Weltmeister?’, wollte Arafat wissen, schlug mit dem Erziehungshelfer klatschend in die linke Hand. Ich bekam einen Stoß in den Rücken, einer der Kinderficker hatte sich unbemerkt hinter mich geschoben. Jetzt wars egal. ‚Deutschland ist doch Weltmeister, oder nicht?’ Ich konnte mich nicht mehr ducken, der Erziehungshelfer erwischte mich an der Schulter. Es tat höllisch weh.“
„Längst nicht genug!“ Wieder diese Stimme aus dem Hintergrund. Michael stand auf, um den Sprecher zu mustern. Es war ein älterer Mann, der dem Blickkontakt auswich. Er brummelte nur „Ist doch wahr!“
„Ja, es ist wahr!“ Michael ließ sich nicht beirren. „Genau! Es ist wahr! Mich haben die Schweine damals für zehn Tage in den Arrest gesteckt, weil Deutschland Weltmeister wurde und nicht die DDR. Und heute sitzen die gleichen DDR-Deutschen vor den Fernsehern und schreien ‚Deutschland!’ Ist schon zum Kotzen, oder?“
Michael ging auf den älteren Mann zu. Der wartete nicht ab, winkte Willi zu „Ich bezahl morgen!“ und verschwand. Michael änderte den Kurs in Richtung Toilette.
Als er zurückkam, waren die Karten schon neu gemischt und verteilt.
„Alles wartet auf dich!“ Roland, von dem Michael wusste, dass er mal bei der Stasi war, schaute Michael fragend an. „Wollen wir nun klönen oder Skat spielen?“

Michael nahm seine Karten auf.
„Wir spielen weiter.“

© by KDK, 30.06.2002


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